LiteraturBuchbesprechungen

Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?

Der Arzt und katholische Theologe Manfred Lütz hat einen der prominentesten Psychotherapeuten der Gegenwart in seinem New Yorker Domizil getroffen und insgesamt 22 Stunden lang interviewt. Die Fragen und Antworten wurden abgetippt und im vorliegenden Buch publiziert.

Otto Kernberg wurde 1928 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren, flüchtete 1939 mit seinen Eltern vor den Nazis über Italien nach Chile, studierte dort Medizin und ging später in die USA, wo er viele Jahre als Professor für Psychiatrie und als Psychoanalytiker wirkte. Sein Forschungsgebiet sind vor allem Borderline- und narzisstische Krankheitsbilder.

Lütz ist überrascht und zugleich bewegt, wie offen Kernberg über seine Kindheit in Österreich mit antisemitischen Erfahrungen, die Flucht nach Chile und seine Tätigkeit als Psychotherapeut berichtet. So ganz nebenbei erfährt der Leser, was psychische Krankheiten sind und welche Therapien als sinnvoll gelten. Unter den zahlreichen psychotherapeutischen Richtungen sind die beiden bedeutendsten die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie. Kernberg erklärt allgemeinverständlich beide Therapieverfahren und erzählt immer wieder interessante Beispiele aus seinem Behandlungszimmer. Natürlich geht es bei einem Gespräch mit einem Psychotherapeuten auch um die Fragen nach Sex und Liebe. Kernberg lehnt die „Glas-Wasser-Theorie“ ab, nach der Sex nur ein Bedürfnis ist wie Hunger oder Durst, das man stillen dürfe, mit wem auch immer man wolle. Vielmehr ist für Kernberg die Unfähigkeit, Zärtlichkeit und Sex zu verbinden, „ein typisches neurotisches … Problem, das behandelt werden muss.“ (S. 175)

Lütz, Manfred: Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten. München: Penguin Verlag 2024. 192 S. Pb: 14 €. ISBN: 978-3-328-11105-4

Doch im Buch geht es keineswegs nur um Psychotherapie. Lütz stellt seinem Gegenüber grundlegende metaphysische Fragen. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Existiert Gott? Was ist der Sinn des Lebens? Kernberg ist Jude, aber alles andere als orthodox. Die religiöse Praxis seiner Eltern hat er nur als „formal, ritualistisch, traditionell, abergläubisch“ (S. 115) kennengelernt. Er selbst war in seinen jungen Jahren Atheist, neigt mit zunehmendem Alter jedoch dazu, an die Existenz Gottes zu glauben, aber eine persönliche Glaubensbeziehung zu Gott kennt er nicht. Der Sinn des Lebens ist für ihn nicht, an Gott zu glauben und ihm zu dienen, sondern „arbeiten und lieben“. (S. 186) Und so hat er sich nach dem Tod seiner ersten Frau nochmal verliebt und 2007 – mit knapp 80 Jahren – erneut geheiratet und arbeitet auch als über 90-Jähriger noch in seiner New Yorker Praxis.

Das Buch ist unterhaltsam und verständlich geschrieben. Es zeichnet das Bild eines säkularen jüdischen Wissenschaftlers, der sich zwar irgendwie noch mit seiner Religion verbunden weiß, doch im Alltag so gut wie keine Berührungen mehr mit ihr hat. Christlichen Glaubensinhalten, die Manfred Lütz in seinen Beiträgen einfließen lässt, begegnet Kernberg mit Respekt, kann aber nicht viel damit anfangen.