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Der Fall Rust und die endlose Geschichte charismatischer Falschprophetie

Seit Jahrzehnten „spuckt“ die Prophetie-Maschine des charismatisch-pfingstlichen Lagers eine Prophetie nach der nächsten aus. Würde man sie alle aufschreiben, eine lange Reihe dicker Bücher käme dabei heraus. Obwohl viele Vorhersagen nicht eintrafen, den Falschpropheten mit der Bibel in der Hand wurde keineswegs die Kirchentür gewiesen – ganz im Gegenteil.

So hatte der amerikanische „Top-Prophet“ Paul Caine 1992 im Wahljahr von Bill Clinton einen „prophetischen Traum“: Clinton werde der beste Präsident nach Eisenhouwer sein. Er werde Randgruppen und Unterdrückten helfen. Auf ihm werde eine göttliche Salbung ruhen, mit deren Hilfe er Amerika eine neue Vision vermitteln und sein Volk zu größerer Einheit führen werde. Am Ende der achtjährigen Regentschaft von Clinton steht fest: Die US-Gesellschaft ist so zerrissen wie kaum vorher in der Geschichte. Die Schere zwischen Arm und Reich ist unter Clinton noch weiter auseinandergegangen. Nach amtlichen Angaben haben rund elf Millionen Menschen täglich „mäßigen und schweren Hunger“ zu leiden, davon über vier Millionen US-Kinder unter zwölf Jahren. Clinton wird wohl eher wegen seiner unzüchtigen „Lewinsky-Affäre“, seines Eintretens für Abtreibung und seines Engagements für Homosexuelle in die Geschichte der USA eingehen als wegen einer „göttlichen Salbung“.

Neben Caine produziert auch ein weiterer frommer Orakel-Mann falsche Prophetien am laufenden Band. Am 31. Dezember 1989 beispielsweise erklärte Benny Hinn in einer Kirche von Orlando (USA):

„Der Herr sagt mir, … nicht später als 1994 oder 1995 wird Gott die homosexuelle Bewegung Amerikas … durch Feuer vernichten …“

Die Ankündigungen des wortgewaltigen Charismatikers trafen bis heute nicht ein – eher das Gegenteil. Als in Johannesburg (Südafrika) während einer Benny Hinn-Erweckungsveranstaltung ein Mann zusammenbrach, versicherte Hinn, der „Herr“ habe ihm gesagt, dass der Mann gesund würde. Tatsächlich starb er noch im herbeigerufenen Krankenwagen.

In Deutschland
wurde Benny Hinn durch den Pfingst-Evangelisten Reinhard Bonnke salonfähig gemacht. Hinn durfte 1987 auf der Euro-Feuerkonferenz in Frankfurt sprechen. Diese Feuerkonferenz sollte der „Auftakt zur größten Ausgießung des Heiligen Geistes in Europa“ werden. Bonnke schrieb dazu:

„Die Zeit ist gekommen! Wellen der Herrlichkeit Gottes werden über Europa rollen! Niemand kann Gottes Wirken einschränken … Der Herr hat ganz konkret zu mir gesprochen.“

Nicht die Herrlichkeit Gottes überrollt Europa, sondern eine gigantische antichristliche Welle von New Age, Esoterik und Okkultismus, die seit Mitte der 80er Jahre weite Teile der Bevölkerung erfasst hat.

Auch der verstorbene Altmeister der frommen Hellseherei, der Charismatiker John Wimber, zog immer wieder gerne Nieten in der Orakel-Tombola. Ende der 80er Jahre sagte er eine große Erweckung für England voraus, die so nicht eingetroffen ist. Als einer der bekanntesten Evangelikalen Englands, David Watson, an Krebs erkrankte, kam Wimber eigens aus den USA angeflogen und verkündigte, wie Gott ihm gezeigt habe, werde Watson gesund. Doch Watson starb bald darauf. Der christliche US-Bestsellerautor Dave Hunt schreibt in seinem Buch „Die okkulte Invasion – Die unterschwellige Verführung von Welt und Christenheit“:

„Die falschen Prophezeiungen und ‚Worte der Erkenntnis‘ bei denen, die mit Wimber und seinen Vineyard-Gemeinden verbunden sind, würden Bände füllen.“

In den letzten Wochen machte ein weiterer „Prophet“ auf sich aufmerksam: der Baptist Dr. Heinrich C. Rust (siehe TOPIC 11/2000). Im Namen Gottes und im Ich-Stil rief er am 21. Oktober 2000 alle Deutschen und im Besonderen „meine Gemeinde in Deutschland“ zu einer „tiefen Buße“ und „Umkehr“ auf. Damit alle erkennen, „dass ich es bin, der solches redet“, sollten drei Zeichen die Göttlichkeit des Absenders bestätigen: 1. Im November werde es einen „Ruck am Finanzmarkt“ geben. 2. In naher Zukunft würden sehr viele führende geistliche und kirchliche Leiter „zurückgerufen“. In den Gemeinden werde es zu Krisen kommen. 3. Die Regierungsbildung in den USA werde überschattet sein von vielen Krisen und Kriegsgefahren „in Gebieten dieser Welt, die zuvor als ruhig geglaubt wurden.“

War es tatsächlich Gott, der durch den charismatischen Baptisten gesprochen hat?

War es tatsächlich Gott selbst, der durch den charismatischen Baptisten gesprochen hat? Der Gott, der von sich sagt, dass er das einhält, was er persönlich zusagt (Psalm 33,4)?

Bei großzügiger Betrachtung
könnte man noch am ehesten den „Ruck im Finanzmarkt“ erkennen. Tatsächlich rutschte im November der spezielle Börsenwert „Nemax-50“ („Nasdaq“) ein gewisses Stück abwärts. Doch dieser Absturz vollzog sich seit März letzten Jahres mit viel größeren Sprüngen nach unten als im November und fällt auf ein gesundes Normalmaß. Wieder einmal bewahrheitet sich eine alte, völlig weltliche Börsenweisheit: Was hoch steigt, kann auch tief fallen. Überhaupt nicht eingetroffen ist die Rust-Offenbarung über „viele Krisen und Kriegsgefahren“ im Zusammenhang mit der US-Wahl. Zwar führte die Präsidentschafts-Wahl in den USA zu ernsten innenpolitischen Problemen, doch ansonsten blieb es auf dem Globus erstaunlich ruhig zu dieser Zeit. Was ist nun mit dem Rückruf von geistlichen und kirchlichen Leitern? In einem Zeitschriften-Beitrag versicherte der Vorsitzende der charismatischen Geistlichen Gemeinde-Erneuerung in der EKD, Pfarrer Friedrich Aschoff, dass sich diese Rust-„Prophetie“ zur Zeit erfüllen würde. Auf Nachfrage von TOPIC nannte Aschoff einen spontanen Todesfall eines Mannes mittleren Alters, den Tod eines älteren Glaubensbruders sowie einen Krankheitsfall. All diese Einzelfälle bezögen sich aber nur auf die Leitungsebene des charismatischen Lagers. Aschoff nennt drei Fälle. Rust sprach von „sehr vielen“. Sind nun alle Kirchen gemeint oder nur das charismatische Lager?

Die Rust-Ankündigung über den „Rückruf“ von geistlichem Führungspersonal „in den nächsten Tagen und Monaten“ hat bei Licht betrachtet keineswegs die Qualität einer vorausschauenden Prophetie. Rust als intimer Kenner der charismatischen Szene weiß, dass Teile des charismatischen Lagers schon seit längerem in einer tiefen Krise stecken. Dies betrifft besonders die Ebene der Leiterschaft. Personalveränderungen sind abzusehen. Diese Krise mitausgelöst haben ausgerechnet Hunderte von falschen Propheten mit ihren „ewigen“ Ankündigungen von Erweckungen. So schreibt Norbert Abt, Herausgeber des charismatisch-pfingstlichen Informationsdienstes c-report, in der November-Ausgabe: Zahlreiche Pastoren, Gemeindeleiter und Gläubige im charismatischen Lager seien müde. Der Grund: die seit Jahren andauernde Jagd nach der Erweckung. Viele über Deutschland ausgesprochene Verheißungen hätten sich bisher noch nicht erfüllt. Auf einem Treffen von 40 charismatischen Leiterinnen und Leitern Anfang November im Christlichen Zentrum Frankfurt wurde dieser Frust von einem Teilnehmer in deutlichen Worten vorgetragen:

„Am bedürftigsten sind wir Leiter … Ich glaube, der Heilige Geist hat sich in unserem Land zurückgezogen. Wir verfallen immer wieder in alte Wege. Wir haben den Heiligen Geist betrübt, gedämpft, ja sogar fast ausgelöscht, weil wir so gerne alles unter Kontrolle haben – das ist ein Joch, das auf diesem Land liegt. Gott ruft uns zurück zum Standard seines Wortes.“

Entweder ist eine prophetische Offenbarung eine göttliche Botschaft von völliger Zuverlässigkeit und Wahrhaftigkeit, oder sie ist überhaupt keine göttliche Offenbarung

Zu diesem Standard gehört in jedem Fall, dass der Gott der Bibel ein präziser Gott ist, zumal, wenn er sich im Ich-Stil äußert:

„Die Summe deines Wortes ist Wahrheit.“ (Ps 119,160).

Dieses Qualitätsurteil kann man Rusts Vorhersagen nicht verleihen. Zuviel ist mehrdeutig oder falsch. Nicht ein einziges der drei Zeichen ist so klar und eindeutig, dass es viele Gläubige sofort als göttliches Mahnzeichen für Buße und Umkehr erkennen und verstehen könnten. Dies belegen auch die zahlreichen Diskussionen, die von den Rust-Prophetien ausgelöst wurden.

Nach der Heiligen Schrift gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist eine prophetische Offenbarung eine göttliche Botschaft von völliger Zuverlässigkeit und Wahrhaftigkeit, oder sie ist überhaupt keine göttliche Offenbarung:

„Wenn der Prophet im Namen des HERRN redet und das Wort geschieht nicht und trifft nicht ein, so ist es ein Wort, das nicht der HERR geredet hat.“ (5Mose 18,22).

Rust selbst glaubt, dass die von ihm angekündigten Zeichen tatsächlich auch eingetreten sind. In einem TOPIC-Gespräch vom 31.10.2000 räumte er noch ein, sich in Bezug auf seine Prophetien auch irren zu können. Schade, dass Rust jetzt scheinbar davon nichts mehr wissen will: Denn Irrtümer können Stationen auf dem Weg zur Wahrheit sein (nach F.M. Dostojewski).