„In welcher Welt leben wir eigentlich?“ Mit dieser Frage begann Dr. Stefan Holthaus (Dekan der FTA in Gießen) seinen Vortrag auf der diesjährigen Rüstwoche der Brüdergemeinden in Leipzig. Schon die Formulierung des Themas: „Die postmoderne Erlebnisgesellschaft und ihr Einfluß auf die Gemeinde“ veranlasse einen zum Denken. So lautete die Einführung und Begrüßung. Am Schluß war man sich einig: solches Denken strengt vielleicht an, ist aber eine ertragreiche Mühe.
Anfänglich wurden die charakteristischen Details der postmodernen Gesellschaft dargestellt und anhand aussagekräftiger Beispiele dargestellt. Denn Gemeinde steht auch heute nicht außerhalb der Gesellschaft und wird von ihr beeinflußt. Zunächst einmal wurde ein tiefgreifender Wandel seit den 80iger Jahren beschrieben.
Verhaltensweisen und Werte sind nicht von Vernunft geprägt, sondern von den Werten der Postmoderne: Sanftheit, Harmonie, Romantik und Spiritualität.
Ein herausragender Bereich ist die Erlebniszentrierung des Menschen. Soziologische Untersuchungen belegen die unstillbare Sehnsucht nach Glück. Um jeden Preis ist ein schönes, interessantes, angenehmes und faszinierendes Leben erstrebenswert. Leben heißt „er-leben“. Nicht länger gelten Werte wie Arbeit, Mühe, Entbehrung und Pflichtbewußtsein, sondern Genuß, Zerstreuung, gutes Gefühl. Selbstentfaltungswerte verdrängen Pflichtbewußtseinswerte.
Mittlerweile drückt die Erlebnisgesellschaft vielen Bereichen ihren Stempel auf. Vergnügungsparks schießen wie Pilze aus dem Boden, Kinos laden mit Riesenleinwand und Bar ein, Schwimmbäder werden zu Erlebnisbädern mit immer längerer Wasserrutsche. Designer bestimmen den Verkauf.
Hauptsache, man fühlt sich wohl. Wie könnte das anders zu erreichen sein, als mit fein abgestimmten Pflegesubstanzen für jeden Körperbereich? Gewöhnliche Seife ist out.
Der Einkauf wird zum „Event“, zum Ereignis. Seitdem es an der Tankstelle die frischesten Brötchen gibt, auch sonntags, existiert sie, die Erlebnistankstelle. Da kann die Post nicht länger nachstehen und verpaßt sich ein neues Image: in der modernen Posthalle erhält man natürlich seine Briefmarken, jedoch ebenfalls Brötchen(!), einen Schnellimbiß, Zeitungen, Ansichtskarten, Reiseangeboten usw. Nicht mehr die Ware ist das Entscheidende, sondern der Kauf an sich.
Unentwegt muß sich der moderne Mensch entscheiden. Nahezu unendlich ist die Zahl der Entscheidungsmöglichkeiten. Immerhin hat man beim Kauf eines BMW 10 Milliarden Wahlmöglichkeiten; wenigstens theoretisch. Auch ein ganz normaler Arbeitstag ist angefüllt mit zahllosen Entscheidungsmöglichkeiten. Man kann sie aber auch als Entscheidungsnotwendigkeiten betrachten: was ziehe ich an, was esse ich zum Frühstück, zum Mittag usw., welche Sendung schaue ich am Abend?
Ist so viel Entscheidungsmöglichkeit nicht Zeichen eines enormen Gewinns an Freiheit? Eher macht die Vielfalt hilflos und resignierend. Schließlich fühlt man sich vor den übervollen Regalen hoffnungslos überfordert.
Entscheidungsvorgänge setzen Denkvorgänge voraus. Immer mehr beschäftigt sich der Mensch mit sich selbst. „Ich grüble in mich hinein, wäge ab, verwerfe wieder, bleibe doch bis zum Schluß unsicher …“ Der Mensch wird innenorientiert. Erlebnisse lassen sich mit anderen nur schwer teilen. So führt die Wahlfreiheit am Ende zur individualisierten Gesellschaft. Individualismus wurde zum „gesellschaftlichen Leitphänomen“.
Erleben wird zur neuen Lebensaufgabe. Machbar wurde dies durch den Wandel von einer Armuts- zur Wohlstandsgesellschaft. An die Stelle einer von außen erzwungenen Überlebensorientierung tritt eine innengeleitete Erlebnisorientierung. Stand vor wenigen Jahrzehnten die Lebenssicherung im Vordergrund, ging die Entwicklung weiter von der Überfluß- zur Überdrußgesellschaft. In einer Gesellschaft, die alles hat, erfolgt die Jagd nach dem persönlichen Glück nach neuen Regeln. „Erlebnisorientierung ist die unmittelbarste Form der Such nach Glück.“, lautet ein Zitat.
Je intensiver das Streben nach Glück, um so fragwürdiger wird das Begehrte: Was macht wirklich glücklich? Was macht vor allem dauerhaft glücklich? Der postmoderne Mensch ist zur unablässigen Suche verurteilt und muß gleichzeitig nach Steigerung des Erlebens jagen. Unsicherheit und Angst vor Enttäuschung sind die beiden klassischen Symptome eines erlebnisorientierten Lebens und durchziehen die gesamte Gesellschaft.
In einem zweiten Abschnitt geriet die Analyse schon weniger distanziert, denn es wurden konkrete Einflüsse der gesellschaftlichen Umbrüche auf die Gemeinde nachgewiesen. Keineswegs bissig, in der Aussage aber deutlich, kamen Trends in evangelikalen Kreisen zur Sprache: christliche Veranstaltungen werden zu Erlebnissen. Christliche Entertainer treten zusammen mit Clowns auf, im Vorprogramm kommt ein Fußballspiel mit christlichen Prominenten. Zudem muß es gigantisch sein: nicht unter 10 Seminaren kann man wählen, nein, 100 sind im Angebot! Nichts anderes zeigt ein Blick auf den Büchermarkt: unter den Neuerscheinungen überwiegen Erzählungen, besonders Liebesgeschichten. Bibelarbeit steht am Rande, Dogmatik ist egal, die Wahrheitsfrage darf nicht gestellt werden.
Wie in der Gesamtgesellschaft bestehen umfassende Wahlmöglichkeiten. Fast zahllos sind die kirchlichen Gruppen und unüberschaubar ist ihr Angebot. Etwa 10.000 christliche Buchtitel sind im deutschsprachigen Raum erhältlich. Resultat: Individualismus und Unverbindlichkeit greifen um sich und führen zu ernstlichen Komplikationen.
Man redet von bedürfnisorientierter Evangelisation und will damit die Barrieren für Gemeindefremde abbauen. Nachdenken über solche Aspekte der Verbreitung des Evangeliums ist angebracht. Doch auch Gefahr kann darin liegen. Es gibt eine Bedürfnisorientierung, die biblische Wahrheiten ausgrenzt und die Botschaft vom Kreuz zur Seite drängt. Wir müssen einen Auftrag Gottes ausführen und das heißt, ihnen das zu sagen, was sie hören müssen und nicht das, was sie hören wollen. Diese Spannung ist zu wahren.
Allgemeines Harmoniebedürfnis äußerte sich in der Gemeinde als Wohlfühldrang. Was in der Gemeinde geschieht, muß gefallen, muß schön sein. Für die Wahrheit kämpft man nicht mehr. Motto: Nur niemandem auf die Füße treten. Für eine Gemeindezugehörigkeit entscheiden Wohlfühlkriterien, nicht Bekenntnis und Überzeugung (vollkommen muß Gemeinde nicht sein; wenn sie nur genügend nahe Parkplätze hat).
Wirkt sich die Veränderung auch auf Inhalt und Art der Predigt aus? Dazu nur ein Aspekt: was hängenbleibt, sind die Stories, gefühlsmäßig aufgemacht. Ein nichtchristlicher Soziologe (Peter Gross) wird zitiert: „Geschichtenerzähler … haben die Evangelisten von früher, die die eine und wahre Erzählung verkündet haben, abgelöst.“ Holthaus beklagt:
„Große evangelikale Prediger sind tatsächlich oft nur noch Geschichtenerzähler, Anekdotensammler der Moderne.“
Auch die Gottesdienste blieben von den Einflüssen nicht verschont. Die Vorprogramme werden immer länger, vielgestaltiger. Schließlich soll dem Besucher etwas geboten werden. Die Predigt selbst wird hingegen immer kürzer. Einen Mangel kann man darin gewöhnlich nicht erkennen. Wenn nur die geistlichen Sehnsüchte, oder was man dafür hält, gestillt werden.
Man hört es gern: Gott ist ein liebender und zärtlicher Vater, der uns küßt und uns umarmt. Dieser Vater will uns alles schenken, er widerspricht nicht, er bestätigt mich und vor allem, er erfüllt meine Bedürfnisse. Das Gottesbild wandelte sich. Gott ist nicht mehr strafend, heilig und gerecht. Er wird umfunktioniert. Kaum jemand merkt es.
In besonders auffälliger Weise folgt die Charismatik dem allgemeinen Trend. Ichzentrierte Befriedigung der Bedürfnisse und schnelle zudem, steht im Vordergrund. Lehre steht oft weit hinter Erfahrung zurück. Predigt gerät zur perfekt inszenierten Show. Erfahrungen geben Autorität: wer heilt, hat recht. Gigantisch geht es zu: normaler Segen ist unzureichend, doppelt und dreifach muß er sein.
Im letzten Abschnitt zeigt Holthaus die Spannung zwischen Erlebnisfrömmigkeit und Christuswirklichkeit auf. Gemeinde heute muß sich entscheiden, doch sieht sie vielfach die eigentliche Herausforderung gar nicht. Sie merkt nicht, wieweit sie bereits angepaßt ist und fühlt sich sogar wohl dabei.
Holthaus hält zwei Wege für verhängnisvoll, weil sei dem Übel nicht begegnen. Erstens könnte man mit der Rückkehr zu den alten vertrauten Gottesdienstformen die Lösung erstreben. Doch die alten Formen war ja auch nur Ergebnisse ihrer Zeit (z. B. aus der herben viktorianischen Epoche). Zum anderen bietet sich der Rückzug in ein Refugium an, in eine Wohlfühlnische, in der man für sich und mit sich allein lebt. Man bleibt so jedoch im Rahmen der Moderne, die auch den Ausstieg als Wahlmöglichkeit anbietet (von Alternativen und Grünen schon lange vorgemacht). Die Lösung muß tiefer ansetzen.
Um Mißverständnisse auszuschließen – Erlebnisse gehören zum Leben, auch dem religiösen. In den Berichten der Heiligen Schrift erleben Menschen Gott als handelnd. Er spricht, bewahrt, führt auf dem Weg. Gott offenbart sich – Menschen erfahren dies.
Aber es gilt auch: derartige Erlebnisse werden nicht gemacht, nicht gesucht, nicht sehnsüchtig herbeigezwungen. Sie bleiben ganz in der Souveränität Gottes. ER gibt die Erfahrungen und ER gibt sie, wo und wie ER sie will.
Holthaus verwies auf den Gegensatz zwischen biblischen Tugenden wie etwa Selbstbeherrschung und der bekannten Erlebnissucht und Genußorientierung. Beides sind schroffe Gegenstücke zur Hingabe an Jesus. Hingabe stellt stets Jesus in die Mitte, Erlebnissucht ist auf die eigene Person ausgerichtet. Keineswegs muß deshalb das christliche Leben zum freudlosen Vegetieren werden.
In einer Welt, die die Orientierung verloren hat, ist die richtige Reaktion ein Schwimmen gegen den Strom: Positionen vertreten. Natürlich müssen die Überzeugungen auch gelebt werden. Das kann Verzicht auf Konsumgüter ebenso einschließen, wie auch das mutige Nein gegen Homosexualität.
Vielleicht muß es angesichts der tiefen Sinnkonflikte zu allererst den Christen klar werden, was sie in Jesus und der Beziehung zu IHM für einen Gewinn haben. Sind sie jedoch fixiert auf Erlebnis, Genuß und kranken an Sinnverlust, wird weder ihr Leben noch ihr Wort missionarisch gewichtig sein können. Moderne Menschen rechnen wieder mit einem Gott, sie sind religiös. Doch, was finden sie auf dem religiösen Markt der Möglichkeiten? Wir Christen haben etwas zu sagen. Jedenfalls dann, wenn wir die Mitte des Glaubens zur Sprache bringen: die Rettung in Jesus Christus.
Am Schluß macht der Redner deutlich, daß auch angesichts der heutigen Sinnleere das Evangelium nicht schon einfach deshalb akzeptiert wird, weil es einen Weg zeigt. Es bleibt, was es schon zur Zeit des Neuen Testaments war, ein Skandal, eine Torheit. Spannungen gerade zum Selbsterlösungsprogramm müssen ausgehalten werden, trotz Harmoniebedürfnis.
„Wenn die Kirche diese ‚Torheit‘ preisgibt, verliert sie ihre Existenzberechtigung, gibt sie sich selbst auf … wenn die Kirche (oder in diesem Fall einzelne Christen) den transzendenten Kern der christlichen Lehre preisgeben, um sich mit dem Zeitgeist zu arrangieren, dann geht dabei die wertvollste Wahrheit verloren, die der Kirche anvertraut ist – die Wahrheit von der Erlösung der Menschen durch Christus, in welchem Gott in die Welt kam.“ (Peter Berger).
Holthaus schloß:
„Die postmoderne Erlebnisgesellschaft ist eine Gefahr und eine Chance: eine Gefahr, weil sie unseren Blick verzerrt, weg von Gott, hin zum Menschen. Eine Chance, weil der Hunger nach Erlebnissen ein versteckter Schrei nach Sinn ist. Wehe, wenn wir Christen in unserer postmodernen Zeit diese Chance wieder einmal verstreichen lassen.“
Persönlich möchte ich ergänzen, daß mir das Referat ausgesprochen wertvoll ist. Christen müssen Gesellschaft, in der sie leben und die Welt, in die sie gesandt sind, kennen. Sie müssen sie kennen, um sich zu bewähren und ihren Auftrag zu erfüllen. Falsche zeitbedingte Frömmigkeitsformen geben Steine statt Brot. Nicht nur, daß wir am Nächsten schuldig werden, auch uns selbst gefährden wir. Steine im Magen verleihen zwar Gewicht, bringen letztlich aber den Tod. Niemand darf diese Gefahr unterschätzen, Eltern ebensowenig wie verantwortlichen Christen. Wer um Gefahren und Chancen weiß, geht zielstrebiger und gewisser den gewiesenen Weg.