Die besondere Herausforderung, die in der Auslegung der Propheten des Alten Testaments liegt, ist nicht neu. Bereits der Kirchenvater Hieronymus (348-420) fragte: „Reden wir von Jesaja, Jeremia, Hesekiel und Daniel, wer kann sie völlig verstehen und sie richtig erklären?“ Auch wenn die Heilige Schrift an sich klar redet, heißt das doch zuerst, dass ihre zentrale Botschaft der Rettung durch Christus so klar ist, dass selbst ein Kind sie verstehen kann, aber nicht, dass alle Teile genauso leicht verständlich sind (vgl. 2Pet 3,16). In 4Mo 12,6-8 stellt Gott selbst die Prophetie als ein in Teilen herausforderndes Element der Bibel dar, weil die Propheten auch in „Visionen, Träumen und Rätselworten“ sprechen können. An dieser Stelle steht das im Kontrast zu der Botschaft durch Mose, dessen Worte klar sind. Aber natürlich sind die prophetischen Bücher der Bibel genauso Teil der ganzen Heiligen Schrift, die „nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit“ ist (2Tim 3,16).
Mose als Modellprophet
Das Amt des Propheten hat sein Vorbild aber in Mose selbst. Die anderen Völker rund um Israel praktizierten Wahrsagerei und damit verwandte Praktiken, um zu erfahren, was ihre Götter „wollten“, obwohl die kein wirkliches Interesse an den Menschen hatten (5Mo 18,9-14). Der wahre Gott freute sich aber, mit seinem Volk zu sprechen. Das tat er allerdings durch ausgesuchte Mittler, genau wie es bei Mose am Berg Sinai der Fall war (5Mo 18,15-18). Er wollte ihnen sein eigenes Wort in ihren Mund legen, damit die wahren Propheten so redeten, dass sie Gottes Worte aussprachen.
Am Sinai hat Gott dann sein Gesetz für sein Volk erklärt, das zu einem Bund mit Segen und Fluch gehört (vgl. 3Mo 26; 5Mo 28). Würden die Israeliten den weisen Geboten Gottes folgen, der Torah des Herrn, dann wollte er sicherstellen, dass es in ihrem Leben gut laufen würde. Sollten sie rebellieren und ihm untreu werden, dann würde der Fluch auf sie kommen, der im Bund enthalten war. Der Segen enthielt sowohl Fruchtbarkeit für die Arbeit auf dem Acker als auch militärischen Erfolg gegen die Feinde. Dagegen kündigte der Fluch Missernten und militärische Niederlagen an, die im Verlust des Landes münden würden, das Gott ihnen versprochen hatte. Die Segnungen Gottes waren aber nicht nur zeitlich gemeint, sondern enthielten bereits einen Hinweis auf die himmlische Heimat, die für das Volk in Zukunft bei Gott vorbereitet war.
Diese Mittler des Bundes sprachen also für Gott. Die Propheten waren dann beauftragt, Israel und Juda mit ihrem Versagen zu konfrontieren, wenn es um den Bund mit Gott ging. Sie sollten sie zur Umkehr zurück zu Gott bewegen. Die Ermahnung waren aber nicht einfach zeitlose Aufrufe an die Menschen, sich an universelle Werte von Recht und Gerechtigkeit zu halten. Vielmehr verhielten sich die Propheten wie Ankläger, die das Volk Israel mit den speziellen Vertragsbrüchen gegen den Bund Gottes konfrontierten. Insofern waren es nicht allein Sünden gegen ihre Nächsten, sondern ein geistlicher Ehebruch gegen den Gott Israels, ihren göttlichen Ehemann (vgl. Hes 16; Hos 1-3).
Trotz der andauernden Geschichte des Ungehorsams und der Sünde hat Gott nicht sofort all die Flüche des Bundes über sein rebellisches Volk ergehen lassen. Vielmehr hat er wiederholt Propheten gesandt und sein Volk gebeten, von ihrem bösen Weg durch Buße und Umkehr zu ihm zu lassen (vgl Jes 1,18-20; Mal 3,7). Wieder und wieder haben die Propheten Gottes Barmherzigkeit mit seinem Volk verkündet, aber sie auch ernsthaft vor den unausweichlichen Konsequenzen gewarnt, die ihr Ungehorsam haben muss. So wird das etwa in 2Chr 36,15-16 ausgedrückt:
Immer wieder hatte Jahwe, der Gott ihrer Väter, seine Boten zu ihnen geschickt, denn sein Volk und seine Wohnung taten ihm leid. Aber sie verhöhnten die Boten Gottes, verachteten seine Worte und verspotteten seine Propheten, bis der Zorn Jahwes über sein Volk so groß wurde, dass es keine Rettung mehr gab.
Die prophetische Aufgabe als Ankläger des Bundes mit Gott wird in ausführlichen Abschnitten der prophetischen Bücher deutlich. Die Propheten waren nicht in erster Linie Sozialkritiker, wie manchmal behauptet wird, sondern sie wiesen das Volk zurecht, weil sie die Gebote des Sinaibundes nicht einhielten. Sie warnten vor dem Zorn Gottes, der deswegen über sie kommen würde. Bei den früheren Propheten ist der Versuch, Buße und Umkehr zu bewirken, stärker im Vordergrund, weil es noch aussichtsreicher war, dass das drohende Gericht abgewendet werden könnte. Das Buch Jona berichtet, wie sogar eine große heidnische Stadt durch den Propheten mit Gottes Wort zur Umkehr bewegt werden konnte. Als die Strafe des Exils kam, warnten Jeremia und Hesekiel vor der Zerstörung, die doch nicht mehr abgewendet werden konnte. Aber das Volk sollte die klaren Gründe dafür hören, dass ihr Gott sich von Jerusalem und von seinem Tempel abwandte, wo doch sein Name geehrt werden sollte. Doch tatsächlich regierten immer wieder nur der Götzendienst und die Unterdrückung der Armen und Schwachen.
Der Herr kommt zur Heilung und zur Rettung
Die prophetischen Worte von Gott waren nie nur Worte des Gerichtes oder Aufforderungen zu Buße und Umkehr zu ihm. Die Propheten hatten auch eine Botschaft der Hoffnung jenseits des Gerichtes. Um seiner eigenen Ehre willen, will Gott sein Volk wieder herstellen und in das Land zurückbringen, dass er den Vätern versprochen hatte (Hes 36,22-24). Er will ihre Herzen aus Stein wegnehmen und sie durch Herzen aus Fleisch ersetzen (25-28). Er will sie reinigen, wie in einem Läuterungsprozess, in dem alle Schlacke weggeschmolzen wird und nur das Silber bleibt (Mal 3,2-4). Ein Rest des Volkes soll heimkehren und sich wieder an Gottes Segnungen erfreuen können.
So unausweichlich wie die Zerstörung wegen der Sünde soll auch die positive Zukunft für Israel kommen. Denn es ist Gottes Absicht, ein heiliges Volk für sich zu haben, und seine Ziele können niemals verhindert werden. Die Rettung wird allein aus der Gnade Gottes kommen und nicht aus den guten Taten. Anders als der Bund vom Sinai, dessen Segnungen daran hingen, dass das Prinzip erfüllt wird „Tu das, so wirst du leben“ (5Mo 4,1), wird der neue Bund, den Gott mit seinem Volk schließt, seine Barmherzigkeit und Gnade beweisen, indem Gott den Sündern neues Leben schenkt. Durch das Gericht der Zerstörung Jerusalems und das Exil in Babel hindurch, wird der Gerechte nun aus Glauben leben (Hab 2,4). Er wird darauf vertrauen, dass Gott ihm die neue Gerechtigkeit einpflanzt (Sach 3,1-10). Dann wird Gott selbst ihr Hirte werden (Jes 40,10-11; Hes 34,23-24). Aus der Linie Davids wird ein ganz neuer Zweig wachsen. Das wird der Sohn Davids sein, auf den das Volk lange gewartet hatte (Jes 11,1-6; Jer 23,5; Sach 3,8). Der wahre Knecht Gottes wird den Auftrag erfüllen, den das Volk Israels nicht annahm, und ein Licht für die Heiden werden (Jes 49,6). Er wird die Sünden seines Volks in seinem eigenen Leiden tragen (Jes 52,13-53,12).
Die Abschnitte unterstreichen die Tatsache, dass die zentrale Botschaft der Propheten nicht allein die Zurechtweisung des Sünders ist und das Angebot einer Hoffnung für diejenigen, die zum Gehorsam zurückkehren. Die zentrale Botschaft ist das Leiden des Christus und die Herrlichkeit, die dem folgen soll (Lk 23,44-47). Er ist das neue Israel, der treue Diener des Herrn, der die Forderungen vom Sinai perfekt erfüllt hat und damit auch die Verheißung zum Leben verdient hat, die daran hängt (Gal 4,4-5). Christus ist der eine, dessen Tod die Ungerechtigkeit des Landes an einem einzigen Tag wegnehmen wird (Sach 3,9). Jeder, der durch den Glauben daran teilhat, ist verbunden mit dem erlösten Volk, dem neuen Israel, die Abrahams Kinder dadurch sind, dass sie mit dem gleichen Glauben wie er glauben (Röm 4,9-12). Mit dem Kommen von Christus in diese Welt und der Erfüllung seines Auftrages geht jetzt die gute Botschaft des Evangeliums nicht nur an Jerusalem und Judäa (Jes 40), sondern auch an alle Völker und bis an das Ende der Welt (vgl. Jes 45,22; Mal 1,5).
Die Auslegung der Propheten für heute
Wenn wir uns nun einen Überblick über die Aufgabe der Propheten verschafft haben, ist die Frage, wie wir diese Botschaft in unserer Zeit auslegen sollen, die sich in der Heilsgeschichte unterscheidet, weil wir nach dem Tod und der Auferstehung und der Himmelfahrt von Jesus Christus leben. Wir sollten uns daran erinnern, dass diese Botschaft auch zu uns heute spricht, obwohl sie sich zuerst an unterschiedliche Völker zu anderen Zeiten wendete. Die Anklage der Propheten an ihre Zeitgenossen kann uns natürlich auch in unseren Sünden treffen. Auch wenn das Gesetz vom Sinai durch Jesus Christus vollständig erfüllt ist, bleibt es doch ein andauernder Ausdruck von Gottes Weisheit und seinem heiligen Charakter. Als Christen haben wir mit bestimmten Formen von Götzendienst in unserem Herzen zu kämpfen. Das ist sehr ähnlich dem Götzendienst des alttestamentlichen Israels und braucht regelmäßige Umkehr.
Genauso wie das alttestamentliche Israel von den Propheten aufgerufen wurde, Buße zu tun, im Glauben auf Gott zu schauen und auf die Sühne der Opfer zu hoffen, die Gott als Vorschattung für die Erfüllung in Christus gab, sollen wir auf diese Erfüllung in Christus hoffen. Sein gerechtes Handeln wird uns anstelle unseres eigenen Versagens angerechnet, weil sein sühnender Tod am Kreuz alle unsere Sünden abwäscht. Auch das Alte Testament hatte schon Anteil an der Herrlichkeit, die für uns bestimmt war (vgl. Lk 24; Röm 8). So sollen wir ermutigt werden durch die Visionen der Propheten von einer herrlichen Zukunft, in der jeder seinen Nächsten „unter seinen Weinstock und seinen Feigenbaum“ einladen wird (Sach 3,10). Diese Vorhersagen waren nicht auf die körperlichen Nachkommen Abrahams beschränkt. Die Propheten haben schon den Tag vorhergesehen, an dem Menschen aus allen Sprachen sich zu den Juden stellen würden, weil sie mit ihnen auf dem Weg Gottes sein wollen. Denn sie haben gehört, dass Gott mit den Juden ist (Sach 8,23). Sogar Sodom und Samaria, die Bilder für sexuelle und religiöse Untreue, sollen zusammen mit Jerusalem Gottes neues Volk bilden, vereint unter derselben Gnade, die die Völker genauso wie Israel braucht (Hes 16,53-63).
Israel lebte selbst auch schon in einer „schon jetzt und noch nicht“ Situation, insbesondere in der Periode nach dem Exil. Sie hatten vieles, für das sie dankbar sein konnten, denn Gott hatte sie in das versprochene Land zurückgebracht aufgrund seiner absoluten Treue (Mal 3,6). Aber zugleich lebten die Israeliten in einer Welt, die frustrieren konnte und oft enttäuschte. Sie brauchten weiter die Ermutigung durch die Propheten zu ausdauernder Hoffnung (Hag 2,3-9). Als Christen geht es uns in dieser Hinsicht genauso, während wir zwischen dem ersten und zweiten Kommen von Jesus Christus leben. Einige Dinge, nach denen sich die Propheten sehnten, sind erfüllt (z.B. Micha 5,2; Mal 4,5), während wir auf anderes weiter warten bis zur Vollendung am Tag des Herrn, wenn Gott endgültig die Spreu vom Weizen trennen wird (Mal 4,1-3).
Wenn wir erwarten, dass die Propheten des Alten Bundes uns einen genauen Fahrplan für die Ereignisse liefern, die bis zum Kommen von Christus noch geschehen sollen, dann werden wir enttäuscht sein. Oder wir müssen den alttestamentlichen Prophetien Gewalt antun, damit sie etwas aussagen, was sie nie sollten. Die Propheten sprachen manchmal in Träumen, Visionen und Rätselworten (vgl. 4Mo 12,6-8). Das wird uns auch klar, wenn wir die erfüllten Prophetien über das erste Kommen von Christus mit den tatsächlichen Ereignissen vergleichen. Manche Prophetien waren einfach und klar zu verstehen, wie z.B. Micha 5,2 mit seiner Ankündigung der Geburt des Messias in Bethlehem. Aber die Mehrzahl blieb doch rätselhaft bis zur Erfüllung. Man stelle sich nur eine „Prophetenkonferenz“ im Jahr 100 v.Chr. vor, bei der wir Überlegungen lauschen würden über eine Geburt von einer Jungfrau im Anschluss an Jesaja 7,14. Oder was würden die Propheten wohl zu Psalm 16,10-11 sagen, was andeutet, dass der Messias sterben würde und wieder auferstehen? Oder wie ist es mit Jesaja 40? Dort gehört die Wüste zu dem Ort, an dem der Vorläufer des Messias sein Kommen vorbereitet. Aber tatsächlich hat Johannes der Täufer das erfüllt, indem er predigte (vgl. Mk 1,3 mit Jes 40,3). Wir sollten also vorsichtig und bescheiden bleiben, wenn wir Überlegungen anstellen, wie sich die offenen Prophetien bis zum zweiten Kommen Christi erfüllen werden. Einige Dinge über das Kommen erscheinen ganz klar, aber andere Prophetien werden wir wohl erst richtig verstehen, wenn wir ihre Erfüllung in der Rückschau vom Himmel aus sehen.
In der Zwischenzeit, in der wir auf die Wiederkunft Christi vom Himmel her warten und auf die Erfüllung aller ausstehenden Prophetien, könnten uns die Propheten das Warten lehren. Maleachi erinnert uns an Moses und Elia (4,4-5). Die beiden Repräsentanten der Zeit des Gesetzes und der Zeit der Propheten stärken uns darin, dass wir ein Leben im Glauben und in der Treue führen, in dem wir unsere Sünden erkennen und bekennen, Gott fürchten, lieben und ihm gern dienen und ganz auf die Erlösung durch Christus vertrauen. In dieser Haltung erwarten wir die Herrlichkeit, die jene vorhersahen, wenn Christus uns willkommen heißen wird in seiner Gegenwart in Ewigkeit.
Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Ligonier Ministries