Wenn sich die Evangelische Allianz in Deutschland in ihrer neusten Ausgabe der Zeitschrift „EINS“1 dem Thema „Orientierung durch sein Reden“ annimmt, dann geht es nicht um das, was die Bibel wiederholt als das Reden Gottes bezeichnet: sein geschriebenes Wort, das auslegend verkündet wird (z.B. überall in der Apostelgeschichte 4,31; 6,2.7; 8,14; 11,1; 12,24; 13,5.7.44.46; 17,13; 18,11). Es geht vielmehr einerseits um „Eindrücke“ oder „Impulse“, die Glaubende empfinden und darin Gottes Reden zu erkennen suchen, und andererseits um eine Deutung von geschichtlichen Entwicklungen, die die Kirchen betreffen. Man will „gemeinsam Gottes Impulsen nachspüren“.
Obwohl Reinhardt Schink als Vorstand bei diesem Thema „erschrak“ und dachte, dass man damit „nur scheitern“ könne, hielt er es mit anderen doch für „so essenziell wichtig, dass wir beschlossen, das Experiment zu wagen“ (5). Bezeichnend ist in seinem Vorwort bereits sein Bezug auf die Begegnung des auferstandenen Jesus mit den sogenannten Emmaus-Jüngern: „Wie sie, erklären auch wir IHM häufig den Zustand der Welt und seiner Kirche. Aber schaffen wir es dann auch, wie sie, auf IHN zu hören?“ Dann aber folgt kein Hinweis darauf, dass Jesus seinen Jüngern auslegte, was bei Mose, den Propheten und in den anderen Schriften von den Ereignissen seines Kommens, seines Sterbens und Auferstehens gesagt wird (Lk 24). Es sind vielmehr „Impulse, Bilder und Eindrücke“, die verschiedene Personen der Gegenwart hatten und die nun für die „Kirche“ ermutigend sind, weil sie nicht nur negative Entwicklungen sehen. Das alles seien „mutmachende Erfahrungen“.
Reinhardt Schink fragt seine Leser auch direkt: „Wo nehmen Sie Gottes Reden für unsere Zeit wahr?“ Die Antwort, die ich geben will, lautet: „Gott redet für unsere Zeit – wie für alle Zeiten – mit seinem ewigen Wort, das wir in der Bibel lesen können.“ Schink fragt sich, „welche Richtungsanweisung ER uns gibt“ und behauptet, die könne „zu unterschiedlichen Zeiten sehr verschieden lauten“. Was das aber bedeuten soll, bleibt im Ungefähren, denn es geht bei ihm um ziemlich schwammige „Impulse, Bilder und Eindrücke“, die man auch noch irgendwie prüfen muss, und eben nicht um Gottes klare Worte.
Den programmatischen Grundsatzartikel, wie wir nun bei den „Impulsen, Bildern und Eindrücken“ „Gottes Stimme hören, verstehen und danach handeln“ können, schreibt Gerhard Proß und verweist hier besonders auf „seine Erfahrungen“.2 Er beruft sich für seine Art der Auslegung von inneren Eindrücken zwar auf das prophetische Reden, von dem im Neuen Testament die Rede ist. Aber es scheint ihm nicht aufzufallen, dass es sich dabei an allen Stellen nicht um innere „Impulse“ handelte, sondern durchweg entweder um den Sonderfall, dass Gott direkt zu einer Person spricht oder um die geistgeleitete Anwendung von Gottes geschriebenem Wort auf konkrete Situationen. Proß behauptet dagegen, dass „prophetisch begabte Menschen“ erlebten, „dass manchmal vor ihrem inneren Auge ein Bild entsteht, ein Bibelwort auftaucht oder sie hören bestimmte Worte in ihren Gedanken“ (7). Angeblich gelten 1Thess 5,20-21 und 1Kor 14,1 dafür und man solle sich darum bemühen, so etwas zu erleben. Proß kann von sich selbst sagen: „Mein Leben ist geprägt vom Hören auf die Stimme Gottes.“ Und damit meint er offenbar nicht, dass er die Bibel liest und was er da liest, auf sein Leben und das Leben der Gemeinde anwendet.
Gerhard Proß nennt 6 Beispiele für diese angebliche Stimme Gottes, die er unter die Überschrift stellt „Hören, was der Geist den Gemeinden sagt“. Dabei deutet er „gemeinsame Hörprozesse“ an, die in verschiedenen Gremien stattfinden, an denen er teilnimmt. Dabei sind „Verantwortliche“ oder Leiter von Werken zusammen, die gemeinsam darauf warten, dass sie „Impulse, Bilder oder Eindrücke“ wahrnehmen. Der erste genannte „Impuls“ aus dem Jahr 2017 ist eine Selbstbestätigung: Gott habe ihnen gesagt, dass sie genau das tun sollen, nämlich zusammenkommen und gemeinsam auf Gott hören, „bevor die Erschütterungen kommen“. Die Versammlung ist davon „elektrisiert“ und versteht das so, dass sie möglichst viele christliche Leiter zu ihren Hörprozessen einladen sollen, um „die Verantwortlichen zusammenzuführen und der Zersplitterung zu wehren“. Die Erschütterungen seien dann die Corona-Pandemie 2020-21 und der Ukraine-Krieg ab 2022 gewesen. Tatsächlich muss man heute sagen, dass Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg zu Streit und Zersplitterung in christlichen Gemeinden geführt haben. Bei genauer Betrachtung waren es aber nicht die gesellschaftlichen Fragen und Krisen, sondern die unangemessene politische Positionierung in diesen Fragen, die an die Stelle der Konzentration auf den biblisch-christlichen Auftrag der Gemeinde getreten ist. Wer von der „Vorhersage“ der „Erschütterungen“ beeindruckt ist, dem kann ich für die nächsten 5 Jahre auch Erschütterungen vorhersagen. Die werden nämlich bestimmt eintreten, so wie es immer gewesen ist, seien es Wirtschaftskrisen, Skandale, Naturkatastrophen oder sonst etwas.
Wenn ich davon ausgehe, dass christliche Leiter mehr als drei Jahre in „Hörprozessen“ auf das Reden des Heiligen Geistes verbracht haben und dann an Wegweisung während der Corona-Krise kaum etwas Vernünftiges aus diesem Kreis zu hören war, dann müsste ich entweder vom Heiligen Geist enttäuscht sein oder von der Schwerhörigkeit dieser Leiter ausgehen. In seinem fünften Beispiel bestätigt Proß das selber. Angeblich habe der Heilige Geist nach Ausbruch der Pandemie gesagt, „dass Verwirrung und Durcheinander kommen werden“ und so sei es auch gekommen. Sein Trost: Manchen war diese Ankündigung doch eine Hilfe, „Verwirrung, Durcheinander und Spaltung keinen Raum zu geben“. Ist das nicht selbstverständliche Verantwortung für jeden, der Gemeinde leitet? Wenn der Heilige Geist denn schon zur Sache spricht, warum hat er dann nicht klar gesagt, wie man sich verhalten soll, als durchweg Verunsicherung angesichts von staatlichen Gottesdienst- und Seelsorgeverboten und zahlreichen Einschränkungen aufkam? Die erzählten Beispiele sind geeignet, dem Heiligen Geist die Ehre zu rauben, indem man ihn entweder Selbstverständlichkeiten sagen lässt, die lange durch den Geist in der Bibel stehen, oder Aussagen in den Mund legt, die völlig ohne Wegweisung bleiben.
Drei Beispiele von „Impulsen“ beziehen sich auf die Krise der Kirche. Mitgliederschwund und gesellschaftlicher Bedeutungsverlust machen „uns wirklich betroffen“. Mehrfach hören die geistlichen Leiter ab 2019 nun „Macht euch keine Sorgen über den Zerbruch, das Ärmer- und Bedeutungsloser-Werden der Kirche. Gott wird Neues schaffen!“ Dabei wird noch Jes 43,18 zitiert und völlig ohne biblischen Zusammenhang so ausgelegt, dass die Kirche zwar „ärmer und bedeutungsloser“ wird, aber sie doch irgendwie „durch seinen Geist erneuert“ wird. Dazu aber ist offenbar ein dritter Impuls ergänzend notwendig. Denn der Heilige Geist „drängt“ dazu, dass man ihn bitten soll, zu kommen, konkret solle man „ein Jahr lang um den Heiligen Geist beten“. Dass es bei denen, die dauernd „Impulse, Bilder und Eindrücke“ vom Heiligen Geist erhalten, zugleich am Heiligen Geist zu mangeln scheint, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Dass es bei denen, die dauernd „Impulse“ vom Heiligen Geist erhalten, zugleich am Heiligen Geist zu mangeln scheint, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Wahrscheinlich steckt aber noch etwas anderes dahinter: Man erwartet vom Heiligen Geist, dass er neue große Aufbrüche schenkt, Erweckungen stattfinden und so die Christen an gesellschaftlichem Ansehen und Einfluss gewinnen.3 Tatsächlich aber ist es erschreckend, an welch schwachen inneren Eindrücken sich diese Leiter aufrichten wollen, während sie die starken Verheißungen der Bibel vergessen zu haben scheinen. Hat Jesus nicht gesagt, dass die wahre Kirche weder vom Tod noch vom Teufel überwunden werden kann? Ist sie nicht sein Leib, also der sichtbare Christus hier auf der Erde? Sind die Glaubenden nicht – selbst wenn sie verachtet werden – die wahren Botschafter Gottes? Gilt nicht, dass sie seine Stimme in dieser Welt sind, wenn sie Gottes Wort und Evangelium treu verkünden? Welche Art von Größe oder gesellschaftlicher Anerkennung wollen diese „Verantwortlichen“ von Gemeinden und christlichen Werken haben?4 Das mag alles menschlich verständlich sein, aber es ist doch ungeistlich und gegen Gottes Wort.
Gerhard Proß betont zwar, dass das „erste Prüfraster … Gottes Wort“ sei, aber er scheint dieses Raster gar nicht anzuwenden, sonst müsste er doch erkennen, dass zwar die Eindrücke selbst keinem Bibelwort direkt widersprechen, aber die ganze Sache im Ansatz und auch in der Praxis dem Wort Gottes entgegenläuft. Offenbar ist in der Praxis das zweite Kriterium viel wichtiger: „die innere Resonanz bei den Hörern bzw. bei den Leitenden“. Was irgendwie ankommt oder sogar die anderen „elektrisiert“, das soll von Gott kommen, selbst wenn es nur eine Art von Selbstbestätigung darstellt. Zugleich sollen alle „prophetischen Impulse … ein Angebot“ bleiben. Man müsse immer die Freiheit haben, sie anzunehmen oder abzulehnen. Die Ablehnung soll deswegen auch keine große Bedeutung haben, außer dass die Annahme vielleicht „zur Erbauung, zur Ermahnung und zur Tröstung“ gedient hätte. Proß sagt nicht, welcher prophetische Impuls konkret im Vorfeld der Landtagswahlen 2024 erging. Aber man beschloss, dass dabei vielleicht zu „viel Menschliches mit im Spiel war und sogar Falsches“. Da machte man daraus einen „Aufruf zum Gebet für unser Land“. Das soll auch der „echte prophetische Kern“ der Botschaft gewesen sein, den man nicht „unterdrücken“ wollte. Das „erste Prüfraster Gottes Wort“ hätte jedem gezeigt, dass wir sowieso zum beständigen Gebet aufgefordert sind (1Thess 5,17). Das schließt ausdrücklich das Gebet für die Obrigkeit bzw. die politisch Verantwortlichen ein (1Tim 2,1-2). Das ganze „prophetische“ Tamtam erscheint mir eigentlich ein Aufruf zur Buße und zu der Erkenntnis: Wir haben es unterlassen, der klaren Aufforderung des Wortes Gottes, wie sie in der Bibel steht, gehorsam zu sein. Stattdessen haben wir nach anderen Botschaften Ausschau gehalten.
Offenbar drehen sich die Impulse des Geistes in dieser Art von „Hören auf die Stimme Gottes“ nicht um das, was der Heilige Geist nach der Botschaft des Neuen Testaments tut. Dort ermahnt er zum Vertrauen auf die Rettung durch Christus und sein Herrschaftshandeln bis zum Ende der Zeit. Der Geist tröstet mit der Gewissheit, dass Christus alles Wesentliche für uns und diese Welt getan hat und dass politische Entwicklungen Nebensache sind. Der Geist baut auf, indem er uns an das ewige Wort Gottes bindet und uns frei macht von dem „Wind der Lehre“ irgendwelcher „Verantwortlicher“, die meinen, dass sie das große Rad der Welt drehen. Ja, wir brauchen die prophetische Rede, von der das Neue Testament spricht, auch heute. Aber das ist offenbar die aktuelle Anwendung der Botschaft von Gesetz und Evangelium auf unsere Situation. Ohne diese prophetische Rede ist lebendige Seelsorge kaum denkbar, die auf die Nöte von Menschen Antwort gibt. Mit dieser Art von prophetischer Anwendung der Schrift wird Gemeinde geleitet, um die Herde der Glaubenden recht zu versorgen, falsche Lehre zu erkennen und abzuweisen, usw. Aber der von der Evangelischen Allianz beworbene Umgang mit „Impulsen, Bildern oder Eindrücken“ wird zu allermeist mehr Verwirrung schaffen als Klarheit.
EINS – Das Magazin der Evangelischen Allianz in Deutschland 3 (September) 2025 ↩
Sein Buch zum Thema „Hören – Wagen – Staunen: vom Abenteuer, sich auf die Führung Gottes einzulassen“ (GGE-Verlag 2022) ist weithin ein biografischer Erfahrungsbericht, in dem der Geist angeblich oft ermahnt um der Einheit willen keine falsche Lehre zu kritisieren. Wo versucht wird, mit der Bibel den „Hörprozess“ zu erklären, wird in die Verse hineingelegt, was zu passen scheint. Trotzdem bleibt Proß „wichtig zu betonen, dass wir nie mit 100-prozentiger Sicherheit sagen können, ob diese Impulse ein Reden des Heiligen Geistes sind oder unserer eigenen Seele entspringen.“ (119) Es gibt aber auch keine 70% Sicherheit: Man weiß es einfach nicht. ↩
Das wird auch durch die Artikel von Reinhardt Schink und Johannes Hartl unterstrichen „Gottes Wirken entdecken: Niedergang oder Aufbruch? Hat Gott seine Gemeinde aufgegeben?“ und „Gottes Aufbrüche entdecken: Wo wir ein Umdenken sehen und Gottes Handeln entdecken können.“ Insbesondere der Letztere deutet die Wiederkehr der Religiosität als Gottes Wirken zu einem neuen Aufbruch. Das hat etwas davon, als wenn Paulus den Zustrom zur „Diana der Epheser“ als Vorzeichen einer Erweckung gedeutet hätte, statt als Ausdruck des verbreiteten Götzendienstes. ↩
Braucht die christliche Gemeinde die Unterstützung des us-amerikanischen katholischen Podcasters Joe Rogan, der ein „dreistelliges Millionenpublikum“ erreicht und neben vielen anderen Meinungen auch Respekt „für die Bibel und den christlichen Glauben“ zeigt, wie Johannes Hartl als Beispiel für eine Wende zum Positiven ausführt (20-21)? Ein wieder wachsendes Interesse an religiösen Fragen sollten Christen wahrnehmen, aber auch, dass das meiste weit weg von echtem Glauben an Christus ist. Der am 10.9.2025 ermordete evangelikale Charlie Kirk wäre auch ein Beispiel gewesen. Er hat zwar vor allem Werbung für die konservative Partei in den USA gemacht, aber immer wieder klar seinen Glauben an Christus bekannt und sich zur Zuverlässigkeit der Bibel gestellt. Die direkte Ableitung politischer Positionen aus Bibelversen lehnte er ab, forderte aber Christen und Gemeinden zum politischen Engagement. Seine Argumente gegen die Gendertheorie, die kritische Rassentheorie oder die Abtreibung werden in den USA unter jungen Menschen breit diskutiert. ↩