ThemenBibelverständnis

Gilt das Alte Testament heute noch? Gedanken zur Auslegung des Alten Testaments in der christlichen Kirche

„Selbstverständlich gilt das Alte Testament heute noch“, wird jeder fromme Jude antworten. Juden kennen das Neue Testament nicht. Für sie ist das Alte Testament die Bibel und bis heute uneingeschränkt gültig. Christen dagegen leben im Neuen Testament. Sie kennen den neuen Bund, den Jesus mit seinem Sterben und Auferstehen aufgerichtet hat (vgl. Lk 22,20). Dennoch wird in vielen christlichen Gemeinden häufig alttestamentlich argumentiert.

Wenn der Pastor die Gläubigen auffordert, den Zehnten zu geben, begründet er dies mit dem Alten Testament (AT) (vgl. z. B. Mal 3,10). Im Neuen Testament (NT) gibt es nämlich keine Anweisung, den Zehnten zu geben. Allerdings gehen die Christen überwiegend sehr selektiv mit dem AT um. Manche Gebote begrüßen sie und halten sie wörtlich ein, z. B. 5Mose 22,5:

„Eine Frau soll nicht Männersachen tragen, und ein Mann soll nicht Frauenkleider anziehen; denn wer das tut, der ist dem HERRN, deinem Gott, ein Gräuel.“

Manche Gebote halten sie nur sinngemäß ein, z. B. 2Mose 20,8ff:

„Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest … “

Sie nehmen sich irgend einen Tag der Woche als arbeitsfrei heraus, nicht aber den Samstag. Und manche Gebote lehnen sie völlig ab, z. B. 3Mose 20,10:

„Wenn jemand die Ehe bricht mit der Frau seines Nächsten, so sollen beide des Todes sterben.“

Gilt für Christen das AT noch? Wenn ja, gilt es uneingeschränkt oder gelten nur gewisse Teile? Kann jeder Christ selbst bestimmen, was gilt und was nicht gilt? Im Folgenden wird versucht, diese Fragen zu beantworten.

1 Das AT vermittelt kein Heil

Die Juden und viele andere Menschen glauben, dass sie durch das Einhalten der Gebote das Heil erlangen können.

Diese Überzeugung ist jedoch ein Irrtum. Denn der Mensch ist aufgrund des Sündenfalls ethisch geschwächt und nicht in der Lage, die Gebote vollständig zu halten. Deshalb kann kein Mensch durch Beobachtung des Gesetzes errettet werden. Dies bezeugt Paulus an vielen Stellen im NT (z. B. Röm 3,20.28; Gal 2,16; Eph 2,8f.). Wer also meint, durch Einhalten der Gebote in den Himmel zu kommen, der täuscht sich. Das Gesetz öffnet nicht die Himmelstür; allein der Glaube an Jesus Christus macht den Menschen selig. Jesus ist das Ende, das Ziel des Gesetzes (vgl. Röm 10,4); er hat uns vom Gesetz als Heilsweg befreit (vgl. Gal 4,4f.). Denn dieser Heilsweg brachte keinen Menschen zum Ziel. Dies erkannten die Apostel sehr deutlich und schrieben deshalb den Christen aus den Nationen, dass für sie das alttestamentliche Gesetz als Heilsweg uninteressant sei. Sie, die Heidenchristen, sollten aus Rücksicht auf die Judenchristen lediglich folgende vier Gebote halten: kein Götzendienst, keine Unzucht, kein Blutgenuss, kein Fleisch von erstickten Tieren (vgl. Apg 15,28f.). Diese vier Gebote sind zwar wichtig, und wir Christen tun gut daran, sie zu befolgen. Doch was ist mit den ebenfalls wichtigen Geboten: Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen usw.? Gelten diese Gesetze für Christen nicht mehr?

Wer diese Gebote hält, um dadurch vor Gott gerecht zu werden, befindet sich auf einem Irrweg

Wer diese wichtigen Gebote deshalb hält, um dadurch vor Gott gerecht zu werden, befindet sich auf einem Irrweg. Gleichwohl gelten diese Gebote auch für Christen. Sie sind alle in dem Doppelgebot der Liebe enthalten und werden von den bereits durch den Glauben an Jesus geretteten Christen aus Liebe und Einsicht gehalten. Wenn Jesus seinen Nachfolgern sagt: „Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt … und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,37ff.), dann umschließt dieses Doppelgebot der Liebe alle Einzelgebote des Dekalogs und viele andere Gesetze des AT. Jesus selbst erklärt: Im Doppelgebot der Liebe hängt das ganze Gesetz und die Propheten. (Mt 22,40) Und Paulus ergänzt treffend:

„Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“ (Röm 13,10; vgl. auch Gal 5,14)

2 Das AT wird durch Christen erfüllt

Weil Christen durch die Wiedergeburt erneuert worden sind und die Kraft des Heiligen Geistes erhalten haben, können sie die Gebote des AT einhalten. Das, was der natürliche Mensch nicht kann, wird dem durch den Glauben an Christus erneuerten Menschen ermöglicht. Der natürliche Mensch versucht, die Gebote Gottes zu halten. Doch er scheitert immer wieder. Für ihn stellt das Gesetz eine zu hohe Latte dar, die er nicht zu überspringen vermag. Das Gesetz offenbart ihm nur seine Unfähigkeit, es zu halten. Deshalb sagt Paulus:

„Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ (Röm 3,20; vgl. auch Röm 5,20; Gal 3,19)

Die Reformatoren sprachen an dieser Stelle vom „usus elenchticus legis“, dem überführenden Gebrauch des Gesetzes. Das Gesetz zeigt dem Menschen seine Schlechtigkeit, seine Unfähigkeit, die Gebote zu halten. Damit wird der natürliche Mensch gleichsam durchs Gesetz auf Christus, den Heilsbringer, hin erzogen. Das Gesetz war also ein Erzieher oder Zuchtmeister (vgl. Gal 3,23ff.).

Wenn der Mensch dann zu Christus kommt und die Wiedergeburt erlebt, wird in sein Herz die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist ausgegossen (vgl. Röm 5,5) und er wird in die Lage versetzt, die Gebote einzuhalten. Über diese Wahrheiten spricht Paulus ausführlich im Brief an die Römer (Kapitel 6 bis 8) und an die Galater (Kap 2 bis 5). Betont werden soll an dieser Stelle nochmals, dass der Christ die Gebote nicht einhält, um dadurch gerettet zu werden.

Vielmehr ist er bereits durch den Glauben gerettet, und aus Dankbarkeit gegenüber Christus lebt er in der Liebe und befolgt damit die Gebote.

Hier stellt sich nun die Frage: Sollen die in der Liebe lebenden Christen das ganze AT mit allen seinen Einzelgeboten befolgen? Die Antwort lautet: nein! Das gesamte Kultgesetz mit seinen zahlreichen Opferanordnungen und ungezählten Einzelanweisungen ist in Christus erfüllt. Kein Christ braucht mehr Tieropfer zu bringen, um mit Gott versöhnt zu werden. Christus ist einmal geopfert worden und hat damit die Erlösung vollbracht. Somit sind alle weiteren Opfer überflüssig (vgl. Hebr 10,11-18).

Was aber ist mit dem Sittengesetz? Sind die vielen Einzelanweisungen zum zwischenmenschlichen Verhalten heute noch bindend? Das Sitten- oder Moralgesetz des AT ist durch die Lehre Christus abgelöst worden. Nur dort, wo das Neue Testament ausdrücklich ein Gebot des Alten Testaments aufnimmt und für die neutestamentliche Gemeinde als verbindlich erklärt, haben Christen dies auch zu halten (vgl. z. B. die schon erwähnten vier Gebote aus Apg 15,28f.). Denn die Gesetze des AT offenbaren den Willen Gottes nur in abgeschwächter Form. Wegen der Herzens Härte (Mt 19,8) der Menschen hat Gott viele Gebote im AT weicher gefasst als es eigentlich sein Wille ist. So hat Gott den Juden z.B. die Ehescheidung in 5Mo 24,1 erlaubt. Eigentlich entspricht dies aber nicht seinem Willen (vgl. Mt 19,3ff.).

Jesus hat nun den eigentlichen Willen Gottes wieder offenbart. Deshalb verbietet er die Ehescheidung auch generell und anerkennt nur eine Ausnahme, nämlich im Fall von Unzucht (vgl. Mt 5,31f.). Aber auch die anderen Gebote wie etwa Du sollst nicht töten werden von Jesus verschärft und auf ihren eigentlichen Sinn zurückgeführt. Denn es geht z. B. bei dem Verbot zu töten ja gar nicht nur darum, nicht mit der Tat zu töten. Vielmehr geht es auch darum, die Vorstufen des Tötens, etwa Rufmord, Lieblosigkeit oder Hass zu vermeiden. Deshalb lehrt Martin Luther ganz treffend in seinem Kleinen Katechismus über das Gebot Du sollst nicht töten:

„Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und fördern in allen Leibesnöten.“

Das Doppelgebot der Liebe geht also weit über die Gesetze des AT hinaus. Folglich halten Christen mehr, als das AT fordert. Dies zeigt die Bergpredigt unmissverständlich (vgl. Mt 5,21-48).

Für Nichtchristen darf die Bergpredigt jedoch nicht als Maßstab genommen werden. Denn unmöglich können sie diese erfüllen. Den Ungläubigen ist weiterhin der Dekalog als Richtschnur gegeben (vgl. 1Tim 1,8ff.).

Daher sprachen die Reformatoren vom „usus politicus legis“ und meinten damit, dass das Gesetz ins Rathaus, in die Öffentlichkeit gehört, d. h. die Gesetzgebung eines Staates soll sich an den Geboten Gottes orientieren und so der Eindämmung von Kriminalität dienen.

Das AT steht also auf einer niedrigeren Offenbarungsstufe als das NT. Das AT ist auch Wort Gottes, aber nur vorläufiges und nicht endgültiges Wort Gottes. Die entscheidende und abschließende Offenbarung Gottes geschieht in Jesus Christus, der den neuen Bund aufrichtet. Diese Wahrheit wird bereits im AT bezeugt (vgl. Jer 31,31ff.) und im NT aufgenommen und bestätigt (vgl. Hebr 8,6ff.). Daher ist die heilsgeschichtliche Theologie bzw. Exegese jeder anderen Auslegung vorzuziehen. Denn sie berücksichtigt die Priorität des Neuen Testaments.

3 Das AT vermittelt Belehrung

Wir haben gesehen, dass das Kultgesetz durch Christus erfüllt und aufgehoben worden ist und dass das Moralgesetz von Christen auf höherer Stufe – über das Doppelgebot der Liebe – erfüllt wird. Es bleibt noch die Frage: Welchen Nutzen hat das AT überhaupt noch für die christliche Gemeinde? Manche haben geantwortet: Das AT ist für Christen unwichtig. Doch dies ist ein Irrtum. Über die bleibende Bedeutung des AT lesen wir in Röm 15,4; 1Kor 10,11 und in 2Tim 3,16f.

Das AT ist den Christen zur Belehrung gegeben. Die vielen Gebote, Geschichten, Sprüche, Psalmen usw. sollen uns lehren, warnen, trösten und erziehen. Sie zeigen uns Gottes Heiligkeit und Majestät, seine Barmherzigkeit und Liebe, aber auch seinen Zorn und seine Gerichte. Gottes Handeln am Volk Israel ist ein Bild für seinen Umgang mit der Gemeinde. Gottes Verheißungen für die Zukunft des Volkes Israel haben sich entweder schon erfüllt oder werden sich noch erfüllen. Daran sehen wir, dass Gott zu seinem Wort steht.

Fazit: Das AT ist Wort Gottes, besitzt aber einen vorläufigen Charakter. Die christliche Gemeinde kann es nicht wortwörtlich in die heutige Zeit übernehmen. Vielmehr ist das AT heilsgeschichtlich auszulegen. Wie dies geschieht, zeigt uns Jesus Christus und das NT. Wir leben heute im neuen Bund und haben uns nach den Grundsätzen dieses Bundes und seines Stifters, Jesus, zu richten. Jesus und das NT zeigen, dass das kultische Gesetz endgültig vorbei ist und dass das sittliche Gesetz im Doppelgebot der Liebe aufgeht. Christen befolgen das Doppelgebot der Liebe nicht, um dadurch gerecht zu werden; sondern weil sie durch den Glauben an Jesus gerecht geworden sind, halten sie gerne die Gebote Gottes.