Seit einigen Jahren lese ich Bibel und Gemeinde und somit auch Ihre Beiträge. Nun gibt es da eine Frage, die mich schon seit einiger Zeit beschäftigt und auf die ich mir eine Antwort von Ihnen erhoffe. In vier verschiedenen Büchern habe ich eine andere Übersetzungsmöglichkeit von Mt 19,24 gelesen (statt Kamel … ein Seil …). Da ich die Schrift der zu Grunde liegenden Manuskripte in der Originalsprache nicht lesen/übersetzen kann, ist es mir nicht möglich dies nachzuprüfen. Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass hier eigentlich stehen müsste, dass es um die Schwierigkeit geht, ein Seil durch ein Nadelöhr für die Reparatur (eines Fischer-) Netzes zu fädeln statt des bekannten Textes mit dem Kamel, dann verstehe ich es als Laie nicht, warum man zumindest in den modernen Übersetzungen dies nicht ändert oder durch Anmerkungen deutlich macht. Denn auch die Fehlübersetzung des „gehörnten“ Mose wurde revidiert, nachdem klar wurde, dass dies nicht so in den vorhandenen ältesten Texten steht, sondern eben das uns nun bekannte „glänzende Angesicht“ des Mose.
Ich freue mich über diese interessante Frage, die den seit Jahren aufmerksamen Bibelleser zeigt. Aber zur Antwort:
- Es gibt in der Textkritik, also der Wissenschaft, die den ursprünglichen Text einer alten Urkunde aus Abschriften rekonstruieren will, einen wesentlichen Unterschied in der Beurteilung eines Sachverhaltes. Der Unterschied wird dadurch festgelegt, ob es alte Handschriften gibt, die Textvarianten bieten oder ob es solche Handschriften nicht gibt und eine Textänderung allein aus dem Verständnis des Textes oder der Unverständlichkeit der gegebenen Wörter motiviert ist.
Bei der Sache mit Moses Hörnern ist es so, dass man die Hörner solange aus Respekt vor dem lateinischen Text akzeptierte, bis das bessere Verständnis des Hebräischen zeigte, dass die Hörner ein eindeutiger Schreib- bzw. Lesefehler (heb. qärän statt qaran) waren; oder vielleicht auch ein Übersetzungsfehler oder Abschreibfehler in der lateinischen Vulgata (lat. cornuta statt coronata). Allerdings hatte schon Thomas von Aquino (1225-1274) auf den Fehler hingewiesen, wurde aber nicht gehört. Weil die Vulgata einen ziemlichen Einfluss hatte, hatte das zur Folge, dass Mose auf vielen Gemälden mit Hörnern dargestellt wurde. Erst im 16. Jahrundert wurden die Darstellungen von Moses mit Hörnern kirchlich verboten.
Dass Übersetzungsfehler eine ziemliche Auswirkung haben können, das zeigt die feste Überzeugung Jesus sei ein Zimmermann gewesen, wobei man sich dabei meist den heutigen Zimmermann vorstellt. „Bauarbeiter“ wäre aber wohl eine passendere Übersetzung.Wenn es keine Textvarianten gibt, und der Text nur weil es sinnvoll erscheint, trotzdem geändert wird, dann nennt man das Konjektur. Dabei wird allein aufgrund einer Vermutung, dass an der Stelle ein Fehler vorliegen könnte, geändert. Das ist manchmal sinnvoll, wenn der vorhandene Text völlig unverständlich ist und durch eine kleine Änderung verständlich wird. Allerdings ist das die absolute Ausnahme.
Eine Zeitlang hat man in der Textkritik aber ganz gern Konjekturen eingesetzt, um den Text zu „verbessern“, allerdings ist man heute weitgehend davon wieder abgegangen, weil es eben nur willkürliche Vermutungen sind. Darum wird auch in keiner neuen Übersetzung das Kamel durch ein Tau ersetzt, weil es nur eine mittelalterliche Konjektur gibt, die in ganz wenige relativ junge Handschriften eingeflossen ist (aus dem 13. Jahrhundert). Ein Rückgriff auf Vermutungen, die das Aramäische betreffen, ist in diesem Fall noch willkürlicher. - Tatsächlich ist das Sprachbild „ein Kamel durch ein Nadelöhr“ sehr ungewöhnlich und findet sich in der aramäischen, hebräischen oder griechischen Sprache sonst nicht. Es ist allein in der Bibel überliefert. Es ist außerdem von seiner Vorstellbarkeit her schwierig. Wer wollte denn überhaupt versuchen, ein Kamel durch ein Nadelöhr zu zwängen. Insbesondere dieses zweite Problem hat dazu geführt, zu hinterfragen, ob das Sprachbild ursprünglich ist oder auf einen Schreibfehler zurückgeht. Dass einer einen zu dicken Faden durch ein Nadelöhr zu ziehen versucht, was aber nicht geht, das kann man sich vorstellen. Und so wird aus der Tatsache, dass der reiche Jüngling ja ins Himmelreich wollte, der Schluss gezogen, dass das Bild vom Kamel durch das Nadelöhr nicht stimmt. Allerdings gilt das Gleiche für die Lösung „ein Tau durch ein Nadelöhr“. Wer wollte das versuchen, oder hat es schon versucht?
Außerdem hatte Jesus den Pharisäern auch vorgeworfen, sie siebten Mücken aus, aber verschluckten Kamele (Mt 23,24). Das ist in seiner Dimension ebenso unvorstellbar. Ich hinterfrage also auch das Motiv zur Textänderung, mit der man den Text und das Verständnis verbessern möchte.
- Schließlich ist das ungewöhnliche Sprachbild den Menschen, die näher dran waren als wir, also den frühen Abschreibern, nicht aufgestoßen, sonst hätten wir verschiedene Textvarianten. Denn wenn ein Kopist das Bild für so unwahrscheinlich gehalten hätte, wie manche Exegeten heute, dann hätte bereits er geändert und weil ihm vielleicht noch das „tatsächliche“ Wortbild bekannt war, wäre es ihm auch leicht gefallen. Aber es gibt keine solchen Textvarianten in den über 100 sehr alten Manuskripten.
- Was Jesus mit dem Bild sagen will, ist absolut klar. Warum sollte er in dem Bild nicht maßlos übertrieben haben, um die Unmöglichkeit der Errettung eines Reichen zu verdeutlichen. Das Sprachbild funktioniert doch sehr gut. Aus all dem ergibt sich, dass wir den Text nicht ändern sollten. Die Argumente dafür reichen einfach nicht aus. Jede Änderung wäre letztlich willkürlich.
Lesen Sie einen weiteren Beitrag zur Frage nach dem Kamel und dem Nadelöhr.