LiteraturBuchbesprechungen, Themen der Bibel

Ohne Sünde geht es nicht!

Der Evangelischen Kirche ist klar, dass sie ohne die Verkündigung von Sünde und Vergebung die Mitte ihrer Botschaft verliert.
Sie will das Thema aber vor allem von der menschlichen Erfahrung her entwickeln, was schnell an Grenzen stößt.
Wo aber von der Bibel her das Thema entfaltet wird, gibt es tiefgründige und hilfreiche Formulierungen.

Die Verantwortlichen der Evange­li­schen Kirchen in Deutschland (EKD) wissen seit langem, dass das Thema Sünde in der Kirche zu einem Randthema geworden ist. In gleichem Maße wurde den Pfarrern und den Kirchengängern auch das sperrige Kreuz und die Vergebung durch Christus zu einem Fremdkörper. Längst hat sich an diese Stelle ein „Evangelium“ von einem immer lieben Gott, der alles gern vergibt und jeden so nimmt, wie er gerade ist, gesetzt. Es gibt zwar Kräfte, die das als notwendige Modernisierung der Kirche betrachten und fördern wollen, aber wer nur ein wenig theologisch weiterdenkt, weiß, dass das letztlich ein Abschied vom evangelischen Glauben wäre. Deswegen hat die EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) einen Grundlagentext zum Thema „Sünde“ und „Sündersein des Menschen“ herausgegeben, der die notwendigen Eckpunkte des evangelischen Verständnisses darlegen will und zugleich zeigen, wie relevant das Thema bleibt.

In der Bibel geht es bei der Sünde zentral um das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Sünde ist Rebellion gegen Gott.

Allerdings ist man zuerst einmal darum bemüht, das „Miss­verständnis“ abzuwehren, die Reformation und damit die Kirche der Reformation „propagiere ein negatives Menschenbild“, das von dem Sünder, dem Menschen und sei­nem „moralischen Versagen“ (5). Dem will schon im Vorwort der bayrische Landes­bischof Heinrich Bedform-Strohm begegnen. Er verweist darauf, dass diese Erklärung der evangelischen Kirche zusammen mit zwei Vorläufern gelesen werden soll, die 2014 und 2017 erschienen waren und die Rechtfertigung des Sünders als Freiheit herausstellten und betonten, dass es diese Befreiung gewesen sei, für die Jesus gestorben war1. Gleich zu Beginn wird die Spur gelegt, der das Nachdenken folgen soll: „Der vorliegende Text … fragt, warum der Mensch auf Versöhnung und Vergebung angewiesen ist: Warum macht Sünde den Menschen unfrei?“ (6) Der Blick geht also vom Menschen zum Menschen: Was braucht der Mensch? Und was hindert ihn, zu bekommen, was er will und braucht? In der Bibel geht es bei der Sünde zentral um das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Sünde ist Rebellion gegen Gott, die sich in genau dieser „Selbstver­krüm­mung des Menschen in sich selbst“ zeigt. Adam und Eva wollen sein wie Gott, um Gott nicht mehr zu brauchen. In der Kirche ist man vor allem um ein Verständnis bemüht, das „auch außerhalb der Kirche anschlussfähig ist“ (7). Das scheint mir etwas anderes zu sein, als dass die Christen „sprachfähig“ werden, über etwas auch außerhalb der Kirche zu reden, was zum 1×1 ihres Glaubens gehört.

Verfasst hat den Text die theologische Kammer der EKD unter der Leitung von Christine Axt-Piscalar, Michael Beintker und Christoph Markschies, alle Professorin bzw. Professoren an evangelischen Fakultäten. Auch die anderen Mitautoren auf der Liste am Schluss sind fast alle Professoren, einige bereits emeritiert.2 Von dem 131-seitigen Buch gibt es auch eine Kurzfassung, die noch stärker für das „einfache“ Gemeindeglied konzipiert ist. Sie gibt 15 Thesen wieder, die auch in der ausführlichen Fassung am Anfang (S. 13-18) genannt werden.

Die erste These lautet: „Hinter dem Wort ‚Sünde‘ verbirgt sich die Not der Gottesferne.“ Allerdings wird auch hier nicht etwa das Problem der „Gottesferne“ entfaltet, sondern vom Beziehungsproblem mit Gott geht es direkt zum Beziehungsproblem mit dem Selbst und dem Mitmenschen. Trotzdem muss man anerkennen, dass diese Seite der Sünde und ihre Auswirkungen gut beschrieben sind. Da wird aus der mittelalterlichen Lehre von der Sünde der Hochmut, die Gier, die Trägheit und die Unwahrhaftigkeit angesprochen. Das Problem der „Grundsünde“ (Erbsünde) wird angesprochen und deutlich gemacht, dass alle Menschen gleichermaßen Sünder sind, auch wenn sie auf unterschiedliche Weise schuldig werden. Die Dimensionen von Gesetz und Evangelium, durch das uns das Wort Gottes anklagt und freispricht, werden benannt. Allerdings ist man immer bemüht, möglichst wenig zum theologischen Gehalt zu sagen und dafür schnell zur Erfahrungsdimension zu kommen. Die Sünde führt zur Erfahrung von Unfreiheit. Sie bringt das Erlebnis von Angst, Zerstörung von Beziehungen, „ungleichen Lebensverhältnissen“, die die „gerechte Ordnung in einer Gesellschaft“ zerstören. „Freundschaft, Partnerschaft und Familie sind Orte, an denen jeder erfährt, wie schnell man schuldig wird.“ (16)

Der Tod und alle seine Erschei­n­ungs­formen sind von Gott verordnete Strafe, aber zu sterben oder erfolglos zu sein, ist selber keine Sünde.

Man muss hier immer aufmerksam lesen, denn unter die „biblischen“ Sünden werden andere gemischt. Ungleiche Lebens­verhältnisse betrachtet die Bibel offenbar nicht an sich als Sünde und auch im Blick auf die Freiheit müsste man genauer unterscheiden, weil nicht jede Unfreiheit gleich Sünde ist. Wir können von der Bibel her sagen, dass die Erfahrung von Mangel in den eigenen Lebensverhältnissen eine Folge der ersten Sünde ist, genauso wie die Erfahrung von Unfreiheit. Sie könnten auch eine Erfahrung nach Beraubung oder Versklavung sein. Allerdings unterscheidet die Bibel. Sie nennt den Tod den Lohn für die Sünde. Er und alle seine Erscheinungsformen – Bedrohung von Beziehungen, Sinnlosigkeit, Erfolglosigkeit, Verlustangst, Todesdrohung – sind von Gott verordnete Strafe, aber zu sterben oder erfolglos zu sein, ist selber keine Sünde. Solche Unschärfen gibt es mehrmals im Text.

Die Kirche bietet sich als „Raum für einen hilfreichen Umgang mit Schuld und Sünde“ an. Gedacht ist dabei vor allem an das Schuldbekenntnis im Rahmen eines Gottesdienstes und an die Angebote der Seelsorge. Allerdings muss man dann doch viel mehr zur Sünde des sexuellen Missbrauchs innerhalb der Kirche sagen.

„Aber auch in der Kirche wurde Menschen Gewalt angetan. Vertrauensbeziehungen wurden missbraucht und zerstört durch sexualisierte Gewalt. Die Kirche muss dafür Verantwortung übernehmen. Dazu gehören die Ermöglichung strafrechtlicher Verfolgung, die Hinwendung zu den Opfern und die Frage, welche Strukturen in der Kirche diese Gewalt ermöglicht und befördert haben.“ (16)

Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.): Sünde, Schuld und Vergebung aus Sicht evangelischer Anthropologie: ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Leipzig: EVA, 2020. ISBN 978-3-374-06743-5

Wenn es um die Kraft des Evangeliums geht, durch das Jesus Christus uns von der Sünde befreit hat und unsere Schuld vergeben wird, dann ist in der Formulierung allerdings nicht ganz klar, dass Tod und Auferstehung von Jesus die Vergebung bewirkt haben. Es scheint vielmehr so, dass Jesus uns „nur“ irgendwie mit Gott versöhnt hat und dass die Sünde deswegen nun auch vergeben werden „kann“. Selbst das Gericht Gottes kommt zur Sprache, allerdings wird auch hier eine seltsame Vorstellung transportiert, als ob sich Gott nur noch mit solchen Sünden befassen müsste, die wir hier nicht schon durch Versöhnung untereinander ausgeräumt hätten:

„Die Grenzen menschlicher Vergebungs- und Versöhnungsfähigkeit verweisen auf das Gericht Gottes. Was zwischenmenschlich nicht vergeben werden kann, wird dort noch einmal zur Sprache kommen.“ (18)

Das sind alles Folgen davon, dass immer vom Menschen und seinen Erfahrungen ausgegangen wird, statt von Gottes Wort und der Wirklichkeit des dreieinen Gottes.

Immer beim Menschen anfangen?

Der auf die Thesen folgende theologische Text wird in 6 Kapiteln entfaltet, die sinnvoll wichtige Bereiche der Thematik erfassen. Auch hier macht sofort die Einleitung klar, dass man die Frage nach der Sünde zuerst als einen Teil der Anthropologie, also der Lehre vom Menschen, sieht. Das ist natürlich insofern richtig, als dass der Mensch und nicht Gott sündigt. Allerdings hat die Sünde wesentlich eine theologische Dimension, d.h. ohne die Beziehung zu Gott gibt es keine Sünde. Versagen, Zerbrechen von ge­schätzten Be­zieh­ungen, moralisches Abweichen von Normen, was in der Einleitung als „Verfehlung“ im Sinne der Selbst­verfehlung des Menschen definiert ist, könnte es auch ohne Gott geben. Unter negativen Folgen von verfehltem Handeln könnte der Mensch auch ganz ohne Gott leiden, wenn er hier nicht die Strafe Gottes erkennt. Selbst die Hoffnung, dass alles irgendwie einmal besser wird, könnte auch ohne Gott vorhanden sein.

Man vermisst eine Theologie, die mutig sagt, dass die Bibel die Wirklichkeit treffend und glaubwürdig wiedergibt.

Die Frage nach Gott will die Einleitung im Anschluss an Johannes Calvins Feststellung vom unauflöslichen Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis einholen. Leider bleibt das – anders als in Calvins Institutio – ziemlich blutleer, denn die Rede von „Entfremdung, Verfehlung und Schuld“ wird am Ende dem „anthropologischen Realismus“ zugerechnet, „der für die Textwelten der Bibel charakteristisch ist“ (22). Erstens wird das Denken auf diese Weise von der Wirklichkeit des sündigen Menschen weggelenkt zu einem Deutungsmuster in Texten. Man vermisst eine Theologie, die mutig sagt, dass die Bibel die Wirklichkeit treffend und glaubwürdig wiedergibt, während die menschliche Philosophie dem Bösen und der Sünde weitgehend ratlos gegenübersteht. Zweitens ist es – folgt man der Bibel – unausweichlich, den Menschen als Geschöpf Gottes in der Verantwortung vor Gott zu sehen. Das findet auch Erwähnung, aber getragen ist der Text davon nicht, wohl weil das etwas ist, was im allgemeinen „Gottesbewusstsein“ nur noch wenig vorhanden ist und insofern nicht „anschlussfähig“.

Allerdings sind diese Beobachtungen nicht durchweg einheitlich, was wahrscheinlich an der gemischten Verfasserschaft hängt. An einzelnen Stellen meine ich, den Ton bestimmter Theologen heraushören zu können, weil ich ihre Artikel kenne oder sie persönlich gehört habe. Das ist – anders als in der römisch-katholischen Theologie – in den evangelischen Kirchen oft auch gewollt.3

Im ersten Kapitel bei den „Annäherungen an das Thema“ finden sich dann auch klare Aussagen, die die entscheidende Dimension von Sünde, die das Verhältnis zu Gott betrifft, gut beschreiben:

„Denn die umfassende Erkenntnis der Sünde setzt Erkenntnis Gottes voraus und ist an sie gebunden. Erst wenn Gott erkannt wird, kann auch die Distanz wahrgenommen werden, in der man sich zu ihm befindet. Wenn klar geworden ist, dass wir von ihm gesucht und geliebt werden, kann auch die Tragik der Abwendung von ihm verstanden und als Sünde begriffen werden.“ (23)

„Im tiefsten Sinne ist Sünde als Verfehlung desjenigen Gegenübers zu verstehen, das uns liebend ins Dasein ruft und darauf wartet, als Quelle, Zentrum und Lebensgrund allen Daseins erfasst und geliebt zu werden. Aber das Gegenteil tritt ein: Statt Gottes Liebe zu erwidern und ihm Vertrauen zu schenken, verliert sich der Mensch an sich selbst. … Reden von der Sünde ist in der Gottesbeziehung zu verankern. Sonst wird es unweigerlich in ein bloß auf Moral pochendes Anprangern umkippen.“ (25)

Hier wird darauf aufmerksam gemacht, dass Schuld, weil sie nicht nur als Schuld­gefühl betrachtet werden kann, sondern real vorhanden ist, irgendwie immer auf das Verhältnis zu Gott verweist:

„Mit dem Wort ‚Sünde‘ wird die eigentliche Tiefendimension der menschlichen Verfehlungen angesprochen, nämlich die Beschädigung des Gottesverhältnisses, mit der ein Sich-Selbst-Verfehlen und ein verkehrtes Verhältnis des Menschen zu seiner Welt einhergeht.“ (28)

Zur Schuld wird Selbstverfehlung erst da, wo es eine Verpflichtung gegenüber Gott und daraus abgeleitet gegenüber dem Nächsten gibt, mit den Gaben zu dienen, die ich empfangen habe.

Trotzdem bleibt auch hier die Scheu, deutlich zu sagen, dass es Schuld nur gibt, wenn dabei jemand einem anderen etwas schuldet. Wenn ich mich selbst verfehle, indem ich etwa meine Möglichkeiten nicht für mich oder zum Wohl des Nächsten einsetze, dann mag das Dummheit oder eine verpasste Chance sein. Zur Schuld wird es erst da, wo es eine Verpflichtung gegenüber Gott und daraus abgeleitet gegenüber dem Nächsten gibt, mit den Gaben zu dienen, die ich empfangen habe. Weil der Mensch Geschöpf Gottes ist, kann Gott etwas verlangen. Wer sein „Pfund“ nur vergraben hat, wird schuldig, wenn er auch Gott der Ungerechtigkeit und Härte beschuldigen mag, weil er etwas von uns verlangt (Mt 25,24). Solche Zumutungen will man dem heutigen Zeitgenossen weitgehend ersparen. Das aber schwächt selbst die sehr guten Passagen des Grundlagentextes.

Viele Unschärfen

Durchaus selbstkritisch stellt der Text fest, dass an manchen Missverständnissen die Kirche selbst Verantwortung trägt. Bei­spielhaft wird entfaltet, dass man gern die Schuld der Gesellschaft oder des Systems anklagt, was zu dem Eindruck führt, „als sei der Mensch in ein Drama voller Schuld, das keine Schuldigen kennt, verstrickt“ (29). In einer inzwischen hochmoralischen Gesellschaft werden ständig Schuldige gesucht und gefunden. Einen Ausweg aus diesem Reflex soll das Evangelium bieten, indem es die Unterscheidung zwischen Gut und Böse irgendwie verwischt:

„Im Licht des Evangeliums wird die Unterscheidung von Schuld und Unschuld, Gut und Böse brüchig. In der Praxis Jesu kommt an den Tag, dass jeder Mensch auf Vergebung angewiesen ist.“ (31)

Mit der Geschichte von der Ehebrecherin wird richtig erkannt, dass Jesus das selbstgerechte Richten entlarvt und auch unterbindet. Er selbst vergibt und verurteilt die Ehebrecherin nicht. Aber Jesus hat offensichtlich an der harten Unterscheidung zwischen Gut und Böse festgehalten und bei Gelegenheit auch seine Zuhörer so hart angeklagt, wie es heute für einen Skandal reichen würde. Vergebung ist etwas anderes, als sich an die „Seite derer“ zu stellen, „die ausgegrenzt sind und denen die Umwelt ihre Sünden vorhält“ (32). Es gehört gerade zu echter Vergebung, dass die „ethischen Maßstäbe“ dadurch nicht aufgehoben werden, dass Gott gnädig ist. Der Zusammen­hang zwischen Sündenerkenntnis und Ver­gebung ist wichtig, führt aber anders als behauptet nur dann dazu, die Schuld als vergebene Schuld betrachten zu dürfen, wenn die größte Sünde, „dass sie nicht an mich glauben“ (Joh 16,9), durch Glauben an Christus überwunden ist. Sonst wird Wichtiges herausgestellt, das aber ohne die Dimension des Glaubens bzw. des In-Christus-Seins verzerrt erscheint.

„Nur in einem Klima der Vergebung kann sich eine wahrhaftige Sündenerkenntnis bilden. Erst wenn Menschen von der Last ihrer Schuld nicht erdrückt werden, können sie sich mit ihrer Schuld befassen. Es liegt in der erklärten Versöhnungsabsicht des Evangeliums begründet, dass es nicht an der Schuld als Solcher interessiert ist, sondern stets von der vergebenen Schuld her auf Schuld zu sprechen kommt.“ (33)

Mit dem letzten Satz wird das Zueinander von Gesetz und Evangelium in der Bibel zu einer Seite hin aufgelöst.

Es gehört zum Charakter der Sünde als Hochmut gegenüber Gott, dass der Mensch selber Gott sein will und dabei Gott nicht Gott sein lassen kann. Als Erscheinungs­form der Sünde gibt es den Hochmut aber auch.

Ein Kapitel entfaltet die Erscheinungs­weisen (Phänomene) des Sündigens. Dabei ergibt sich ein Problem, wenn die klassischen Beschreibungen des Charakters der Sünde mit ihren Erscheinungsweisen vermischt werden, die dann insbesondere als Erfahrung des modernen Zeitgenossen identifiziert werden sollen. Die Beschreibung des Charakters der Sünde als Hochmut gegenüber Gott, weil der Mensch selber Gott sein will und dabei Gott nicht Gott sein lassen kann, ist im Text sehr gut gelungen. Aber statt diesen Charakterzug der Sünde nun in den Erscheinungen der Sünde bzw. in konkreten Tatsünden zu identifizieren, stellt der hochmütige Mensch fest, dass er gar nicht so hochmütig ist. Er empfindet sich jedenfalls nicht so.

„Obwohl Hochmut als markante Erscheinungsform der Sünde in Betracht zu ziehen ist, kann das Sündigen nicht einseitig auf ihn zurückgeführt werden. Das bliebe ganz ungenau. Es gibt zwar Beispiele, wo Dreistigkeit und Aufgeblasenheit unübersehbar sind und Bosheit der Aura menschlicher Selbstverwirklichung dient. Aber das ist nicht der Normalfall. Der Normalfall besteht darin, dass die Menschen das Böse eigentlich nicht wollen, und dass es dennoch geschieht (vgl. Röm 7).“ (37)

Der angeblich nicht zum „Normalfall“ gehörenden Hochmut will man dann psychologisch erklären, obwohl die Sache letztlich im Ungefähren bleibt.

„Der Hochmut muss als Kompensation eines viel tiefer sitzenden Problems begriffen werden. Es ist zu vermuten, dass mit ihm etwas überspielt werden soll, was den Menschen als Verlust erscheint, was sie ängstigt und bedroht, obwohl es sie weder ängstigen noch bedrohen müsste.“ (37-38)

Der Mensch ist also nicht hochmütig, sondern eigentlich fühlt er sich nur bedroht?

Man könnte die Sache karikierend so deuten, dass sich Adam und Eva im Garten Eden von Gottes Gottheit, seiner Allmacht, seiner Weisheit, seiner großzügigen Fürsorge bedroht fühlten, weil Gott ihnen nicht „auf Augenhöhe“ begegnete, sondern sie Menschen mit Grenzen und Abhängigkeit von Gott sein sollten. Allerdings würde man wieder bei der Charaktereigenschaft der Sünde landen: Sie ist letztlich in all ihren Erscheinungsformen der Hochmut des Menschen, der ihn dazu verführt, sich einzubilden, er könne sein wie Gott und es sogleich versucht. Die Lüge will gegenüber der personifizierten Wahrheit eine eigene Wirklichkeit erschaffen. Der Neid misstraut nicht nur Gott, wie er die Dinge verteilt hat, sondern meint es auch besser zu wissen und machen zu können. In jedem Götzendienst ist die Überheblichkeit dabei, die behauptet, der selbstgebastelte Gott könne es mit dem wahren Gott aufnehmen oder sei sogar besser oder attraktiver.

Dem modernen Christen reicht es meist ebenso wenig, in den von Gott gegebenen Grenzen die Werke zu tun, die Gott vorbereitet hat. Er will „die Welt retten“ und greift wieder weit über sich hinaus in Gottes Sache ein.

Im Verlaufe des Grund­la­gen­­textes kommen die Au­toren allerdings immer wieder auf den Hochmut zu sprechen, was daran liegt, dass er eine Charaktereigenschaft der Sünde ist. Bei der Gier, der Trägheit und der Lüge fällt es ihnen wieder leichter, den Charakter der Sünde mit seinen Erscheinungsweisen zu identifizieren. Allerdings wäre es gerade bei der Trägheit wichtig gewesen, zu verdeutlichen, dass hier die Verwechslungsgefahr zwischen christlichem Gehorsam und selbstherrlichem Aktivismus sehr groß ist. In der Erfüllung der Gebote sind die Pharisäer sehr eifrig, aber dabei wollen sie klüger sein als Gott und es besser machen, indem sie die Gebote so weit „präzisieren“, dass sie entgegen Gottes Willen zu einer unerträglichen Last werden. Dem modernen Christen reicht es meist ebenso wenig, in den von Gott gegebenen Grenzen die Werke zu tun, die Gott vorbereitet hat. Er will die Welt retten und vor Unheil bewahren und greift wieder weit über sich hinaus in Gottes Sache ein.

Abgesehen davon finden sich aber viele hilfreiche Einsichten und Formulierungen:

„Dem Menschen gelingt es nicht, Gott zu vertrauen, er wendet sich von ihm ab. Er verkennt die Lage, in die er dadurch gerät, und bestreitet, dass er auf Vergebung und Versöhnung angewiesen ist, um sich in Freiheit zu entfalten. Die Rede von der Sünde wird als Angriff auf die Menschlichkeit des Menschen abgewiesen, die Rede von der Gnade belächelt. So entsteht ein illusionäres Selbstbild des Menschen, der sein Angewiesensein auf Gottes Gnade verkennt. Die Vorstellung, ohne Gott existieren zu können, schleift sich als ein prägendes Verhaltensmuster ein.“ (42)

Die Autoren schließen das Kapitel ab, indem sie einzelne Muster der theologischen Diskussion über die Sünde ansprechen. Die Entfremdung von Gott als Selbstentfremdung (Tillich), das Motiv des Bösen als Kategorie ohne notwendigen Gottesbezug (Kant) und das quantitative Sündersein, das mit größerem Gottesbewusstsein verkleinert wird (Schleiermacher). Leider bleibt das alles ohne die notwendige Kritik, die es in der neueren Diskussion durchaus gibt. Alle diese Motive haben leider die Tendenz, dass der persönlich handelnde Gott als Richter, der verurteilt und vergibt, dabei an den Rand gedrängt wird. Auch wird hier Sünde zu wenig von der Erlösung im Opfer von Jesus Christus am Kreuz gedacht. So scheint sie dann in der Suche nach der eigenen Identität zu liegen oder im großen Kampf zwischen Gut und Böse oder – wie bei Schleiermacher – nur in einer Vorbildfunktion, weil Jesus das besonders starke Gottesbewusstsein hatte.

Das unbegreifliche Sündersein

Gerade weil es sich beim Thema Sünde nicht nur um eine anthropologische Befindlichkeit handelt, sondern der Mensch vor dem Gott steht, der alles Denken und alle Weisheit weit überragt, ist es nicht verwunderlich, dass wir bei der Beschäftigung damit an Grenzen stoßen. Es ist erfreulich, dass die Autoren dem nicht ausweichen, sondern das Sündersein des Menschen auch in den Gegensätzen entfalten, die sich dabei zeigen. Das gelingt auch sehr gut, wenn herausgestellt wird, dass evangelische Theologie den Menschen immer als Ganzen in allen seinen Taten als Sünder qualifiziert und ihm trotzdem seine Würde als nach Gottes Bild Erschaffenem damit nicht nimmt.

„Deshalb kommt es bei der Rede von der Sünde auf den Zusammenhang von Gesetz und Evangelium, von Gericht und Gnade – und anthropologisch auf Glanz und Elend des Menschen an. Die Selbsterkenntnis des Menschen kommt unter der Gewissheit zustande, von Gott bejaht zu sein. Sünder zu sein, wird zu einer befreienden Einsicht und Neuorientierung erst dort, wo sich ein Mensch auf die Vergebung Gottes ganz und gar zu verlassen lernt. Beides gehört so wesentlich zusammen, dass auch die Erinnerung an Gottes Gebot misslingt, wenn in der Aufdeckung der eigenen Schuld nichts über das Verklagtwerden hinausführt. Gottes Wort ist immer beides: aufdeckendes und freisprechendes, aus der Sünde Herausrufendes und Sünder tröstendes Wort.“ (49-50)

Ohne den zornigen Gott, der richtet, und doch zugleich der gnädige Gott ist, der gerne vergibt, kann die Spannung zwischen ganz Sünder und in Christus ganz gerecht nicht aufrecht erhalten bleiben.

Obwohl diese Passagen in ihren anthropologischen Beschreibungen sehr gelungen sind, hört man auch hier die Tendenz heraus, die die Autoren selbst vermeiden wollten. Sie wollen die Spannung nicht auflösen, aber neigen doch dazu, weil ohne den Gott, der den Menschen anklagt, auffordert, verurteilt und zu einer Umkehr ruft, die menschlich unmöglich ist, genau das passiert. Ohne den zornigen Gott, der richtet, und doch zugleich der gnädige Gott ist, der gerne vergibt, kann die Spannung nicht aufrecht erhalten bleiben.

Auch bei der Diskussion des Begriffs der Erbsünde, den die Autoren durch das Wort „Grundsünde“ ersetzen wollen, sind sie ehrlich bemüht, den Gehalt der Erbsündenlehre nicht zu verlieren, aber die Missverständnisse, die sich im Laufe der Kirchengeschichte ergaben, zu vermeiden. Obwohl sie Röm 11,32 zitieren, fällt es ihnen schwer, Gott als den Handelnden zu beschreiben, der den Menschen aufgrund seines Urteils zum Sünder macht, indem er ihn unter die Sünde verkauft sein lässt, und das von Geburt an. Trotzdem bleibt der Mensch für jede Tatsünde verantwortlich, die doch seinem Wesen als Sünder entsprungen ist. Ohne die Erlösung durch Christus ist diese Erkenntnis schwer erträglich. Am deutlichsten wird das Problem wohl im Abschnitt über die Endlichkeit des Menschen (61-62). Es ist vor dem Hintergrund des biblischen Wortes völlig unverständlich, wie man über den Tod und die Todverfallenheit sprechen kann, ohne auf die Verurteilung des Menschen zum Tod durch Gott zu kommen. Trotzdem muss man anerkennen, dass der Grundlagentext nicht dem Hang verfällt, nur noch gelten zu lassen, was dem allgemeinen Verständnis plausibel erscheint.

Wie Ausleger Gottes Wort bevormunden

Das 4. Kapitel ist eine Auslegung von ausgewählten Bibelabschnitten. Überrascht ist man nicht, wenn es bei der Auslegung der Abschnitte aus der Urgeschichte (1Mo 1-11) zuerst einmal darum geht, den bibelkritischen Konsens auszubreiten: Es gibt angeblich keine historische Grundlage; man versuche in den Texten, mit Legenden die vorfindliche Welt zu erklären; der einzige Unterschied zu den vorderasiatischen Mythen sei, dass die Bibel nur von einem Gott spricht. Es braucht nicht viel, um zu sehen, dass das schlicht nicht stimmt. Die Bibel selber im Alten und Neuen Testament betrachtet die Urgeschichte mindestens in der Grundstruktur als historisch ganz im Sinne der Geschichtsschreibung. Man mag das nachvollziehen können oder nicht, aber wenn man Texte auslegen will, kann man es nicht einfach verneinen. Die Geschichten enthalten zwar Elemente, die legendenhaft (sprechende Schlange; Formung aus Lehm und Leben aus Atem; Frau aus Rippe Adams gemacht) oder ätiologisch wirken (Vielfalt der Sprachen durch Gottes Eingreifen beim Turmbau), aber sie selbst und auch der biblische Gesamtzusammenhang verbieten eine solche Einordnung. Im Grunde merken das auch die Ausleger, wenn sie sich so ausführlich daran abarbeiten. Auch die Zusammenfassung der alt- und neutestamentlichen Auslegungen (93-96) beginnt erneut mit einer ausführlichen Begründung, warum nur niemand Schöpfung und Fall geschichtlich verstehen sollte. Schließlich sind auch die Differenzen zu den vorderasiatischen Mythen so erheblich, dass eigentlich nur bei der Flutgeschichte von einzelnen Überschneidungen gesprochen werden kann (Flut als göttliche Strafe, Noahfigur, rettendes Schiff), obwohl die Geschichten inhaltlich etwas völlig anderes erzählen.

Leider zeigt dann die „Auslegung“, dass nicht zuerst das biblische Wort sprechen darf, sondern der kluge Ausleger ziemlich vorlaut bestimmen will.

Leider zeigt dann auch die „Aus­legung“, dass nicht zuerst das biblische Wort sprechen darf, sondern der kluge Ausleger ziemlich vorlaut bestimmen will. So will man unbedingt das Streben nach Freiheit in der Sündenfall­ge­schichte erkennen, obwohl das dort nicht einmal unterschwellig angesprochen ist, es sei denn, man versteht Freiheit entgegen der Bibel als Selbstermächtigung gegenüber Gott. Warum die Schlange „recht behielt“, nur weil Adam und Eva nicht gleich tot umfielen, ist angesichts dessen, dass Leben und Tod offenbar hier wie sonst viel mehr umfasst als die leibliche Funktion, unpassend. Wie der „Tod als Folge der Abkehr von Gott“ durch „Zeugung und Geburt relativiert“ wird, bleibt unklar (71). Man könnte auch das Gegenteil behaupten, weil Zeugung und Geburt den Tod nicht aufhalten, sondern vermehren. Andere Beobachtungen sind treffend, aber angesichts des Themas des Grundlagentextes bleibt alles irgendwie unverbunden.

Die gleichen Feststellungen kann man bei der Auslegung der Prophetenbücher Amos und Jeremia machen: gute Beobachtungen vermischen sich mit dem Einführen eigener Ideen, etwa dass es um die Anklage „ungleicher Lebensverhältnisse“ und der „Verschwendung von Ressourcen“ ginge (75). Leider verstellen solche Vermischungen leicht, was die Bibel über Sünde sagt.

Aus dem NT werden Römer 7, die Geschichte vom Zöllner und Pharisäer aus Lukas 18 und die Bitte um Vergebung aus dem Vaterunser ausgelegt. Der Ausleger von Römer 7 entscheidet sich interes­santerweise und in gewisser Span­nung zu anderen Aussagen im Grundlagentext dafür, dass das Ich in Römer 7 der alte Mensch ohne den Glauben an Christus sei (83). Er meint, hier blicke der ehemalige Sklave der Sünde in den Spiegel und sehe immer noch den Sklaven, obwohl er schon frei sei. Die Reformation hatte hier eher den inneren Kampf zwischen Fleisch und Geist gesehen, der mit dem Christsein erst richtig beginnt. Bei diesem Kampf steht der Sieg zwar fest, aber gekämpft werden muss er in diesem Leben doch. Trotzdem findet sich in diesen Auslegungen viel Bedenkenswertes. Gut herausgearbeitet ist etwa, wie stark provozierend das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner ist, ein Charakteristikum vieler Gleichnisse, das uns oft nicht mehr auffällt.

Anders als im Grundlagen­text gehört in der Bibel die Beziehung zu Gott und das Gebot, das moralisches Leben fordert, zusammen. Jesus verbindet die Liebe zu ihm mit dem Gehorsam.

Auffällig ist bis in die Zusammenfassung der Auslegungen (93-96) hinein, dass die moralische Dimension der Sünde und die Gebote der Bibel thematisch weithin vermieden werden. Angesichts des Problems der Moralisierung, die immer nur das Verhalten des Menschen in den Blick nimmt, aber sein eigentliches Problem der gestörten Gottesbeziehung vernachlässigt, ist das zu begrüßen. Allerdings hält die Bibel beides beieinander, so dass zur Beziehung zu Gott auch Gebote gehören. So ist es im Paradies mit dem Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Und Gott schließt seinen Bund am Sinai mit zwei Gesetzestafeln, die fortan im Allerheiligsten bewahrt werden sollen. Auch Jesus kann die Liebe zu ihm mit dem Gehorsam seinem Gebot gegenüber verbinden (Joh 14,15-21). Das wäre auch durchaus „anschlussfähig“, weil menschliche Beziehungen in Liebe auch Ordnungen kennen und diese keineswegs ausschließen.

Wo Sünde und Schulderfahrung zusammentreffen

Bei der Forderung nach „Aufarbeitung“ der Schuld durch sexualisierte Gewalt innerhalb der Kirche vermisst man die Erklärung, wie ein spezifisch christlicher Weg mit Bekenntnis, Vergebung und Versöhnung aussehen kann.

Wenn es in Kapitel 5 (97ff) um die Erfahrung von Schuld und Vergebung geht, kann das Thema allerdings nicht außen vor bleiben. Einer hilfreichen Unterscheidung von Schuld als allgemein menschlicher Erfahrung und Sünde als der theologischen Dimension dahinter, die nach dem menschlichen Verhältnis zu Gott fragt, folgen Überlegungen zu verschiedenen Bereichen des Alltags, in denen Schulderfahrung eine Rolle spielt. Hier finden sich viele Zusammenhänge sehr gut erklärt. Hilfreich ist der Abschnitt zum Gewissen und auch die Unterscheidung zwischen Verzeihen, Vergeben und Versöhnen, wenn sie auch nicht ausreichend erklärt und konsequent durchgehalten wird. Obwohl diese Abschnitte ein seelsorgerlich-praktisches Ziel verfolgen, können sie in einem Grundlagentext an den meisten Stellen nicht mehr sein als eine Aufzählung von Problemfeldern. Es bleibt dann nur ziemlich pauschal immer wieder der Hinweis, dass Schuld beim Namen genannt werden soll, dass es irgendeine „Aufarbeitung“ braucht und dass Christen „im vergebenden, befreienden und lösenden Evangelium die eigentliche Grundlage und Chance für eine Klärung“ sehen (105). Das Thema „sexualisierte Gewalt“ in der Kirche wird ex­tra angesprochen (105-108), aber es bleibt bei einigen eher hilflos wirkenden Allgemeinplätzen, die besonders betonen, dass nichts durch „schnelle Vergebung“ unter den Teppich gekehrt werden soll. Hier hätte durchaus die Frage behandelt werden können, ob die „Aufarbeitung“ unter Christen, die dem Evangelium vertrauen, andere Strukturen, Inhalte und Ziele haben muss als die Aufarbeitung außerhalb der Kirche. M.E. hat die Kirche hier angesichts eigener Schuld weithin den Mut verloren, für den Weg echter Vergebung zu werben. Immerhin wäre das christliche Ziel doch Versöhnung im Angesicht erheblicher Schuld.

Beim Thema „Erinnerungskultur“ wird versucht, das spezifisch Christliche deutlich zu machen, aber auch hier werden zuerst weltliche Kategorien übernommen. Kann es bei bestimmter Schuld wirklich nur eine „andauernde Schulderinnerung“ geben? Eine christliche Begründung dafür fehlt, aber das Ringen darum wird sichtbar.

„Es gibt historische Schuldkonstellationen, in denen Vergebung wünschenswert ist, aber Vergessen unverantwortlich wäre. Wenn sich dann in der Begegnung von Menschen Versöhnung einstellt oder wenn die wachsende zeitliche Distanz Annäherung über die Schandmale der Schuld hinweg ermöglicht, auch dann darf nicht vergessen werden. Das widerspricht nur scheinbar der Praxis der Vergebung im Licht des Evangeliums, denn eine solche Praxis der Vergebung befreit gerade zur Schuldeinsicht und -erinnerung.“ (111)

Richtig ist, dass auch an vergebene Schuld erinnert werden muss, dass es christlich mithin kein „Vergeben und Vergessen“ geben muss. Christus bleibt auch in himmlischer Perspektive „das Lamm, das geschlachtet wurde“ für unsere Schuld und trägt am Auferstehungskörper die geheilten Wunden der Kreuzigung. Aber die Wundmale werden bei ihm zum Trost für den, der sie ansieht. Das gilt in gleicher Weise für den Schuldigen wie für das Opfer der Schuld. Immerhin haben christlich inspirierte Versöhnungsprozesse etwa in Ruanda oder in Süd­afrika einiges Gutes für das Zu­sam­menleben bewirkt, nachdem man sich gegenseitig Schreckliches angetan hatte.

Das letzte Kapitel wirbt schließlich für eine christliche Haltung und ein Leben aus der Vergebung Gottes. Das ist tatsächlich eine wunderbare Perspektive und eine Besonderheit des christlichen Glaubens. Er ist von der Gewissheit echter Vergebung geprägt und von der Hoffnung, dass alle Schuld einmal überwunden wird. Die Überlegungen zur Praxis der Vergebung sind weithin hilfreich, wenn sie natürlich in einem Grundlagentext nicht alle Aspekte beleuchten können.

Fazit

Das Thema Sünde, Schuld und Vergebung ist doch weithin unter Absehung des besonderen Weges der Erlösung durch das Opfer Christi entfaltet.

Der vorliegende Grundlagentext ist in weiten Teilen eine wertvolle Hilfe. Er hat allerdings das durchlaufende Problem, dass Gott und Christus irgendwie fern erscheinen, obwohl es doch bei der Frage nach der Sünde zentral um das Verhältnis des Menschen zu Gott geht und um Gottes Weg, wie er durch Christus die Versöhnung gewirkt hat. Zwar scheinen die Autoren dieses Textes nicht so große Probleme mit der Vergebung der Schuld durch den Tod Christi zu haben, wie das im Grundlagentext „Für uns gestorben“ deutlich wurde. Aber das Thema Sünde, Schuld und Vergebung ist doch weithin unter Absehung des besonderen Weges der Erlösung durch das Opfer Christi entfaltet. Bedauerlich bleibt es, dass trotz eines Kapitels mit Auslegung von Bibelabschnitten die Bibel nicht wirklich zu Wort kommt. Die Auslegung wirkt weithin wie Bevormundung des Wortes Gottes. Fraglich erscheint mir, ob durch diesen Text das biblisch zentrale Thema Sünde und Vergebung wieder einen zentraleren Platz in der Kirche bekommen kann.

Der Text merkt selbstkritisch an, dass dieses für den evangelischen Glauben zentrale Thema über Jahr­zehnte an den Rand gedrängt wurde. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass selbst unter den Pastoren und Mitarbeitern der Kirche das Thema „Annahme“ und „Geborgenheit“ längst dem sperrigen Sündenthema den Rang abgelaufen hat und auch die Frömmigkeit bestimmt. Angesichts dessen erscheint es umso wichtiger, dass die Kirche gegensteuert, sonst verliert sie unweigerlich das Evangelium der Bibel, indem sie ein neues Evangelium aufrichtet, in dem niemand mehr von Sünde und Schuld überführt wird und auch niemand mehr Vergebung benötigt, weil alle irgendwie geliebt und angenommen sind, wie sie gerade sind.

Man darf sich nicht scheuen, auch die schwierigen, nicht „anschluss­fähigen“ Elemente der Lehre von der Sünde anzusprechen.

Auf diesem Weg darf man sich nicht scheuen, die schwierigen, nicht „anschlussfähigen“ Elemente der Lehre von der Sünde anzusprechen. Sünde ist ohne Konfrontation mit dem Anspruch Gottes nicht denkbar. Sünde ist nicht leicht plausibel zu machen, weil wir dabei vor den allmächtigen und unendlichen Gott gestellt werden. Die Wirklichkeit des Bösen darf in keiner Weise verharmlost werden. Der Weg über die Folgen der Sünde zur Schuld vor Gott zu kommen, ist biblisch möglich, aber dabei kann die moralische Dimension der Sünde nicht übergangen werden.

Möge der vorliegende Text ein Schritt in eine gute Richtung werden.


  1. Beide Erklärungen wurden in Bibel und Gemeinde besprochen. Rechtfertigung und Freiheit in Heft 3-2014 (https://bibelbund.de/2014/08/lieber-freiheit-statt-rechtfertigung/) und Für uns gestorben in Heft 2-2015 (https://bibelbund.de/2015/04/kirche-ohne-evangelium/). 

  2. Von evangelikaler Seite stehen hier die Namen von Thorsten Dietz und Hans-Joachim Eckstein, wobei letzterer mir mitgeteilt hat, dass er die theologische Kammer schon länger verlassen hat und für den Text keine Verantwortung trägt. 

  3. Extrem wurde das im Grundlagentext „Für uns gestorben“ deutlich, der mehrfach ausdrücklich als grundlegendes Element für diesen Text erwähnt wird.