ThemenFrage & Antwort

War das Nadelöhr, durch das kein Kamel geht, ein kleines Stadttor?

Frage: Man hört oft, die Aussage von Jesus, dass ein Kamel leichter durch ein Nadelöhr ginge, als dass ein Reicher ins Himmelreich käme, ginge auf ein kleines Seitentor neben einem der Stadttore Jerusalems zurück, das wegen seiner Kleinheit die Bezeichnung Nadelöhr gehabt habe. Verspätet ankommende Händler sollen große Probleme gehabt haben, mit ihrem Kamel durch dieses Tor in die Stadt zu kommen, weil die Kamele auf ihren Knien durch dieses kleine Tor gebracht werden mussten, da alle Stadttore aus Sicherheitsgründen des Nachts geschlossen waren. Stimmt diese Darstellung?

Antwort:

Genauso wie die Änderung von Kamel (kamelos) zu Schiffstau (kamilos), die zuerst bei Cyrill von Alexandrien (ca. 375-444 nChr) nachweisbar ist, eine Spekulation darstellt, so ist es auch mit der Deutung des Nadelöhrs als Stadttor oder Nebeneingang zu einem oder mehreren Stadttoren in Jerusalem.

Darstellung am Eingang der Bonifatiuskirche in Dortmund

Darstellung am Eingang der Bonifatiuskirche in Dortmund

Das Schiffstau ändert wenigstens nichts an der Härte der Aussage und zeigt die gleiche Unmöglichkeit der Errettung eines Reichen. Die Geschichte mit dem Stadttor ist aber geeignet, die Aussage Jesu erträglich zu machen. Das Kamel wird abgeladen, zwängt sich durch das Stadttor und hinterher lädt man ihm alles wieder auf. Schwierig zwar, aber eben nicht unmöglich. Die Reaktion der Jünger von Jesus passt nicht dazu: „Wer kann dann überhaupt gerettet werden?“

Die Deutung des Nadelöhrs als Stadttor hat vor allem der seit dem Hochmittelalter sehr einflussreiche Thomas von Aquin (1225-1274) verbreitet. Sie geht aber wohl auf den Matthäuskommentar von Paschasius Radbertus zurück, der ca. von 790-859 als fränkischer Benediktinermönch und Abt lebte. Diese Deutung spiegelt damit vor allem die Auseinandersetzung der mittelalterlichen Kirche um die Besitzlosigkeit wider. So schön und eingängig wie die Geschichte klingt und damit sogar Eingang in ein Kinderbuch des Onckenverlags fand (Nick Butterworth, Das kleine Tor, Wuppertal: Oncken, 1998), so wenig Belege hat sie für sich.

Löwentor in Jerusalem

Löwentor in Jerusalem; erbaut um 1538; Stadttore aus der Zeit Jesu sind nicht erhalten

Es gab nach allem was bekannt ist, ein solches Stadttor in Jerusalem nicht und auch sonst die Gepflogenheit nicht, dass zu spät eintreffende Händler nicht mehr durch die geschlossenen Stadttore, sondern nur durch Nebentore eingelassen wurden, bei denen ihre Kamele auf den Knien durchrutschen mussten. Ich bezweifle auch, dass Kamele das können, lasse mich aber gern korrigieren.

Wenn es auch die Aussage Jesu so vorher nicht als Sprichwort gegeben zu haben scheint, so lässt sich doch belegen, dass das Nadelöhr im Sinne der Öffnung an einer Nadel im Judentum sprichwörtlich als kleinste Öffnung gebraucht wurde.

Die Aussage von Jesus ist und bleibt radikal und erschreckend: Es ist unmöglich, dass ein Mensch, erst recht wenn er reich ist, gerettet wird, wenn nicht Gott Unmögliches möglich machen würde (Mt 19,26).