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Die bösen Folgen der Herrschaft der Lüge … und warum Christen sich davon nicht entmutigen lassen

Wenn sich die Lüge in der Gesellschaft ausbreitet, dann geht dadurch nicht die Wahrheit unter. Sie kann auch unter einen Gespinst an Täuschungen weiterbestehen und wird wieder herauskommen. Was aber passiert ist, dass der Mensch Vertrauen verliert. Er wird nun auch hinter der Wahrheit die Lüge vermuten und meinen, dass man sich auf niemand mehr verlassen kann. Das ist eine teuflische Strategie, die auch das Vertrauen auf Gott betrifft.

Im letzten Sommer in einem Touristenort komme ich scheinbar zufällig mit einem jungen Mann ins Gespräch. Er erzählt mir, dass er hier im Ausland studiert habe, sein Studium jetzt abgeschlossen sei und er wieder nach Hause reisen will. Seine Studentenbude habe er schon aufgelöst, in der letzten Nacht in der Jugendherberge übernachtet und nun fehle ihm plötzlich das Geld, um schnell zum Bahnhof zu kommen, wo ihn sein Zug in die Heimat bringen soll. Natürlich bin ich bereit, zu helfen, so wie beim letzten Mal, als mich auf der Autobahnraststätte jemand um Geld für eine Tankfüllung bittet, weil er nicht mehr nach Hause fahren könne. Er würde mir das natürlich überweisen. Weil ich aber kein Geld in der Tasche habe, kein Automat in der Nähe ist, vertröste ich den jungen Mann. Und als ich mich umdrehe, um jemanden nach einem Geldautomaten zu fragen, verschwindet der angebliche Student schnell in einer Gasse und ist erst mal nicht mehr zu sehen. Als ich mich ein wenig umschaue, bemerke ich, dass ich beinahe auf eine Masche hereingefallen wäre, mit der gutgläubig aussehende Menschen wie ich abgezockt werden sollten.

Was denken Sie, wenn Sie Ihren Wagen in die Werkstatt bringen oder ein Kleidungsstück kaufen oder mit einem Menschen auf der Straße im Gespräch sind? Denken Sie, dass der Mechaniker versuchen wird, sie zu betrügen, ihnen alte Teile einbaut und die Sache nur eben so repariert, dass sie bald wiederkommen müssen? Denken Sie, dass man versuchen wird, ihnen minderwertige Qualität anzudrehen und sie umso kritischer sein müssen, je mehr der Verkäufer sagt, wie gut ihnen das Teil steht? Denken Sie, dass der andere vor allem Lügen erzählt, sich nur wichtig machen will und im Übrigen keine Ahnung hat, von dem, was er redet? Manche würden das vielleicht ein gesundes Misstrauen nennen: Weil man es nie so genau wissen kann, darum geht man am besten vom Schlimmsten aus. „Politiker lügen sowieso alle.“ „Gebrauchtwagenverkäufer sind alle Betrüger.“ „Bittet mich ein Unbekannter um Hilfe, lügt er, um mich auszunehmen.“

Gutgläubigkeit als Prinzip

Im Kontakt mit Menschen aus anderen Kulturen fällt mir immer wieder auf, wie stark in unserer Gesellschaft die Gutgläubigkeit überall im Leben verankert ist. Man geht im Prinzip davon aus, dass das Gegenüber die Wahrheit sagt, außer es gibt Anzeichen für berechtigte Zweifel. Verträge schließt man „auf Treu und Glauben“. Das ist sogar im Bürgerlichen Gesetzbuch in §242 verankert. Es gilt, dass die Vertragspartner so handeln, dass sie nicht zum Nachteil des anderen nur ihren Vorteil suchen. Der andere soll sich auf Zusagen verlassen können. Wenn ich etwas verkaufe und mir ein Mangel an der Sache bekannt ist, muss ich das meinem Geschäftspartner sagen, auch wenn er selbst nichts bemerkt hat. Im Leben darf es nicht so zugehen wie beim Angeln, wo der leckere Köder dazu dient, den Fisch an den Haken zu bekommen. Es darf auch nicht so sein, dass ein Verdacht ausreicht, um den anderen zu verurteilen. „Im Zweifel für den Angeklagten“ spiegelt das wider: Wenn das Unrecht nicht bewiesen werden kann, soll man davon ausgehen, dass der andere unschuldig ist.

Es gibt Gesellschaften, da ist das nicht prinzipiell so. Ein Händler etwa nennt immer zuerst einen viel zu hohen Preis, den aber nur der Dumme bezahlt. Dann wird gehandelt. Der Käufer redet die Ware schlecht, der Verkäufer redet sie gut. Irgendwann trifft man sich bei einem Preis, den beide Seiten für erträglich halten. Ob man wirklich etwas günstig bekommen hat oder doch zu teuer eingekauft, stellt sich vielleicht erst später heraus. In einer anderen Gesellschaft ist Heuchelei so sehr zum Prinzip geworden, dass keiner dem anderen mehr traut. Jeder belügt jeden, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Wer bemerkt, dass er belogen wurde, konfrontiert sein Gegenüber nicht damit, weil er ihn nicht beschämen will. Das wäre für ihn noch schlimmer, als sich gegenseitig zu belügen. In Deutschland mussten gleich mehrere Politiker von Ämtern zurücktreten, weil sie beim Erstellen ihrer Dissertation geschummelt hatten. Sie wollten einen Doktortitel führen und haben dazu eine Arbeit schreiben lassen oder doch große Teile bei anderen abgeschrieben. In anderen Kulturen erscheint es dagegen kein Problem, wenn man sich einen Titel kauft, sofern man sich das leisten kann.

Insbesondere daran, dass das Gebot zur Wahrheit jederzeit und jedem gegenüber gilt, kann man erkennen, dass es offenbar einen biblischen Ursprung hat und über den christlichen Glauben besonders die westlichen Gesellschaften geprägt hat. Die Lüge ist zwar in allen Kulturen negativ besetzt, aber nicht unter allen Umständen. So ist es oft erlaubt, Menschen anzulügen, die nicht zur eigenen Sippe oder dem eigenen Volk gehören oder einer anderen Religion folgen. Jesus verlangte von seinen Nachfolgern, dass sie immer klar und wahr reden: „Euer Ja sei ein Ja und euer Nein ein Nein! Alles was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen“ (Mt 5,37). Sie sollten die Wahrheit nicht nur unter Eid oder unter bestimmten Schwurformeln sagen, sondern einfach immer. „Deshalb legt die Lüge ab und redet Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten! Denn wir sind untereinander Glieder“ (Eph 4,25). Diese Ermahnung von Paulus ist nie so verstanden worden, dass das Gebot zur Wahrheit nur gegenüber Christen gilt.

Die Folgen der Normalität der Lüge

Die jüdische Historikerin und Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) hat nach der Aufdeckung der systematischen Lügen der amerikanischen Regierung in Bezug auf den Vietnamkrieg (1955-1975; ab 1965 mit direkter amerikanischer Beteiligung) auch Gedanken darüber geäußert, welche Folgen es für eine Gesellschaft hat, wenn das Lügen zum Prinzip und zur Normalität wird1. Man kann m.E. etwas aus ihren Überlegungen lernen und feststellen, wie aktuell sie auch nach mehr als 50 Jahren geblieben sind. Sie unterstrich, dass es durch Lüge niemals gelingen kann, die Wahrheit vollständig auszulöschen.

So groß das Gewebe aus Unwahrheiten eines Lügners sein mag, es ist niemals groß genug, um die Unendlichkeit des Wirklichen zuzudecken.

So groß das Gewebe aus Unwahrheiten eines Lügners sein mag, er wird doch, selbst wenn er Computer zu Hilfe nimmt, niemals groß genug sein, um die Unendlichkeit des Wirklichen zuzudecken. (10)

Es ist immer nur eine Zeit lang möglich, ein Lügengebäude aufrechtzuerhalten. Dessen kann sich jeder bewusst sein und deswegen begleitet den Lügner auch immer eine gewisse Furcht, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Arendt weist darauf hin, dass zum Lügen auch aus diesem Grund eine gewisse „Aggressivität“ gehört. Natürlich sagt der Mensch auch aufgrund von Irrtümern die Unwahrheit, aber das aktive Lügen hat für sie noch eine andere Qualität:

Diese unsere aktive, aggressive Fähigkeit zu lügen unterscheidet sich auffallend von unserer passiven Anfälligkeit für Irrtümer, Illusionen, Gedächtnis­fehler und all dem, was man dem Versagen unserer Denk- und Sinnesorgane anlasten kann. (8)

Was aber passiert, wenn der Mensch seine „aggressive Fähigkeit zu lügen“ regelmäßig einsetzt? Wird dann vielleicht doch die Wahrheit selber verdrängt? Arendt sieht eine andere Folge:

Die Ergebnisse (des Lügens sind) zwar schrecklich, doch nicht weil sich die Lüge definitiv an die Stelle der Wahrheit gesetzt hätte. Das prinzipielle Lügen der Terror-Regime kann nur erreichen, dass die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit überhaupt aus dem Bewusstsein der Menschen verschwindet. … Dann verschwindet die Tatsachenwahrheit und ihre Verlässlichkeit völlig aus dem öffentlichen Leben, und damit auch der wichtigste stabilisierende Faktor im dauernden Wandel menschlichen Tuns. (10-11)

Wenn systematisch gelogen wird, dann geht nicht die Wahrheit unter, sondern der Mensch ordnet die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit als zunehmend weniger wichtig ein. Es scheint nach und nach nicht mehr darauf anzukommen, ob etwas wirklich wahr ist. Menschen sagen dann, man könne die Wahrheit unter all den Lügen sowieso nicht erkennen. Zuerst mögen Wahrheit und Lüge noch irgendwie gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Wer darüber redet, tritt in scheinbarer Bescheidenheit zurück und sagt, dass er leider nicht in der Lage ist, die Sache unabhängig zu überprüfen. Dann wird die Frage nach der Wahrheit zu einer Meinungsverschiedenheit, in der man es so oder so sehen kann. Der Unterschied zwischen Tatsachenwahrheit und Meinung verwischt. Alle Meinungen scheinen mehr oder weniger gleichberechtigt. Wer nach der Wahrheit fragt, wird als selbstgerecht und überheblich bezeichnet. Statt sich auf Wahrheit zu verlassen, muss man sich dann an Menschen mit ihren wechselnden Meinungen hängen.

Aber die Leerstelle, die durch den Verlust der Wahrheit entstanden ist, bleibt nicht leer. Die Frage, ob etwas wahr ist, wird ersetzt durch die Frage, ob etwas einleuchtend ist oder ob es sich als nützlich erweist. Auch Hannah Arendt machte diese Beobachtung:

Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wirklichkeit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht. (10)

Die Lüge ist aber jetzt eindeutig im Vorteil, denn die Wahrheit ist oft sperrig. Sie ist nicht immer sofort einleuchtend. Sie spiegelt oft eine komplexe Wirklichkeit wider, wie sie der wahre Gott erschaffen hat. Viele Dinge haben nicht nur eine einzelne Ursache. Einfache Erklärungen, auch wenn sie falsch sind oder eine erhebliche Verkürzung der Wirklichkeit darstellen, sind aber viel anziehender als das Abwägen verschiedener Faktoren und Ursachen. Als aktuelles Beispiel kann die Diskussion um die Geschlechtsidentität gelten: Dass Mannsein und Frausein nicht nur eine Sache der Biologie ist, sondern auch das Zueinander der beiden Geschlechter die Identität mitbestimmt, ist in der Bibel ziemlich klar. Und klar ist auch, dass durch die Sünde hier einiges verdreht wurde. Aus dem ergänzenden Zueinander, wie es sich Gott gedacht hatte, wurde z.B. ein Geschlechterkampf. Aber gesellschaftlich attraktiv ist etwas, was eindeutig falsch ist: „Eine Frau wurde im Körper eines Mannes geboren, und wenn man diesen Körper mit Medikamenten und chirurgischen Eingriffen verändert, wird sie eine wahre Frau. Eine Frau ist, wer sich als Frau fühlt.“ Nicht selten wird es sogar gegen die Wahrheit in Stellung gebracht: Sie sei zu kompliziert und nicht sofort einsichtig, deswegen könne sie nicht wahr sein. Dieses Argument habe ich häufiger von Muslimen gehört, wenn es um die biblische Darstellung des Wesens des wahren Gottes als Vater, Sohn und Heiligem Geist geht.

Hannah Arendt meinte, dass Menschen, die am Ende auch relativ leicht zu erkennenden Lügen glauben, nicht nur einer Selbsttäuschung unterliegen. Bei einer Selbsttäuschung liegt die Wahrheit bzw. Unwahrheit noch relativ nahe im Bewusstsein des Lügners. Er unterdrückt die Wahrheit zugunsten der Unwahrheit. Paulus sagt, dass Menschen versuchen, die Wahrheit zu unterdrücken und dafür allerlei Ungerechtigkeit einsetzen (Röm 1,18). Sie verdrehen die Wahrheit über und von Gott aktiv (1,25). Sie werden alle zu Lügnern (3,4).

Selbsttäuschung setzt immer noch die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit, zwischen Tatsachen und Erfindungen und damit einen Konflikt zwischen der Wirklichkeit und dem betrogenen Betrüger voraus, zu dem es jedoch in einem vollständig entwirklichten Denken gar nicht mehr kommt. (34)

Arendt sieht eine weitere Folge der Normalität der Lüge: Das Denken könnte sich von der Wirklichkeit lösen. Es wird ein „entwirklichtes Denken“. Tatsächlich kann man zunehmend den Eindruck bekommen, dass eine bestimmte Ideologie – das, was wahr sein soll – die Regierung über die Wirklichkeit übernehmen will. Das ist in der Politik kein Problem von links oder rechts. Es kommt überall gleichermaßen vor, weil es sich um die Folgen unseres Verhältnisses zur Wahrheit handelt, nicht um eine bestimmte politische Überzeugung.

Voller Hoffnung auf die Kraft der Wahrheit

Paulus hat angesichts der Wirklichkeit der Lüge und der Folgen ihrer Herrschaft die Hoffnung trotzdem nicht aufgegeben. Das wird in einem seltsam wirkenden Satz nach all den Aussagen über die Lüge im Römerbrief deutlich:

„Wenn nun aber die Wahrheit Gottes erst durch meine Lüge richtig zur Geltung kommt und das zu seinem Ruhm führt, warum werde ich dann noch als Sünder gerichtet?“ (NeÜ Röm 3,7).

Es ist nicht Dummheit, die Christen gutgläubig sein lässt, sondern ihre Liebe zur Wahrheit zusammen mit der Hoffnung auf Gott und der Liebe zum Nächsten.

Wenn es auch das Ziel des Bösen ist, die Wahrheit auszulöschen, und sich der Sünder kräftig daran beteiligt, so kann das nicht nur nicht gelingen. Es ist vielmehr so, dass die Wahrheit wie ein Licht in der dunklen Umgebung der Lüge umso heller leuchtet. Sie erscheint überreich – ein Lieblingswort von Paulus, das er auch hier benutzt –, obwohl sie doch das Normalste von der Welt sein sollte. Der Mensch wünscht sich Wahrheit und findet sie am Ende nur bei Gott. Er merkt, dass die Qualität des Wortes Gottes ganz anders ist als alles andere Gerede, das ihn täglich umgibt. Am Reden von Jesus merkten die Menschen, das es anders war als die Reden der Schriftgelehrten (Mt 7,28), denn diese Worte waren zu 100% durch die Wirklichkeit Gottes gedeckt. Das waren nicht menschliche Ideen, sondern Gottes Wahrheit von dem, der sich selbst als das lebendige Wort und die Wahrheit bezeichnet hat.

Die Haltung des Christen ist deswegen auch in einer Welt der Lüge nicht Resignation und Mutlosigkeit. Auch wird er sich nicht von Misstrauen bestimmen lassen, obwohl er die Realitäten wahrnimmt. Er wird von der Liebe bestimmt, die durch den Heiligen Geist in sein Herz gegossen ist. Und von dieser Liebe gilt (1Kor 13,6-7):

„Sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“

Dass die Liebe „alles glaubt“, heißt nicht, dass der Christ von Naivität oder Realitätsverweigerung bestimmt ist. Es bedeutet vielmehr, dass die Lüge nicht die Herrschaft über sein Denken übernimmt, sondern der Aufblick auf Gott und die Hoffnung, d.h. das Warten, dass sich Gottes Wahrheit schließlich durchsetzt.

Römer 5,5: „Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist.“


  1. Hannah Arendt. Wahrheit und Lüge in der Politik. 7. Aufl. München: Piper 2023.