Die gesellschaftliche Situation heute
Erziehung sei, so hat es einer der Väter der „Antipädagogik“ (von Braunmühl) formuliert, „in jeder Form Kindesmisshandlung“ und entspringe einer „vorgestrigen Dompteur-Ideologie“. Der Grund dafür liegt nach Ansicht von Ekkehard von Braunmühl darin, dass wir keinen Maßstab für Erziehung besitzen. Wenn wir aber nicht wissen, wie der Mensch eigentlich sein soll, woher nehmen wir dann das Recht, ihn zu erziehen? Woher nehmen wir das Recht, ein bestimmtes Menschenbild als verbindlich zu erklären? Jede Erziehung erzieht ja immer mit Wert- und Normvorstellungen. Woher nehmen wir das Recht, solche Werte für andere als verbindlich zu erklären?
Häufig stellen sich Erzieher diese Fragen nicht, sondern fragen nur danach, welche Form der Erziehung „funktioniert“. Doch ohne Werte funktioniert gar keine. In früheren Jahrhunderten galt es weithin als selbstverständlich, dass die Kirche, die Bibel und damit letztlich Gott selber diese Werte setzten.
Heute geht diese Prägung immer mehr zurück. In den alten Bundesländern gehören bereits 10% der 15-24-Jährigen keiner Konfession mehr an, in den neuen Bundesländern sind es 79% (was sicher ehrlicher ist, als die 10% in den alten Bundesländern). In den neuen Bundesländern geben nur 17% dieser Altersgruppe an, manchmal oder regelmäßig zu beten, in den alten Bundesländern sind es 39%. Und auch hier müsste man kritisch nachfragen, zu wem da eigentlich gebetet wird.
Die Entwicklung jedenfalls geht weg von Kirche, Gott und Bibel. Aber wenn Gott nicht mehr ein persönliches Gegenüber im Himmel ist, der sich um mich kümmert und mich liebt, dann bin ich furchtbar allein! Dann ist Einsamkeit mitten in der Masse die notwendige Konsequenz.
Viele flüchten daher auf ihrer Suche nach Halt und Geborgenheit in den „Schoß“ einer autoritären Gruppe (Jugendsekte, radikale politische Gruppierung) oder in einen angeblich „berechtigten“ Egoismus. Denn wenn kein Gott mehr ist, vor dem ich mich verantworten muss, warum sollte ich dann meinen Nächsten lieben? Francis Schaeffer hat das so formuliert:
„In dem Maße, wie der vom Christentum beeinflusste Konsensus schwächer wurde, übernahm die Mehrzahl der Menschen zwei kümmerliche Werte: persönlichen Frieden und Wohlstand.“1
Unsere Zeit ist geprägt von einer X-Beliebigkeit der Werte. Man darf alles und jedes und man kann auch alles „rechtfertigen“. Dies ist das Ergebnis eines übersteigerten und missverstandenen Individualismus. Während man vor einigen Jahren noch erbittert um Werte und ihre Gültigkeit stritt, hat man heute den Gedanken an für alle gültige und verbindliche Werte offenbar völlig gestrichen. Vielmehr muss sich jeder selbst sein Wert- und Weltsystem zusammenstellen, das dann auch nur für ihn und höchstens noch für eine kleine Gruppe von Gleichgesinnten gültig ist.
Wenn wir dagegen der Überzeugung sind, dass der Gott der Bibel wirklich lebt und dass die Bibel sein Wort ist, dann finden wir hier das, was alle Welt verzweifelt sucht: Halt, Orientierung, Maßstab. Dann geht es darum, das biblische Menschenbild in unserer Erziehung umzusetzen.
Das biblische Menschenbild als Voraussetzung
Welche erzieherischen Leitvorstellungen beherrschen unser Denken?
Übergeordnete Wertvorstellungen und Normen sind grundlegend wichtig für die konkrete Festlegung der Erziehungskonzeption, sie wirken sich sogar bis in die einzelne didaktische Gestaltung des Unterrichts aus. Die Frage lautet daher, welche erzieherischen Leitvorstellungen unser Denken beherrschen.2 Erst von der Beantwortung dieser Frage her lässt sich dann die Frage nach der Art unserer Erziehung beantworten. Und auch die Frage nach dem Ziel der Erziehung lässt sich erst klären, wenn die Frage des Menschenbildes beantwortet ist. Untersucht man nun diese Frage in der Bibel, so findet man zwei scheinbar gegensätzliche Aussagen.
- Der Adel des Menschen. Die Bibel spricht vom Adel des Menschen, der in seiner Gottebenbildlichkeit begründet ist. Gott hat den Menschen als sein Ebenbild geschaffen. Der Mensch soll sozusagen Gottes Gegenüber auf dieser Erde sein. Letztlich begründet sich von dieser Aussage her auch die Forderung, dass Selbständigkeit und Mündigkeit Ziel der Erziehung sein müssen. Selbständigkeit nicht im Sinn vollkommener Autonomie, sondern im Sinn der Verantwortlichkeit gegenüber Gott, dem Schöpfer und gegenüber seinen Mitgeschöpfen.
- Die Sündhaftigkeit des Menschen. Es darf nicht übersehen werden, dass der Mensch immer auch ein gefallenes Geschöpf ist, das seine wahre Bestimmung verfehlt. Die moderne Erziehung krankt daran, dass dies gewöhnlich nicht erkannt und bedacht wird.
Die Erziehungswissenschaft hat sich seit der Aufklärung einen ungerechtfertigten Optimismus im Blick auf das Wesen des Menschen angewöhnt. Es ist aber für jede Erziehung verhängnisvoll, wenn sie von einer Vorstellung über das Kind ausgeht, die nicht der Wirklichkeit entspricht. Auf der anderen Seite ist aber auch vor einem überzogenen Pessimismus zu warnen, der davon überzeugt ist, dass der Mensch hoffnungslos sündig ist und eine Besserung durch Erziehung nicht erwartet werden kann. Eine solche Sicht würde jede Form von Erziehung unmöglich machen.
Man müsste von dem Menschen als einem „Wesen im Widerspruch“ sprechen. Auf der einen Seite geht die Bibel davon aus, dass der Mensch ein von Gott geschaffenes Wesen ist, das aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit einen hohen Adel besitzt. Dieser Adel der Gottebenbildlichkeit ist auch durch den Sündenfall nicht völlig zerstört (vgl. Ps 82,6; Joh 10, 34-36). Auf der anderen Seite betont die Bibel aber auch sehr eindringlich die Sündhaftigkeit des Menschen von seiner Jugend an (vgl. 1Mo 8,21; Ps 51,5; Spr 20,9; Pred 7,20; Röm 3,23).
Der Mensch ist von klein auf ein durch und durch egoistisches Wesen, das nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist
Der Mensch ist also keineswegs von Natur aus gut. Wenn dies so wäre, hätte die antiautoritäre Erziehung (im Sinne Rousseaus oder gar im Sinne der Antipädagogik) letztlich recht. Man müsste nur dafür sorgen, dass der Mensch möglichst unbeeinflusst durch die schlechte Umwelt aufwächst und so seine eigentliche Natur zur Entfaltung kommen kann. Vielmehr ist der Mensch von klein auf bereits ein durch und durch egoistisches Wesen, das vor allem eines im Blickfeld hat: den eigenen Vorteil. Zwar kann Erziehung hier verdeckend eingreifen, so dass der menschliche Egoismus nur noch selten offen zutage tritt. Aber auch die beste Erziehung kann die Grundtatsache nicht aufheben. Häufig tritt dieser Egoismus dann im Alter wieder zutage.
Also: Der Mensch ist auf der einen Seite tot in der Sünde, aber auf der anderen Seite trägt er noch immer die Ewigkeit in seinem Herzen.
Die gute Nachricht von Gottes Liebe
Hier setzt die Botschaft des Neuen Testamentes ein. Durch eine radikale Umkehr des Menschen und Hinwendung zu Christus („Bekehrung“) ereignet sich das, was Hesekiel schon als Verheißung angekündigt hat:
„Und ich werde ihnen ein Herz geben und werde einen neuen Geist in ihr Inneres geben, und ich werde das steinerne Herz aus ihrem Fleisch entfernen und ihnen ein fleischernes Herz geben.“3
Gott verheißt eine radikale (d. h. an die Wurzel gehende) Behandlung des menschlichen Problems. Wenn hier vom Herzen die Rede ist, dann wird darunter das bewusste Lebenszentrum des Menschen, sein innerstes Ich, verstanden. Wenn ein Mensch sich Jesus Christus zuwendet, kommt es zu einer geistlichen Neugeburt, bei der das Lebenszentrum des Menschen grundlegend verändert wird:
„Daher, wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2Kor 5,17).
Der neugeborene Mensch hat sozusagen ein neues Lebenszentrum erhalten (durch den Heiligen Geist, der in ihn gekommen ist). Von diesem Zentrum aus werden nun alle Bereiche des menschlichen Lebens verändert. Zwar ist nicht auf einen Schlag alles anders geworden, aber alles steht in einem neuen Licht, hat eine neue Einordnung und Zuordnung erfahren.
Das eigentliche Ziel dieser „Neuschöpfung“ ist die Erneuerung in das Ebenbild Gottes, das in dem Menschen zerstört wurde. Paulus schreibt:
„Wir alle aber schauen mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn an und werden so verwandelt in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom Herrn, dem Geist, geschieht.“ (2Kor 3,18).
Erziehung kann das Grundproblem der Sünde nicht lösen
Es ist klar, dass dieses Ziel nicht durch Erziehung erreicht werden kann. Aber Erziehung kann dem Menschen dazu helfen, das Angebot der Erneuerung in Jesus Christus zu erkennen. Natürlich geht es auch in der christlichen Erziehung darum, den jungen Menschen für ein Leben in unserer Gesellschaft tauglich zu machen. Anknüpfend an den grundsätzlichen Adel des menschlichen Wesens kann durch Erziehung dazu beigetragen werden, dass ein Mensch dazu tauglich wird, innerhalb der und für die Gesellschaft, in der er lebt, einen wertvollen Beitrag zu leisten. Aber Erziehung, die von Christus her bestimmt ist, hat letztlich noch ein anderes Ziel.
Sie möchte den zu erziehenden Menschen auf Christus hinweisen, so dass er in der Lage ist, auf dieses Angebot eine selbst verantwortete Antwort zu geben. Natürlich ist sich diese christliche Erziehung dessen bewusst, dass sie keinen Menschen zum Christen erziehen kann. Sie kann immer nur Wegweiser auf Christus hin sein. Diese Funktion aber sollte christliche Erziehung immer haben, wenn sie sich zurecht „christlich“ nennen will.
Nach der Bibel ist der Mensch in allen Bereichen seines Lebens von der Sünde berührt. Er braucht daher die Hilfestellung einer autoritativen Erziehung. Nur eine solche kann ihn dabei unterstützen, sich gegen die in ihm wohnende Tendenz zur Eigensucht und Sünde zu stellen. Zwar wird auf diese Weise das menschliche Grundproblem nicht gelöst, aber für eine gesunde Entwicklung ist diese Hilfestellung dennoch unerlässlich. Nicht umsonst haben die Reformpädagogen ebenso wie die Vertreter einer antiautoritären Erziehung immer wieder gerade die Lehre von der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur als Haupthindernis für eine in ihrem Sinne freie Erziehung angeprangert.
Sehr deutlich wurde hier erkannt, dass leitende und lenkende Erziehung eine von dem menschlichen Wesen selbst vorgegebene Notwendigkeit ist, wenn man von der Erbsünde als Tatsache des menschlichen Lebens ausgeht.
Die biblischen Aussagen zur Erziehung
Natürlich ist die Bibel kein pädagogisches Buch. Sie enthält Aussagen zur Erziehung, diese müssen aber immer in ihrem jeweiligen historischen und heilsgeschichtlichen Zusammenhang gesehen werden.
So ist z. B. die Aufforderung an Eltern, ihren ungehorsamen Sohn vor die Ältesten der Stadt zu bringen und ihn zum Tod durch Steinigung verurteilen zu lassen (5Mo 21,18-21) keine Anweisung, die in dieser Form heute zu praktizieren wäre. Beachtet man jedoch den kulturellen und historischen Kontext, dann wird die ganze Sache verständlicher. Wenn ein Sohn sich in gröbster Weise gegen die Autorität seiner Eltern auflehnt, sollen diese den Fall vor die Ältesten der Stadt bringen. Damit wird ein solcher Fall der „Jurisdiktion“ der Eltern entzogen. Anders als in vielen Kulturen4 hatten die Eltern in Israel nicht das Recht, ihre Kinder zu töten, sondern mussten sie vor die Verantwortlichen bringen.
Das Prinzip ist klar und eindeutig: Gott möchte den Gehorsam der Kinder!
Natürlich sollen wir diese Anweisung nicht als Gottes Befehl für den Umgang mit ungehorsamen Söhnen in unserer Zeit und Kultur verstehen. Dagegen steht der völlig andere heilsgeschichtliche Rahmen (wir sind eben nicht mehr eine Theokratie, in der Gott selber Legislative und Judicative ist) und auch der andere kulturelle Hintergrund (es muss nicht mehr einschränkend gesagt werden, dass Eltern nicht das Tötungsrecht über ihre Kinder besitzen). Das in diesen Versen gefundene Prinzip jedoch ist klar und eindeutig: Gott möchte den Gehorsam der Kinder! Dabei geht es nicht darum, dass Kinder niemals ungehorsam sein dürfen. Auch in dem genannten Gesetz wird nicht der manchmal vorkommende Ungehorsam von Kindern bestraft, sondern der beständige, nicht mehr korrigierbare Ungehorsam. Die Frage lautet also, ob die Grundhaltung eines Kindes die Achtung gegenüber seinen Eltern und der Gehorsam ihnen gegenüber ist, oder die Auflehnung gegen ihre Autorität und der prinzipielle und ständige Ungehorsam.
Es geht darum, die biblischen Aussagen zur Erziehung zu betrachten, sie in ihrem geschichtlich-kulturellen und heilsgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen und daraus die entsprechenden Folgerungen für unsere Erziehung zu ziehen. Ich möchte dies nun exemplarisch an der Frage der Autorität in der Erziehung tun.
Autorität in der Erziehung
Wer sich heute drei Bücher über Erziehung kauft, wird mindestens drei verschiedene Ansätze zur Erziehung finden, die mit dem Anspruch auftreten, nur so könne Erziehung wirklich gelingen und gewöhnlich in sich logisch scheinen. Dabei fehlen häufig wirkliche Begründungen. Man hat eher den Eindruck, dass umso fester behauptet wird, je unsicherer man sich ist.
„Antiautoritäre Erziehung hat sich als pädagogische Null-Lösung erwiesen!“
Da gibt es Bücher, die ein „Zurück zur Autorität“ fordern. Interessant ist übrigens, dass in letzter Zeit auch in Medien, die bisher eher autoritätskritisch eingestellt waren, zunehmend andere Töne vernommen werden können. So schreibt Joachim Mohr im Spiegel Special „Kinder, Kinder – Erziehung in der Krise“ (9/1995, S. 22) einen Kommentar unter der Überschrift „Die neuen alten Werte“:
„Die Laissez-faire-Romantik der siebziger Jahre ist gescheitert, die als Nichterziehung missverstandene antiautoritäre Erziehung hat sich als pädagogische Null-Lösung erwiesen – auch an den Lehranstalten. Schüler wollen ernst genommen und gefordert werden, sie erwarten Autorität, an der sie sich reiben und ihre Grenzen ausloten können.
Feste Regeln und Verhaltensnormen gehören zum Schulalltag und werden, wenn sie einsichtig und konsequent praktiziert werden, von Schülern akzeptiert.“
1993 schrieb die Grünen-Abgeordnete Beate Scheffler, 40, Lehrerin, Mutter von drei Kindern und damals jugendpolitische Sprecherin ihrer Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag aus Anlass der Rostocker Krawalle in einer sogenannten „Bilanz-Broschüre“ zur Halbzeit der Legislaturperiode:
„Die Jugendlichen von heute sind unsere Kinder, unsere SchülerInnen, sie sind auch das „Produkt“ unserer Erziehung. Es war unsere Revolte, die viele Wertesysteme hat zusammenbrechen lassen. Waren wir es nicht, die gegen alle Normen angekämpft haben? Wir haben jede Autorität in Frage gestellt, wollten die Familie am liebsten auflösen. Haben wir als Erziehende unseren Kindern nicht zu selten die Chancen zur Auseinandersetzung mit uns gegeben? Wir ließen sie diskutieren, bestimmen und entscheiden. Wir setzten möglichst wenige Grenzen, sprachen ungern Verbote aus, mit denen sich die Kinder hätten auseinandersetzen müssen.“5
Dies bedeutet natürlich nicht, dass man in der Pädagogik nun wieder zu den alten Werten und Normen und einer von Autorität getragenen Erziehung zurück will. Vielmehr wird gewöhnlich mit der Frage der Funktionalität argumentiert. So, wie bisher, funktioniert es nicht mehr. Daher wird nach Wegen gesucht, auf denen Erziehung und Unterricht wieder besser funktionieren.
Andere Bücher sprechen von einer autoritativen Erziehung . Wieder andere verfechten eine demokratisch-partnerschaftliche Erziehung. Und schließlich gibt es da die Riege von Büchern, in denen eine liberale oder freiheitliche Erziehung als die einzig richtige Erziehung angesehen wird. Und zwischen diesen Positionen schließlich finden sich alle möglichen Schattierungen. Welche dieser Formen aber ist eine „christliche“ Erziehung? Alle diese Varianten werden ja auch mehr oder weniger deutlich im evangelikalen Buchmarkt vertreten!
Gott, der Ursprung aller Vaterschaft
Eine Bibelstelle ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig: „Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, von dem jede Vaterschaft im Himmel und auf Erden benannt wird.“ (Eph 3,14f). Es gibt also deshalb Väter, weil Gott der Vater ist! Alle menschliche Autorität ist letztlich nur von Gott her zu definieren, hat ihren Ursprung und ihr Maß in ihm!
Von der Bibel wird Autorität in der Erziehung eindeutig bejaht. Das Modell einer freiheitlichen Erziehung ohne Autorität ist daher klar abzulehnen. Wenn nun Gottes Autorität der Maßstab für Autorität ist, dann gilt es, zunächst einmal nach dieser Autorität Gottes zu fragen.
Gottes Autorität ist barmherzig. Der deutsche Begriff „barmherzig“ gibt sehr gut wieder, was hier gemeint ist: ein Herz mit den Armen zu haben, ein Herz für die Schwächen des anderen.
Was muss ich tun, damit mein Kind sein Fehlverhalten erkennt und zur Besserung kommt?
Auf uns angewandt bedeutet es, dass Eltern Verständnis haben müssen für die Fehler ihrer Kinder. Natürlich heißt das nicht, diese Fehler zu übersehen oder gar zu entschuldigen! Es geht darum, ihnen mit dem Willen zur echten Hilfe und mit der Bereitschaft zur Vergebung zu begegnen. Die Frage darf also nicht lauten: „Wie muss ich das Fehlverhalten meines Kindes sühnen“, sondern: „Was muss ich tun, damit mein Kind sein Fehlverhalten erkennt und zur Besserung kommt?“
Gottes Autorität ist Liebe. Liebe meint jene „Agape“, die im Gegensatz zu „Eros“ (der fordernden Liebe, Sexualität) und „Philia“ (der gegenseitigen Liebe zwischen Freunden) eine gebende Liebe ist, „die Unterschiede macht, die ihren Gegenstand wählt und festhält“, wie es ein theologisches Wörterbuch formuliert.
Es geht um eine Liebe, die einen anderen Menschen an die erste Stelle des eigenen Denkens und Überlegens stellt. Diese Liebe basiert nicht auf Gefühlen oder Sympathie, sondern auf einer bewussten Entscheidung für den anderen. Eltern sollen ihre Kinder mit dieser Liebe lieben. Das bedeutet, dass es ihnen um ihre Kinder und ihr Wohlergehen gehen muss. Ihr Vorwärtskommen muss an erster Stelle aller Überlegungen stehen (nicht das eigene!).
Gottes Autorität ist eine Beziehung. In der Bibel wird für das Verhältnis zwischen Gott und Mensch oft das Bild der Ehe benutzt. Es geht also um ein Vertrauensverhältnis (der Begriff „Glaube“ meint ja das selbe wir „Vertrauen“), um einen Gehorsam, der von gegenseitigem Vertrauen und Liebe getragen ist. Damit aber ist auch der autoritäre Erziehungsstil ausgeschlossen. Wir finden ihn nicht in der Bibel!
Dennoch fordert die Schrift Gehorsam, sie spricht von einem Autoritätsverhältnis zwischen Eltern und Kindern. Von daher ist auch der partnerschaftlich-demokratische Erziehungsstil nicht angemessen, wenn darunter eine Gleichrangigkeit zwischen Eltern und Kindern in Entscheidungssituationen verstanden wird. Eine Gleichwertigkeit aller Menschen wird in der Bibel vorausgesetzt (vor Gott ist kein Ansehen der Person). Das bedeutet aber nicht, dass Autorität ausgeschlossen ist.
Der Mensch braucht besonders in seiner Entwicklung Orientierung und Regeln
Ein Erziehungsverhältnis, das völlig ohne Direktiven, Regeln und Verbote auskommen möchte, ist daher unmöglich. Die Bibel spricht von einem autoritativen Verhältnis, in dem Regeln und Normen vorgegeben werden und Gehorsam ihnen gegenüber erwartet wird. Aber dieser Gehorsam ist nicht das Eigentliche, sondern im Kern geht es immer um eine Beziehung des Vertrauens und der Liebe zwischen Eltern und Kindern. Dabei ist diese Forderung nach Gehorsam nicht einfach nur eine Ordnung Gottes, die eben eingehalten werden muss, vielmehr ist der Mensch daraufhin angelegt, er braucht besonders in seiner Entwicklung Orientierung und Regeln.
Kinder brauchen feste Regeln
Kinder sind noch nicht in der Lage, selbständig bestimmte oberste Grundsätze (also etwa den bekannten Satz: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu“) auf konkrete Situationen anzuwenden und ihr Leben danach auszurichten. Dies erfordert eine Denkleistung, die erst im Laufe der Pubertät gelernt wird! 1995 sagte der Soziologe Oskar Negt, ein 68er, in einem Spiegel-Interview:
„Heute ist die Frage von Imperativen wichtig. Kinder müssen wissen, was man als Eltern billigt und was nicht. … Möglicherweise produziert man mit einer Ablehnung zusätzlichen Widerstand. Aber ich bin sicher, dass in einem Nein oft ein Stück wichtige Anerkennung steckt. Nur so kann man Kindern Strukturen vermitteln. Und in dem Maße, wie Kinder eine Struktur bekommen, entstehen Verhaltenssicherheiten. Das sind auch Entlastungen. Ein Kind kann nicht unter 20 Alternativen wählen.“6
Wenn wir unseren Kindern Grenzen und Richtlinien verweigern, fühlen sie sich alleingelassen und hilflos
Es ist notwendig, Kindern einen Orientierungsrahmen zu bieten, innerhalb dessen sie sich bewegen. Sie brauchen Grenzen und Richtlinien zu ihrer eigenen Orientierung. Wenn wir ihnen diese Grenzen verweigern, fühlen sie sich alleingelassen und hilflos. Oft werden sie in der Folge aggressiv und verhalten sich äußerst unsozial. Jirina Prekop hat dazu ein interssantes Buch mit dem Titel „Der kleine Tyrann“ veröffentlicht. Darin vertritt sie die These, dass Kinder „starke Eltern“ brauchen, die sich ihren Kindern gegenüber auch durchsetzen können. Denn nur bei starken Eltern können sie Schutz und Geborgenheit erleben. Allerdings muss die Stärke der Eltern in eine liebevolle Beziehung zu den Kindern eingebettet sein.
Wenn hier von einem Orientierungsrahmen gesprochen wird, ist natürlich nicht gemeint, dass das gesamte Verhalten reglementiert werden soll. Aber es müssen notwendige Grenzen gezogen und ihre Einhaltung strikt gefordert werden! Im Laufe der Erziehung kann dieser Orientierungsrahmen weiter gesteckt werden, d. h. nach und nach sollte der Freiraum des Kindes erweitert werden. Schritt für Schritt können die einzelnen Regeln durch allgemeine Grundverhaltensweisen ersetzt werden, wenn das Verständnis des Kindes im Laufe der Zeit wächst. Erziehung muss sich also Schritt für Schritt von einer autoritativen Form hin zu einem demokratisch-partnerschaftlicheren Verhältnis entwickeln. Dieser Übergang in die Eigenverantwortlichkeit des Kindes kann aber erst in der Zeit ab etwa 12 bis 13 Jahren schrittweise beginnen.
Strafe in der Erziehung
Strafe ist sicher in jeder Erziehung, die Autorität für notwendig erachtet, unerlässlich. Die Bibel sagt:
„Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald“ (Spr 13,25). „Wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?“ (Hebr 12,7).
Der biblische Begriff sollte besser mit „erziehen“ übersetzt werden, denn er meint weder im AT noch im NT eine Erziehung, die nur mit Strafen auskommt. Vielmehr geht es um den gesamten Bereich der „Erziehung“, der jedoch auch die Strafe mit einschließt. Aus diesen biblischen Aussagen darf jedoch nicht geschlossen werden, dass die Strafe im Sinne der Prügelstrafe als Haupterziehungsmittel gilt. Vielmehr warnt die Bibel:
„Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn!“ (Eph 6,4). „Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht, damit sie nicht mutlos werden!“ (Kol 3,21).
In all diesen Aussagen geht es um eine Erziehung, die das Wohl des Kindes im Auge hat! Autorität ist von Barmherzigkeit und Liebe geprägt und muss in eine Beziehung des Vertrauens eingebettet sein. Strafe wird dabei bejaht, aber sie ist nur eine unter vielen Möglichkeiten, sie ist die letzte Konsequenz der Erziehung.
Eine Autorität, die prinzipiell auf Strafe verzichtet, ist keine Autorität! Eine Autorität aber, die Strafe als eigentliches Erziehungsmittel ansieht, ist ebenfalls nicht Autorität im Sinn der Bibel, sondern bestenfalls Gewalt.
Strafe muss am Wohl des Kindes orientiert sein, nicht an der Wut des Erziehers
Strafe ist also einerseits notwendig. Aber sie muss an dem Wohl des Kindes orientiert sein, nicht an der Wut des Erziehers. Der Kieler Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Schröter schreibt: „Strafen, die nicht auf der Basis der Liebe geschehen, sind unpädagogisch.“7
Warum strafen eigentlich Eltern? Hier können nach Schröter viele Gründe angeführt werden:
- Weil sie in den eigenen Plänen gestört sind
- Weil sie beleidigt sind
- Weil sie bequem sind (oft ist dies aber auch der Grund dafür, dass nicht gestraft, sondern dem Willen des Kindes nachgegeben wird!)
- Weil sie phantasielos sind
- Weil sie getroffen sind
Alle diese Gründe sind nicht von der Bibel abgedeckt. Nur ein einziger Grund kann von der Bibel her wirklich bestehen:
- Weil Strafe für die Kinder wirklich not-wendig ist, weil sie die Not der Kinder wendet, indem sie zur Neuorientierung verhilft.
Schröter nennt vier Stufen:
- Kopfschütteln,
- Geste des Missfallens,
- Streichung von Vergünstigungen wie Zoobesuch oder Taschengeld, wobei dies nur in Ausnahmefällen geschehen sollte und
- der Klaps als pädagogischer Extremfall.
Wenn Strafe in der Erziehung sein muss, dann sollte sie sinnvoll und bewusst eingesetzt werden und möglichst nicht im Affekt geschehen. Strafe in diesem Sinne ist nicht „Gewalt“ gegen Kinder, sondern notwendige Konsequenz einer Autoritätsforderung, die für die gesamte Entwicklung des Kindes wichtig ist.
Zusammenfassung
Unsere Aufgabe ist es, immer wieder neu nach der geforderten und notwendigen Aktualisierung der biblischen Aussagen zur Erziehung zu fragen und zugleich Wege zur Umsetzung dieser Aussagen in der Praxis des Erziehungsalltages zu suchen. Gott selber kann und will uns dabei helfen, denn ihm liegt die Erziehung unserer Kinder noch mehr am Herzen als uns selbst.
Wie können wir denn leben, S. 204. ↩
Weber 1986, 242. ↩
Hes 11,19; (vgl. 36,26). ↩
Sowohl in Rom als auch in Griechenland hatte der Vater bis in das 4. Jahrhundert hinein das Recht, sein Kind zu töten. ↩
Spiegel, 4, 25.1.1993, S. 41-45. ↩
Spiegel, 9, 27.2.1995, S. 46-47. ↩
Erziehen Christen anders? S. 36 ↩