Ich sehe sie noch vor mir: die zwei älteren Damen, die uns an einem strahlenden Sonntagmorgen zu sich eingeladen hatten. Wir waren eine Gruppe von etwa 20 Jugendlichen, die in einem Zeitraum von wenigen Monaten zum Glauben gefunden hatten. Es war die Zeit der Jesus-People, Anfang der 70er Jahre.
Erfahrungen mit „Erweckung“
Im Eifer der frisch erwachten Jesus-Liebe bezeugten wir unseren Glauben unter unseren Mitschülern. Wo wir nur konnten, redeten wir von Jesus, trugen auffällige Sticker mit poppigen Schriftzügen („Jesus liebt dich“, „Jesus genügt“), sangen und predigten auf den Schulhöfen und in der Innenstadt. Aus einem Hauskreis war eine kleine Gemeinde geworden, die sich mehrmals wöchentlich traf. Nun saßen wir in dem geräumigen Wohnzimmer einer alten vornehmen Stadtvilla in der Runde und schauten in die glücklichen strahlenden Augen der beiden Gastgeberinnen.
Seit vielen Jahren hatten sie um eine Erweckung in unserer Stadt gebetet und sahen nun in uns ihre Gebete erhört. Es war ein herzliches und fröhliches, aber auch ein tiefes, gesammeltes Miteinander. Über zweieinhalb Stunden haben wir gesungen und gebetet, gepredigt und geistliche Erfahrungen ausgetauscht. Ich werde diesen Vormittag nicht vergessen und schaue dankbar darauf zurück.
Und doch fällt mir jetzt im Rückblick einiges auf, was ich damals nicht so wahrgenommen habe. Ich weiß noch, wie stolz wir damals auf unsere Gruppe waren, wie selbstbewusst wir unseren Weg gingen und wie wir auf die anderen Christen zwar nicht verächtlich, aber doch ein wenig mitleidsvoll herabschauten. Hätte mir das damals jemand vorgehalten, ich hätte es sicher nicht zugegeben. Wir wussten ja, dass alles allein Gottes Gnade ist und dass wir uns auf uns selber nichts einbilden können. Aber all das hatten wir – wie wir meinten – besser erfasst als die anderen Christen, die im Trott ihrer Gewohnheiten und ihrer Kirchlichkeit vor sich hin lebten und nicht „ganze Sache mit Jesus“ machten. Wir waren zwar nicht besser, aber – so war unser Grundgefühl – doch ehrlicher, dynamischer, missionarischer, entschiedener. Den EC-Jugendbund nannten wir manchmal scherzhaft einen Jugendbund für „Eingeschlafenes Christentum“. Als wir im Wohnzimmer der beiden älteren Damen spürten, wie sie sich über die offenkundige Antwort auf ihre Gebete um Erweckung freuten, da erfüllte uns das wohl mit großer Dankbarkeit gegenüber Gott, aber es weckte auch das stolze Bewusstsein, zu den „Auserwählten“ zu gehören, durch die Gott etwas Großes in dieser Stadt tun möchte, und es nährte den Hochmut gegenüber den anderen Christen in dieser Stadt.
Eine zweite Erfahrung. Man hörte damals fast unglaubliche Dinge von einer Erweckungsbewegung in Indonesien.
Der Evangelist Kurt Koch berichtete über wunderbare Heilungen, über eine Verwandlung von Wasser in Wein und sogar von Totenauferweckungen. Evangelistik-Teams zogen in die entlegensten Gebiete des indonesischen Inselstaats und verkündigten das Evangelium, begleitet von Zeichen und Wundern. Es gab aber auch einige kritische Stimmen: die vom Tode Erweckten seien nur vom Schlaf oder vom Koma Aufgeweckte gewesen (Auferwecken/Aufwecken ist im Indonesischen übrigens dasselbe Wort), die Wunder seien nicht echt, sondern nur „gespielt“ worden vor den Augen einer allzu leichtgläubigen und wundersüchtigen Menschenmenge.
Viele Jahre später konnte ich das Zentrum dieser Erweckungsbewegung besuchen: eine Bibelschule im Osten Javas. Ich hatte damals die Gelegenheit, mit einem Missionar über diese Zeit zu sprechen. Aus seiner Sicht war es folgendermaßen. Die Erweckung begann unter den Lehrern und Schülern dieser Bibelschule. Einige Lehrer hatten den Mut, öffentlich ihre Sünden zu bekennen und auch vor den Schülern um Vergebung zu bitten – in einer asiatischen Gesellschaft doppelt ungewöhnlich. Am Anfang stand also eine Bußbewegung, nach seiner Erkenntnis das Kennzeichen jeder echten Erweckungsbewegung. Daraufhin gab es eine missionarische Bewegung: die Evangelistik-Teams machten lange Reisen und predigten auf Timor und auf Irian-Jaya, in einem Umfeld, wo man an Geister und Dämonen glaubt. In solch einem animistischen Umfeld stehe, so sagte mir der Missionar, die Machtfrage im Vordergrund. Und so habe Gott zur Verkündigung machtvolle Wunderzeichen geschenkt als Bestätigung dafür, dass Jesus stärker ist als die Dämonen.
Als diese Wundertaten jedoch mehr und mehr bekannt wurden und auch in den Mittelpunkt des Interesses rückten, lud man diese Teams auch an andere Orte ein, z. B. in Gemeinden der Batak-Kirche auf Sumatra, einer mehr als 200 Jahre alten Missionskirche mit mittlerweile volkskirchlichen Strukturen. Die Erwartungen waren groß: auch hier wollte man Wunder sehen. Aber denselben Evangelistik-Teams, die im animistischen Umfeld außergewöhnliche Wunder vollbrachten, wurden im volkskirchlichen Umfeld und angesichts von wundersüchtigen Zuhörern keine begleitenden Zeichen geschenkt.
Als die erwarteten Wundertaten ausblieben, konnten manche Teams der Versuchung nicht widerstehen, „Wunder” künstlich herbeizuführen
Als die erwarteten Wundertaten jedoch ausblieben, drohten die Teams unglaubwürdig zu werden, und manche konnten der Versuchung nicht widerstehen, „Wunder“ künstlich herbeizuführen, die natürlich schnell als unecht entlarvt wurden. Dadurch kam – so erzählte mir dieser Missionar – die ganze Erweckungsbewegung in Verruf.
Er hatte keinen Zweifel daran, dass die besagten Wunder an anderen Orten geschehen seien; aber in dem etablierten kirchlichen Umfeld blieben sie aus. Er deutete das so: Während im animistischen Umfeld die Machtfrage im Vordergrund stehe, sei im Umfeld eines lau gewordenen Christentums die Echtheitsfrage und die Frage der Lebendigkeit entscheidend. Wo es in Gemeinden auf Sumatra zu Erweckungen kam, da zeigte sie sich als Erneuerungs-Bewegung. Christen begannen, ihre Sünden zu erkennen und zu bekennen, und sie fingen wieder an, mit Leidenschaft in der Heiligen Schrift zu lesen und aus ihr zu leben. Erweckung stellte sich hier nicht dar als Durchbruch durch die geistige Wand einer unsichtbaren Welt, sondern als Er-Weckung und Erneuerung dessen, was Gott den Gemeinden bereits geschenkt hatte. Sie stellte sich dar als Rückbesinnung auf das Wort Gottes, in dem mit neuer Dankbarkeit ein großer Schatz gefunden wurde.
Ein drittes Beispiel. Über einen anderen Missionar hörte ich folgende Geschichte, die mich sehr nachdenklich gemacht hat. Er berichtete, dass er einmal während eines längeren Gebets eine innere Stimme hörte. Sie sagte:
„Gib dich mir ganz hin, und ich werde dich zu einem großen Evangelisten machen“.
Wer wünscht sich das nicht?! Dieser Moment hat ihn bewegt. Er wollte gebraucht werden im Reich Gottes und war bereit zu ganzer Hingabe. Doch mit einmal ging es ihm durch den Sinn: Hier stimmt etwas nicht. Das Ziel ist verschoben. Es geht mir gar nicht darum, dass Gott groß wird, sondern dass ich groß werde. Das ist die Stimme des Teufels. Er versucht mich an meiner schwächsten Stelle: etwas Großes zu werden im Reich Gottes. – Er sagte später, dies sei eine der größten Versuchungen seines Lebens gewesen.
Es gehört zu den Kennzeichen unserer Zeit, eine solche Haltung (bzw. „Verheißung“) nicht einmal mehr als Gefährdung, geschweige denn als Anfechtung wahrzunehmen.
Endlich erkannte man den Wert der Kirche, die wie eine Zufluchtstätte inmitten einer eisigen Ideologie überwintert hatte
Plötzlich war die Kirche voll. An jedem Montag traf man sich. Menschen, die seit Jahren die Kirche nicht von innen gesehen hatten, sangen und beteten und hörten auf die Predigt. Und dann ging es hinaus. Vor der Nicolaikirche und durch die Straßen hörte man den Ruf „Wir sind das Volk“, der um die ganze Welt gegangen ist und Geschichte gemacht hat. Freiheit von der sozialistischen Gefangenschaft, Freiheit von der atheistischen Propaganda, Freiheit zum Leben – und die Kirche spielte eine ganz entscheidende Rolle dabei. Es war wie ein Wunder: dieses Erwachen. Endlich erkannte man den Wert der Kirche, die wie eine Zufluchtstätte inmitten einer eisigen Ideologie überwintert hatte. Mit einem Mal war Vertrauen da in eine Institution, auf die man sonst mitleidig oder verächtlich herabgeschaut hatte – „Großer Gott, wir loben dich!“
Doch als das Ziel – die Wende – erreicht war, hörte diese Bewegung ebenso plötzlich auf wie sie begonnen hatte. Die Kirchen blieben leer wie zuvor. Damit hatte keiner gerechnet. Was wie eine religiöse Erweckung ausgesehen hatte, war am Ende doch eine rein politische Bewegung, in der man die Freiheit zu reden, zu reisen und zu kaufen erreicht hatte.
In neuerer Zeit wurde von einigen Erweckungen berichtet: in Uganda und bei den Zulus, in Toronto und Pensecola. Man hörte von „Power Evangelism“, von „Zeichen und Wundern“, von Zungenreden und Zungengesang, von „Ruhen im Geist“, von „Heiligem Lachen“, von Heilungen und Befreiungsdiensten. Man hörte von Geheilten, aber auch von Enttäuschten, von Faszinierten und Mitgerissenen, aber auch von Abgeschreckten und Verstörten, von Wunderbarem und Lächerlichem. Und kaum, dass man die Frage gestellt hatte, ob eine Bewegung ihre Versprechen auch halten kann, ist sie auch schon wieder vergessen und ein neuer Stern am Himmel des Erweckungs-Tourismus aufgetaucht.
Was lernen wir daraus?
Echte Erweckungs-Bewegung ist immer eine Bußbewegung
Erweckungen haben mehrere Gesichter. Erweckungen sind keine eindeutigen Bewegungen. Sie müssen – wie alles, was mit einem hohen geistlichen Anspruch auftritt – geprüft werden, und sie haben ihre Bewährungsprobe noch vor sich. Halten wir einige Aspekte skizzenhaft fest:
- Das Gebet um Erweckung erzeugt eine hohe Erwartung.
- Das Bewusstsein des „Erwähltseins“ oder das Gefühl, an etwas „Besonderem“ teilzuhaben, kann den Hochmut und die Verachtung traditionellen Christentums fördern.
- Echte Erweckungsbewegung ist immer eine Bußbewegung. Ihre Dynamik besteht nicht aus einer Welle von Erfolgen, sondern aus der erschreckenden und heilsamen Erkenntnis der eigenen Sünden und Niederlagen.
- Im Gebet um Erweckung erwarten wir etwas von Gott, nicht von unserem Management, nicht von unserer Frömmigkeit und Ernsthaftigkeit, nicht von unserem Glaubensmut und nicht von unserer Begeisterungsfähigkeit.
- Gott erweckt auf verschiedene Weise. Man darf sich nicht durch besonders spektakuläre äußere Formen blenden lassen. Christen, die sich nach Erweckung sehnen, stehen bisweilen in der Gefahr der Wunderorientierung und Wundersüchtigkeit.
- Erweckung erweckt das Alte, Bekannte und schafft nicht unbedingt Neues, Spektakuläres. Erweckung ist Wiederentdeckung von Bibellesen und Beten, von Buße und Nachfolge, von Gottesdienstbesuch und der Treue im Kleinen.
- Etwas Großes zu werden im Reich Gottes – das hat keine Verheißung, sondern stellt eine Versuchung dar.
- Erweckungen sind (auch) kulturelle Phänomene – das geistlich Echte schält sich erst mit der Zeit heraus.
- Erweckungen haben ihre Zeit und lassen sich nicht wiederholen, herbeizaubern oder herbeibeten. Martin Luther gebrauchte das Bild vom fahrenden Platzregen, der einen Landstrich für kurze Zeit überdeckt, dann aber weiterzieht.
Um Erweckung beten
Nichts scheint heute selbstverständlicher zu sein als das Gebet um Erweckung und der Wunsch danach. Wir sehnen uns nach frischem Wind in unseren Gemeinden. Wir sehnen uns zurück zu den Anfängen unseres Glaubens, zur „ersten Liebe“. Wir sehnen uns danach, dass viele Menschen in unserer Umgebung zum Glauben finden. Aber sehnen wir uns auch danach, dass wir über unsere Sünden erschrecken? Sehnen wir uns danach, dass wir zerbrochen werden: in unserem Wohlstand, in unserem Wohlgefühl, in unseren Idealen? Wir sehnen uns nach missionarischem Erfolg, aber sehnen wir uns auch nach Widerstand und Verfolgung? Das kann nämlich durchaus miteinander geschehen. Nicht jede Erweckung ist von einer Welle der Begeisterung begleitet. Oft schenkt Gott Erweckungen gegen den Widerstand der Gesellschaft, oft dort, wo die Gemeinde im Untergrund weiter existieren muss. Wir wissen nicht, auf welchen Wegen uns Gott zur Umkehr ruft und durch welches Mittel er den Glauben seiner Kinder neu erweckt. Wissen wir also, worum wir beten, wenn wir um Erweckung beten?
Das Gebet ist keine Methode, um Erweckung herbeizuführen
Eines ist klar: Das Gebet ist keine Methode, um Erweckung herbeizuführen. Wir haben gehört, dass vor Erweckungen oft intensiv gebetet wurde. Aber das darf uns nicht zu dem falschen Umkehrschluss führen, dass sicher eine Erweckung kommen wird, wenn wir nur intensiv und ernstlich genug beten. Auch das Gebet um Erweckung sucht das Angesicht Gottes und nicht die Erfüllung der eigenen Wünsche.
Ich habe mich schon hin und wieder gefragt, wo in der Bibel eigentlich das Gebet um Erweckung unter eine Verheißung gestellt wird. Wenn man manche Prediger hört, so kann man den Eindruck gewinnen, es wäre nichts selbstverständlicher als dass eine Erweckung vor unserer Tür steht. Woher diese Gewissheit? Alle fünf Jahre steht ein neuer Prophet auf, der den Franzosen, Engländern oder Deutschen verheißt, Gott habe etwas Großes mit ihrem Volk vor – wenn wir nur intensiv und ausdauernd genug beten, wenn wir Gott nur von ganzem Herzen lobpreisen, wenn wir nur den Glauben hätten, große Dinge zu erwarten, wenn wir nur Buße tun und die Berliner Erklärung als Hemmschuh der Erweckung erkennen usw. Und woher diese Gewissheit? Aus Träumen und Visionen. Aber wer prüft diese Propheten? Das Wort „Vision“ ist inzwischen natürlich gewaltig abgenutzt. Man weiß nicht mehr: Handelt es sich um eine empfangene Offenbarung, um ein inneres Bild oder ist es nur eine andere Vokabel für eine stark motivierte Persönlichkeit?
Die Auswirkungen solcher Reden sind mitunter enorm. Es werden große Erwartungen erzeugt. Das Gefühl der eigenen – auch nationalen – Sendung entsteht (die US-Amerikaner hatten es schon immer). Natürlich hebt das den Selbstwert der einzelnen Christen und der Gemeinden, aber ob das geistlich so gut tut?
In der Begeisterung über die neuen Möglichkeiten Gottes wird die Aufgabe der Unterscheidung der Geister gelegentlich vernachlässigt. In der hoffnungsfrohen Aussicht auf eine Erweckungsbewegung wird manches unkritisch übernommen. Falsche Prophetien werden gerne schnell vergessen, um anderen Platz zu machen. Wir halten uns heute nicht gerne lange bei der Wahrheitsfrage auf – Hauptsache: die Motivation stimmt. Das Gebet um Erweckung kann unter der Hand umfunktioniert werden zu einem Motivator für Gemeindeaufbau- und geistliche Erneuerungskonzepte. Man sagt „Erweckung“, meint aber die Durchsetzung neuer Ideen.
Diese kritischen Töne sollen das Gebet um Erweckung nicht unter Verdacht stellen. Sie geben aber Anlass, über manche Selbstverständlichkeiten in diesem Bereich nachzudenken.
Eine „Erweckung der Dankbarkeit“
Ein letzter Punkt soll etwas ausführlicher angesprochen werden. Nach meiner Beobachtung ist der Wunsch nach Erweckung immer mit einer bestimmten Wahrnehmung des gegenwärtigen Zustands des eigenen geistlichen Lebens bzw. dem der eigenen Gemeinde verbunden. In diese Wahrnehmung spielt vieles hinein: echte Sündenerkenntnis, missionarische Gesinnung, Bewegtsein durch Gott – aber auch: hohe Ansprüche, Ideale, negativ ausfallende Vergleiche mit anderen, Unzufriedenheit, Ungeduld.
Das Gebet um Erweckung ist nicht immer geistlich motiviert. Oft schleichen sich andere Motive ein. Es ist häufiger als man ahnt verbunden mit hohen Erwartungen an gemeindliche Veränderungen, mitreißende Gottesdienste, geistliche Lebensstandards und großes numerisches Wachstum. Gemessen an diesen hohen Erwartungen erscheint die gegenwärtige Gemeindewirklichkeit als defizitär, veraltet, verknöchert, unbeweglich, leblos. Der Wunsch nach Erweckung kann so genährt sein durch Unzufriedenheit mit der eigenen Gemeinde. Werden die hohen Erwartungen jedoch nicht erfüllt, entsteht schnell wieder neue – und dieses Mal stärkere – Frustration.
Nicht: „Wie viele sind dabei?”, sondern: „Wobei sind die Vielen?”
Erweckung hat eine besondere Qualität: Erneuerung von innen heraus. Erweckung heißt Belebung dessen, was eingeschlafen ist, nicht die Heraufkunft von etwas Neuem. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, wie viel erweckt wurde, sondern was erweckt wurde. Also nicht die Frage ist entscheidend:
„Wie viele sind dabei?“, sondern diejenige: „Wobei sind die Vielen?“
Es gibt eine allgemeine Blindheit für das, was Gott in Deutschland geschenkt hat und für das, was sich an vielen Orten tut, von dem aber in den einschlägigen Zeitschriften nichts geschrieben steht. Unsere „Erweckungs-Gebärde“ entspricht bisweilen der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Gegenwart in unserem Land. Sie entspricht dem – für politische Korrektheit gehaltenen – verletzten Nationalgefühl, das das Gute, Wahre und Schöne im Anderen, Fremden erblickt, aber nicht im Eigenen. Es gibt in unserem Land eine „kollektive Selbstverleugnung“ (man sagt in einer Lust zur Selbstquälung: diese oder jene Eigenschaft sei „typisch deutsch“: unfreundlich, unspontan, bürokratisch, verkopft, lehrmäßig). Im Gegensatz dazu erscheint die fröhliche Egomanie amerikanischer Erfolgsbewegungen geradezu als vorbildlich. Im christlichen Jargon heißt das dann: Gott große Dinge zutrauen, an die prophetische Sendung des eigenen Volkes glauben etc.
Die Unzufriedenheit wird also in eine starke Motivation zur Veränderung umgelenkt, erzeugt so aber schnell Enttäuschung, Verzweiflung und Entmutigung. Enttäuschung darüber, dass andere Schwestern und Brüder nicht begreifen, worum es eigentlich geht. Verzweiflung darüber, dass Gottes gewaltiges Handeln ausbleibt. Entmutigung, weil man an die Grenzen der eigenen Kraft kommt.
Die Motive fließen häufig ineinander. Gemeinde-Aufbau-Kongresse können eine ermutigende, aber auch eine entmutigende Wirkung haben. Das haben die Veranstalter nicht in der Hand. Ich denke da z. B. an eine Frau, die von einem solchen Kongress geistlich motiviert zurückkam. Die Liebe zu Jesus war neu erwacht. Das geistliche Leben hatte neue Impulse bekommen. Es war ihr neu bewusst, dass Menschen ohne Jesus verloren gehen. Sie hatte neuen Mut, ihren Glauben zu bezeugen. Und sie brachte einige neue kreative Ideen für ihren Aufgabenbereich in der Gemeinde mit.
Ich denke aber auch an einen Pfarrer, der von demselben Kongress gekommen war. Er stand am Ende seiner beruflichen Wirksamkeit. Seine Gemeinde hatte sich zahlenmäßig so gut entwickelt, dass sie kurz vor einer umfangreichen Erweiterung stand. Und doch hatte er, als er zurückkehrte, die Frage: Warum haben wir das alles, was ich hier gehört habe, nicht bei uns? Ich kann nicht in sein Herz sehen und seine Motive wissen. Vielleicht hatte er einen Grund dafür, so zu reden. Ich habe mich aber gefragt, ob hier nicht die Sicht für das zu kurz gekommen ist, was Gott bereits bei ihm, in seiner Gemeinde, in Deutschland getan hat.
Sind wir vielleicht undankbar geworden, blind für die Segnungen Gottes, die wir schon haben, geblendet durch Methoden, Konzepte, Strukturen und Zahlen an anderen Orten? Von anderen lernen kann eine hilfreiche Ergänzung sein – sich mit anderen vergleichen lässt dagegen eine bittere Wurzel wachsen.
Keine Erweckung der Visionen, des Lachens, des Umfallens, des unverständlichen Redens, der Wanderbewegung zu evangelikalen Pilgerstätten
Erweckung kann auch bedeuten: Wachwerden für das, was Gott uns bereits geschenkt hat: unsere Kinder- und Jugendkreise, unsere Gottesdienste und Bibelstunden, unsere Gemeindeleiter, Pastoren und Lehrer. Was wir brauchen, ist m. E. nicht eine Erweckung der Visionen, des Lachens, des Umfallens, des unverständlichen Redens, der Wanderbewegung zu evangelikalen Pilgerstätten, der charismatischen Möglichkeiten, der Kreativität und Individualität. Erweckung ist ein Aufwecken dessen, was schläft, ist Anknüpfung an Vorhandenes. Vielleicht bedeutet Erweckung auch: dankbar sehen, was wir in unserer Unzufriedenheit verlernt haben zu sehen.
Vielleicht wird in Zukunft die echte Erweckung eine „Erweckung der Dankbarkeit“ sein.