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Sex und Bibel – Gottes Absicht mit der Sexualität und unsere Lebenswirklichkeit

In der Rubrik „Zur Diskussion gestellt“ veröffentlichen wir Artikel, bei denen uns bewusst ist, dass nicht alle Christen, die bibeltreu sein wollen, die Ergebnisse teilen. In einigen Fragen können auf der Grundlage der gleichen biblischen Aussagen unterschiedliche Antworten formuliert werden. In BuG 1-2022 haben wir an dieser Stelle einen Beitrag über eine bibelbegründete Sexualethik gedruckt, die bei einigen Lesern Rückfragen aufgeworfen hat. Hier lesen Sie eine an manchen Stellen abweichende Darlegung, die auf den Artikel von Prof. Dr. Friedhelm Jung antwortet. Im Ergebnis führen die Auslegungen zwar zum gleichen moralischen Verhalten, die Begründungen sind aber anders, was vor allem die Haltung beeinflusst.

Offenbar spielt die Sexualethik in der Bibel eine wichtige Rolle und sie muss deswegen auch in der christlichen Lehre einen entsprechenden Platz haben. Weil das Thema jeden Menschen angeht, es deswegen auch in der öffentlichen Diskussion eine herausragende Stelle einnimmt, zugleich mit Scham besetzt ist und oft mit abstoßenden Grenzüberschreitungen einhergeht, ist es nicht immer einfach, genau herauszuarbeiten, was biblisch ist, was allgemein menschlicher Erfahrung entspringt und was auf der Grundlage eines teuflischen Lügensystems in die Welt gekommen ist. Wie sehr jeder in diesen Fragen Kind seiner Zeit und seiner Erziehung ist, kann nicht unberücksichtigt bleiben, wenn wir uns mit den biblischen Prinzipien und Geboten zu unserer Geschlechtlichkeit beschäftigen.

Obwohl ich an vielen Stellen mit den Dar­le­gungen von Friedhelm Jung übereinstimme und besonders seine Forderungen für eine Sexualethik teile, möchte ich doch an drei Stellen widersprechen. Erstens sehe ich den Schwerpunkt unserer aktuellen Heraus­forderung etwas anders und meine, dass die Klärung an dieser Stelle sehr wichtig ist. Zweitens scheint mir die Bibel den Sinn der Sexualität anders zu beschreiben. Drittens glaube ich, dass uns die Bibel herausfordert, Leiblichkeit positiver zu bewerten, ohne die Macht der Sünde dabei auszublenden.

1. Was ist unsere Herausforderung?

Weder moralische Empörung noch ein nostalgischer Blick auf angeblich früher bessere Zeiten helfen uns heute weiter.

In seinem Artikel entfaltet Friedhelm Jung einige Entwicklungen seit der sogenannten „sexuellen Revolution“ der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Er sagt das nicht und will es sicher auch nicht sagen, aber es könnte der Eindruck entstehen, als ob es vor dem „Marsch“ der 68er-Bewegung mit der gelebten Sexualität besser gestanden hätte als danach und besonders heute. Friedhelm Jung vertritt eine konservative Haltung, die in vielem widerspiegelt, was lange Zeit zum Grundbestand christ­licher Einstellungen zur Sexualität gehörte. Ich bin dankbar dafür, auch wenn ich nicht alles genauso sehe wie er, denn anhand dessen können sich jüngere Christen klarwerden, wie radikal sich viele Haltungen innerhalb weniger Jahrzehnte verändert haben. Sie sind selbst vielen konservativen Christen fremd geworden. Wir können daran auch lernen, wie wenig selbstverständlich es ist, dass man bestimmte Überzeugungen und Haltungen festhalten kann. Sie müssen in jeder Generation mit dem Wort Gottes erkämpft und verteidigt werden. Es erscheint mir aber auch wichtig, dass wir genau darauf schauen, wie wir das tun. Moralische Empörung darüber, wie schlecht die Menschen heute sind, oder ein nostalgischer Blick auf eine vermeintlich gute alte Zeit sind m.E. wenig hilfreich. Christen müssen eine Haltung pflegen, bei der Wahrheit und Liebe miteinander bezeugt werden. Dazu kann ein geschichtlicher Rückblick hilfreich sein, weil er zeigt, inwiefern auch im Hinblick auf die Sexualität einiges anders geworden ist. Er zeigt aber auch, dass es früher nicht einfach besser war.

Wir nehmen wahr, wie viel gelebte Sexuali­tät mit Prägung zu tun hat. Zwar sind einige Elemente unserer Geschlechtlichkeit durch die Schöpfung festgelegt. Aber Ausprägungen können doch variieren, je nachdem in welcher Umwelt ein Mensch aufgewachsen ist und welche Erfahrungen ihn geprägt haben. Es liegt deswegen eine Gefahr darin, wenn seit einiger Zeit zum „Ausprobieren“ aller möglichen sexuellen Erfahrungen angeregt wird. Eine gesunde Sexualität, wie sie Gott gewollt hat, kann dadurch beschädigt werden. Der Verzicht auf das Ausleben des eigenen sexuellen Begehrens konnte über Jahrhunderte als ein christliches Ideal gepriesen werden, wenn es auch nicht für jeden erreichbar war. Heute scheint es unzumutbar und sogar unmöglich zu sein, dass der Mensch sein sexuelles Begehren zügelt und auf körperliches Ausleben verzichtet, weil er nicht in einer Ehe leben kann. Der Mensch erscheint vielen so triebgesteuert, dass man von ihm nicht verlangen will, wenigstens zeitweise Verzicht zu üben. Angeblich soll er dadurch Schaden nehmen oder gar zum Missbrauchstäter werden, weil er nicht enthaltsam leben kann. Das ist auch ein Ergebnis der „sexuellen Revolution“ der 68er-Bewegung, die stark von der Psychoanalyse Sigmund Freuds beeinflusst war.

Der Sturm der „sexuellen Re­vo­lution“ erscheint mir allerdings in einer Hinsicht nachvollziehbar. Sie wandte sich nämlich auch – wenn auch mit den falschen Mitteln – gegen eine verbreitete Heuchelei in der damaligen Gesellschaft. Während es äußerlich als moralisch gut galt und sogar durch Gesetze verteidigt wurde, vor der Ehe nicht miteinander zu schlafen, war das Gegenteil an der Tagesordnung. Wenn ich an das Umfeld denke, in dem ich aufgewachsen bin, so gab es kaum eine Ehe, die nicht geschlossen wurde, weil man heiraten „musste“. Es war ein Kind unterwegs. Anders als heute manchmal behauptet, war es zwar nicht unmöglich, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen und allein zu erziehen, aber für eine Frau meist mit einer moralischen Verurteilung und auch vielen Schwierigkeiten verbunden. Die Kinder wurden deswegen nicht selten zur Adoption freigegeben oder kamen sogar in Kinderheime. Abtreibungen hat es auch lange vor dem § 218 gegeben. Die Pornografie war zwar nicht wie heute selbst für Kinder leicht zugänglich, aber sie war natürlich trotzdem weit verbreitet. Anders als heute war das Problem der sexuellen Vergewaltigung von Kindern in ihren Elternhäusern oder sogar in kirchlichen Einrichtungen selten ein Thema der Tagespresse, aber es gab das alles trotzdem, vielleicht sogar mehr als heute. Ich persönlich glaube nicht, dass sexuelle Unmoral durch heuchlerische Verurteilung eingedämmt wird. Das heißt allerdings nicht, dass ich die gegenwärtige offene Werbung dafür für gesund halte. Wirkliche Orientierung für den Menschen, der sie braucht und sucht, bietet nur gesunde Lehre und vorbildliches Leben. Das schließt die Wirklichkeit von Versagen ein, das aber als Sünde vor Gott bekannt werden und Umkehr zur Folge haben muss. Moralismus und Heuchelei waren nie eine Hilfe.

Jeder Streifzug durch die Geschichte zeigt, dass es eine gute alte Zeit, wo das Problem der sexuellen Unmoral nur eine Randerscheinung gewesen wäre, so nicht gegeben hat. Die Hitler-Regierung wurde auch deswegen von vielen Christen begrüßt, weil man sich erhoffte, dass die Zügellosigkeit während der Weimarer Republik durch eine bessere, strenge Moral begrenzt würde. Aber das war eine Täuschung der Heuchelei, auch wenn sie danach von vielen weiter gepflegt wurde. Und davor in der Kaiserzeit war die Welt auch nicht besser. Der Kaiser selbst wurde einmal öffentlich ermahnt, weil seine Kinder Sexparties feierten. Christen sollten die Entwicklungen der sexuellen Moral wahrnehmen, damit sie den Menschen die guten Ideen und Gebote Gottes für das Leben mit der eigenen Geschlechtlichkeit überzeugend nahebringen können. Aber sie sollten das nicht mit der Haltung tun, als ob die gegenwärtige Zeit besonders schlimm sei, während irgendwann früher alles besser war. Gerade die Bibel lehrt uns, dass es sexuelle Zügellosigkeit bald nach dem Sündenfall gab. Ehebruch, Vergewaltigung, Kindes­miss­brauch, Homo­sexua­lität, all das wird nicht ohne Grund in Ge­boten und Berichten in der Bibel benannt.

In der gegenwärtig stark moralisierend geführten Diskussion um die Sexualität sollten Christen besonders auf das Zueinander von Wahrheit und Liebe bei ihren Argumenten achten.

Unsere Zeit ist in dieser Hin­sicht also wahrscheinlich nicht besser oder schlechter als andere Zeiten, auch wenn sie ihre unmoralischen Eigenheiten hat. Meines Erachtens ist die aktuelle Tendenz, eine biblisch-christliche Sexualethik als schädlich oder menschenfeindlich darzustellen, das, was uns besonders beschäftigen sollte. Wer seine Kinder lehren will, dass eine Ehe und Familie nach Gottes Willen aus Mann und Frau und von ihnen gezeugten Kindern besteht, könnte bald als einer dastehen, der zu Hass und Diskriminierung anstachelt. Wer ein bestimmtes Verhalten – derzeit insbesondere eine homosexuelle Le­bens­praxis – ablehnt, kann jetzt schon als homo­phob und diskriminierend verunglimpft werden.

Wir sollten also auf die sich verändernden Sichtweisen und Lebensweisen in der Gesellschaft achten, in der wir leben, jedoch nicht mit einem nostalgischen Blick auf vermeintlich früher bessere Zeiten. Wir sollten meines Erachtens viel mehr erkennen, wie sehr wir herausgefordert sind, Liebe und Wahrheit miteinander verbunden zu bezeugen. In der gegenwärtig stark moralisierend geführten Diskussion um die Sexualität sollten Christen besonders auf das Zueinander von Wahrheit und Liebe bei ihren Argumenten achten. An Jesus sehen wir, dass er sexuelle Ausschweifungen nicht einfach verachtete, sondern mit Wahrheit und Liebe konfrontieren konnte wie bei der Frau am Jakobsbrunnen oder bei der Ehebrecherin (Joh 4 und 8). Christen dürfen sich nicht einfach mit Ekel oder Verachtung von Menschen abwenden, die in sexueller Unmoral gefangen sind, sondern müssen nach Wegen suchen, wie sie ermahnen und trösten und zurechtweisen können, um das befreiende Evangelium nahezubringen. Moralische Empörung hat eine starke Neigung zu Heuchelei. Stattdessen brauchen wir Wahrheit und Liebe, Gesetz und Evangelium, wenn wir Menschen zur Umkehr bringen möchten.

2. Der Sinn von Sexualität

Friedhelm Jung will den Sinn der Geschlecht­lichkeit und der Sexualität an erster Stelle in der Weitergabe des Lebens und der Vermehrung der Menschen sehen. An zweiter Stelle diene sie der „Beziehungspflege“. Er hat kein Problem damit, das in eine Linie mit der Tier- und Pflanzenwelt zu stellen. Ich halte die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der von Gott erschaffenen Geschlechtlichkeit auch für wegweisend. Aber ich meine, die Frage von der Bibel her anders beantworten zu müssen. Das wiederum hat entsprechende Konsequenzen.

Zur Ebenbildlichkeit des Menschen gehört die Verschiedenheit der Geschlechter und die Bezogenheit aufeinander.

Tatsächlich bekommt der Mensch, genauso wie die Tiere, den Auftrag: „Seid fruchtbar und mehret euch!“ (1Mo 1,28). Davor aber steht, dass Gott die Schöpfung des Menschen als Mann und Frau nach seinem Bild vorgenommen hat. Zum Abbild Gottes gehören demnach die Verschiedenheit der Geschlechter und damit die Bezogenheit der Geschlechter aufeinander. Paulus erinnert, als es um die Unterordnung geht, an diese Bezogenheit aufeinander (1Kor 11,11-12 ELB):

Dennoch ist im Herrn weder die Frau ohne den Mann, noch der Mann ohne die Frau. Denn wie die Frau vom Mann ist, so ist auch der Mann durch die Frau; alles aber von Gott.

Dabei denkt Paulus offenbar an den Bericht der Erschaffung von Mann und Frau im Garten Eden. Der Ausgangspunkt ist hier (1Mo 2,18):

Und Gott, der HERR, sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.

Eva ist schließlich diese Entsprechung („Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch“) und Gott setzt die erste Ehe ein, deren Grundprinzip für jede Ehe auf dieser Welt gilt.

1Mose 2,24: Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhängen, und sie werden zu einem Fleisch werden.

Die rechtliche, freundschaftliche und intime Dimension der Ehe soll die Dimensionen der Beziehung Gottes zum Menschen widerspiegeln.

Die Ehe hat damit ihren Bestand in drei miteinander verbundenen Dimensionen. Sie ist eine rechtliche Einheit. Das kommt in der Formulierung zum Ausdruck, dass ein Mann Vater und Mutter verlassen wird. Das heißt, dass ein neues Haus, eine neue rechtliche Einheit mit der Ehe begründet wird, in der der Mann nach Gottes Willen die Aufgabe des „Hauptes“ hat. Die zweite Dimension ist freundschaftliche, treue und liebevolle Verbundenheit. Mann und Frau hängen aneinander und teilen das Leben miteinander. Die dritte Dimension ist die intime Gemeinschaft. Zu dieser gehört auf jeden Fall auch die körperliche Vereinigung. Aber dabei und damit im Zusammenhang entsteht auch eine Einheit, die die Herzen der beiden Personen innig miteinander verbinden und dazu führen soll, dass sie ihr Innerstes miteinander verbinden und teilen. Paulus geht in seiner Deutung im Epheserbrief so weit, dass er diese Verbindung auf die Verbindung zwischen Christus und der Gemeinde deutet (Eph 5,32). Wenn man die Verse davor liest, in denen Paulus den Dienst von Christus für die Gemeinde in der Erlösung in eine enge Verbindung zur dienenden Hingabe des Mannes in seiner Ehe an die Frau setzt, dann ergibt sich folgender Zusammenhang:

Gott schuf die Ehe als Teil der Gottebenbildlichkeit. Mann und Frau in ihrer Bezogenheit aufeinander sollten von Anfang die Bezogenheit des Menschen zu Gott repräsentieren. Frau und Mann gehören zueinander. Mannsein und Frausein sollen sich gegenseitig bestimmen, weil der Mensch nicht ohne Gott sein kann, sondern in seinem Wesen und ganzen Sein ohne die Beziehung zu Gott nicht wahrhaftig Mensch ist. Jede Ehe auf dieser Welt soll daran erinnern, dass wir auf Gott hin erschaffen wurden und dass Gott die Abhängigkeit von ihm und die liebevolle Beziehung zu ihm immer wollte. Mit Christus und seinem Werk in der Erlösung wird wirklich, was Gott angelegt hat und was durch die Sünde zerstört war.

Unsere Geschlechtlichkeit ist ein Abbild, in das der dreieine Gott ein Element seines Wesens eingeprägt hat.

Die drei Dimensionen der Ehe, rechtlich, freundschaftlich und intim, spiegeln die Beziehung Gottes zu uns Menschen wieder. Gott hat auf der rechtlichen Ebene unsere Schuld bezahlt. Erstens hat er als Richter das Urteil gefällt, dass unsere Schuld beim Sterben von Christus am Kreuz bezahlt wurde und der „Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn weggetan und an das Kreuz geheftet“ (Kol 2,14). Er hat uns als Erben eingesetzt und uns als Kinder angenommen (Gal 3,29; Eph 1,11). Allerdings war das nicht allein ein kalter Rechtsakt aus der Distanz, sondern Gott schafft zweitens durch den Glauben auch eine vertraute Beziehung, die uns zu Freunden Gottes macht (Joh 15,13-15). Er redet zu uns, wir hören. Er sorgt für uns und wir sagen „Abba, lieber Vater“ zu ihm. Wir lieben Jesus Christus, den wir nie gesehen haben, wie Petrus sagt (1,8-9):

„Ihn habt ihr nicht gesehen und habt ihn doch lieb; und nun glaubt ihr an ihn, obwohl ihr ihn nicht seht; ihr werdet euch aber freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude, wenn ihr das Ziel eures Glaubens erlangt, nämlich der Seelen Seligkeit.“

Und drittens ist auch die innige Ver­bindung des Einsseins eine wesentliche Dimension unserer Verbindung zu Christus. Jesus spricht ausführlich mit seinen Jüngern vom Einssein (Joh 14,20):

„An jenem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch.“

Wir sollen in ihm bleiben (Joh 15,5-7). Zustande kommt diese Einheit durch das Erkennen, das uns das ewige Leben bringt: (Joh 17,3):

„Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.“

Dass im Sprachgebrauch des Alten Testa­ments die geschlechtliche Vereinigung auch öfter als Erkennen bezeichnet wird, scheint mir nicht zufällig. Wer Christus liebt, der weiß, dass das nicht nur eine Ebene des Gehorsams hat, sondern auch eine des innigen Verbundenseins.

Damit sollte klar sein, dass unsere von Gott geschaffene Geschlechtlichkeit nicht zuerst ein Instrument der Vermehrung oder der Arterhaltung durch Fortpflanzung ist. Geschlechtlichkeit ist auch mehr als körperlich sexuelle Funktionen. Sie bestimmt unser Wesen und ist ein starkes Element von Beziehung. Das gilt auch ganz unabhängig von sexueller An­zie­hung oder Erotik. Jesus Christus heißt der ewige Sohn, gezeugt in Ewigkeit von Gott, dem Vater. Gott hat damit aller Vaterschaft ihren Namen bzw. ihr Wesen gegeben (Eph 3,14-15). Unsere Geschlechtlichkeit ist ein Ab­bild, in das der dreieine Gott ein Element seines Wesens eingeprägt hat. Natürlich ist Gott nicht Vater durch Geburt eines Sohnes, sondern von Ewigkeit. In seiner Schöpfung hat Gott das abgebildet, indem er Väter und Mütter schuf, die es durch Zeugung und Geburt von Kindern werden.

Die Ehe hat die hohe Aufgabe, als Bild und Repräsentation der Beziehung Gottes zum Menschen dazusein. Die Fortpflanzung hätte Gott einfacher sicherstellen können.

Aber selbst dabei geht es nicht nur um Arterhaltung. Gott zeigt in seiner Schöpfung, dass das auf vielerlei Weise auch ganz anders möglich gewesen wäre. Für viele Tiere ist geschlechtliche Vereinigung nur einmal im Jahr ein Thema. Es gibt ungeschlechtliche Vermehrung. Einige Lachse laichen und befruchten einmal am Ende des Lebens ohne eine körperliche Verbindung mit dem anderen Geschlecht. So etwas hätte Gott auch für den Menschen machen können. Aber er hat offenbar etwas anderes gewollt. Er wollte innige Verbindung von Mann und Frau. Er wollte, dass aus dieser innigen Verbindung auch die Nachkommen hervorgehen. Wir sollten das nicht rein biologisch betrachten, sondern von der Bibel her wahrnehmen, dass Gott beschlossen hatte, dass einmal sein Sohn auf diese Weise auf die Welt kommt, als Sohn, der von einer Frau geboren wird. Auch wenn diese Zeugung durch den Heiligen Geist eine besondere sein sollte, so stellt das meines Erachtens keine Disqualifizierung von geschlechtlicher Fortpflanzung dar, als ob diese per se so unrein wäre, dass der Sohn Gottes ohne sie gezeugt werden musste. Maria war doch, anders als die römische Kirche behauptet, eine normale Frau mit Vater und Mutter und einem Stammbaum, der letztlich bis Adam und Eva zurückreicht. Der Retter sollte aus den Nachkommen Evas kommen und der Schlange den Kopf zertreten (1Mo 3,15; Gal 4,4).

Die Sexualität als Teil der Geschlechtlichkeit hat vor allem eine geistlich repräsentative Aufgabe – neben der biologischen. Meines Erachtens ist nur aus diesem Zusammenhang verständlich, warum das Thema sexuelle Rein­heit eine so herausgehobene Rolle in der bib­lischen Ethik spielt.

Repräsentativ für diesen Zusammenhang steht vielleicht die Warnung des Apostels Paulus vor der Nutzung von „sexueller Dienst­leistung“ bei der Prostitution (1Kor 6,16-20). Paulus argumentiert damit, dass die körperliche Vereinigung mit einer Prostituierten für einen Christen nicht belanglos ist, obwohl doch der Körper stirbt. Denn der Körper des Erlösten ist für die Auferstehung des Leibes bestimmt, auch wenn es ein neuer, verwandelter Leib sein wird. Denn es gibt zwar eine Diskontinuität zwischen dem alten und dem neuen Körper, aber auch eine Kontinuität (vgl. 15,35,53). Außerdem sind Christen leiblich Glieder am Leib des Christus, seiner Gemeinde (vgl 12,12-27). Darum sollen sie mit ihrem vergänglichen Körper entsprechend umgehen. Paulus sieht darüber hinaus, dass die körperliche Vereinigung außerhalb der Ehe eine Sünde von besonderer Tragweite darstellt wegen der Innigkeit, die damit verbunden ist. Weil der Heilige Geist in den Glaubenden wohnt, ist auch die geistliche Ebene immer von leiblich-sexuellen Sünden betroffen. Die ganze Argumentation mag uns heute seltsam erscheinen. Aber sie zeigt sehr deutlich, worum es bei der Geschlechtlichkeit geht.

Halten wir fest: Offenbar steht die „Beziehungspflege“ bei der körperlichen Sexualität aus biblischer Sicht an erster Stelle. Aber auch hier geht es nicht zuerst um die liebevolle Beziehung der Ehepartner um ihrer selbst willen, sondern um die Aufgabe der Ehe als Bild und Repräsentation der Beziehung Gottes zum Menschen. Die Fortpflanzung und Vermehrung des Menschen hätte Gott auch ohne das aufwendige und störanfällige Konstrukt Ehe und Familie sicherstellen können.

Ich halte es für nicht hilfreich, homosexuelles Leben oder sogenannte „Homo-Ehen“ mit dem Argu­ment abzulehnen, dass dort keine Fort­pflanzung stattfindet. Man könnte ein solches Argument aus dem Naturrecht ableiten wollen, aber kaum direkt aus der Bibel. Im Naturrecht findet sich vor allem eine allgemeine Übereinstimmung, was die Ehe zwischen Mann und Frau angeht, aber m.E. bleibt ihr Sinn dort ein Geheimnis. Warum sollte sie ein lebenslanger Bund sein, wenn es eigentlich „nur“ um die Fortpflanzung und noch das Aufziehen von Nachkommen ginge? Der Grund der biblischen Ablehnung von homosexuellem Sexualverhalten geht aus 3Mo 18 nicht klar hervor, wenn man nicht die Unterscheidung von anderen Völkern, die solches Verhalten pflegen, zum Grund machen wollte. Es steht dort in einer Reihe mit anderen sexuellen Verunreinigungen wie Inzest oder sexuellem Verkehr mit Tieren. Paulus benennt in Römer 1 allerdings einen direkten Zusammenhang zwischen dem Götzendienst, der das Geschaffene an die Stelle des Schöpfers setzt und der Überhöhung der menschlichen Begierde, die auf das Geschaffene fixiert bleibt. Dabei wird der Aspekt der Befriedigung der Lust an die oberste Stelle gesetzt und damit der Sinn von Sexualität, die nach Gottes Willen Teil der Ehebeziehung sein soll, vergötzt. Das wiederum passt gut zum Verständnis der Repräsentation von Gottes Wesen und Zuwendung in Ehe und Familie und dem Platz der Sexualität dabei. Das wäre auch unabhängig davon, ob es auch „glückliche Homo-Ehen“ geben könnte, die „erfolgreich“ adoptierte oder per Samenspende oder Leihmutterschaft gezeugte Kinder erziehen.

Die Bibel spricht recht deutlich über den gottgewollten Sinn der Geschlechtlich­keit. Unser Problem ist, dass wir oft durch eine falsche Brille lesen.

Ich halte die Argumentation von diesem primären Sinn der Ehe auch im Hinblick auf die konkrete Sexualethik für wesentlich. Die Ehe soll deswegen lebenslang bestehen und Ehebruch ist verboten. Außereheliche körperlich sexuelle „Abenteuer“ sind Untreue und Unzucht. Für die Apologetik ist es sicher auch sinnvoll, darauf zu verweisen, dass Gottes Art zu leben und mit der eigenen Sexualität umzugehen, der beste und gesündeste Weg darstellt. Die Schönheit dessen, was sich Gott mit der Sexualität des Menschen gedacht hat, kommt im ehrfürchtigen Gehorsam gegenüber Gottes Geboten und der Liebe zu Gott und seiner Weisheit am besten zur Entfaltung. Aber das leitet sich eben nicht zuerst aus der Biologie oder Psychologie ab, sondern aus dem Sinn und Ziel, mit dem Gott die Geschlechtlichkeit erschaffen hat. Darüber spricht die Bibel meines Erachtens recht deutlich. Das Problem erscheint mir eher, dass wir die Stellen oft durch eine falsche Brille lesen.

3. Die leibliche Seite der Liebe

Friedhelm Jung folgt in seiner Deutung der körperlichen Sexualität weitgehend dem Kirchenvater Augustin (354-430). Er vertrat einzelne Ansichten, die uns heute befremdlich erscheinen. Aber das wäre allein kein Grund, die Sache abzulehnen. Für Augustin war ein grundlegendes Element von Sünde die fehlgeleitete Begierde. Statt dass der Mensch auf Gott ausgerichtet ist und ihn von ganzem Herzen, ganzer Seele und allen seinen Kräften liebt, begehrt er irdische Dinge, Vergnügen, Lust oder Besitz. In diesem Zu­sam­menhang hielt er auch jedes Begehren in der Sexualität für verwerflich. Obwohl er allgemein das falsche Begehren als Sünde dargestellt hat, nimmt die Sexualität in seiner Argumentation einen hervorgehobenen Platz ein. Die Idealvorstellung von Sexualität, wie sie Gott auch im Paradies erschaffen hätte, wäre dann ein nur vom Willen gesteuertes Verhalten, das im Gehorsam Gott gegenüber das Gebot „Seid fruchtbar und mehret euch!“ erfüllte. Selbst die männliche Erektion habe vor dem Sündenfall durch den Willen funktioniert, nicht aber hervorgerufen durch körperliche Anziehung des anderen Geschlechts. Friedhelm Jung folgert daraus seine Deutung der Reinheitsgebote im Zusammenhang mit körperlich sexuellen Funktionen. Weil mit dem Sündenfall die Sexualität nicht mehr rein willensgesteuert sei, sondern mit Gefühl und Begehren verbunden ist, darum sei der Mann nach jedem Samenerguss unrein und die Frau im Zusammenhang mit der Monatsblutung. „In den Reinheitsgeboten ist alles Sexuelle mit Unreinheit assoziiert …“ schreibt er. Und auch wenn er es „zugespitzt“ nennt, so gilt für ihn doch als logische Folge: „Der Teufel hat den Sex gemacht.“ Gemeint ist offenbar, dass alles, was Menschen bei der Sexualität über den Willen zur Fortpflanzung hinaus empfinden, als sündig und damit vom Teufel ausgehend angesehen werden soll. Diese Auffassung hat die römische Kirche in ihrer Lehrbildung von der Ehe und Sexualität wesentlich geprägt, so dass die katholische Lehre nur den Wunsch nach körperlicher Vereinigung für gut hält, wenn der Wille zur Fortpflanzung der Antrieb ist. Aus diesem Grund sind dort auch Verhütungsmittel nur ausnahmsweise erlaubt.

Diese Auslegung halte ich durchaus für möglich, wenn auch nicht für sehr naheliegend. Wie Friedhelm Jung zeigt, lassen sich auch beim früheren Augustinermönch Martin Luther ähnliche Aussagen finden. Allerdings gibt es – typisch für Luther – auch eine von Augustin abweichende Sicht, in der er die eheliche Liebe hochpreisen kann (Sermon vom ehelichen Stand 1520):

„Nun seind dreierlei Liebe: falsche, naturliche, eheliche. Falsche Liebe, die such das Ihre, wie man Geld, Gut, Ehre und Weiber außer der Ehe liebet wider Gottes Gebot. Naturliche Liebe ist zwischen Vater und Kind, Bruder und Schwester, Frund und Schwäger und dergleichen. Aber uber die alle geht die eheliche Liebe, das ist ein Brautliebe, die brinnet wie das Feuer und sucht nicht mehr dann das eheliche Gemahl. Die spricht: Ich will nit das deine, ich will weder Gold noch Silber, weder dies noch das, ich will dich selb haben, ich wills ganz oder nichts haben. Alle andere Liebe suchen etwas anders, denn den sie liebet, diese allein will den Gliebten eigen selb ganz haben. Und wenn Adam nit gefallen wäre, so wäre es das lieblichste Ding gewesen, Braut und Bräutigam.“

Nach dem Fall sieht Luther diese von Gott gewollte Liebe mit der Selbstsucht vermischt, weshalb sie nicht mehr rein und ohne Sünde sein kann:

„Aber nu ist die Liebe auch nit rein, dann wiewohl ein ehlich Gemahl das ander haben will, so sucht doch auch ein iglich seine Lust an dem andern, und das fälscht diese Liebe. Derhalben ist der ehlich Stand nu nicht mehr rein und ohn Sund, und die fleischliche Anfechtung so groß und wütend worden, daß der ehlich Stand nu hinfurder gleich ein Spital der Siechen ist, auf daß sie nit in schwerer Sund fallen.“

Luther plädiert aber deswegen nicht zur Ehe­losigkeit, sondern sieht, dass sich in der ehelichen Liebe der Glaube bewähren soll.

Die Auslegung von Augustin steht ohne Zweifel unter dem Einfluss der Philosophie des Neuplatonismus, in der alles Leibliche gegenüber dem Geistigen als minderwertig angesehen wurde. Die wahre Wirklichkeit sei die Welt der Ideen, die leibliche Welt sei nur ein Schattenwurf davon. Während in der Bibel die leibliche Schöpfung aus Gottes Mund sehr gut genannt wird, kann sie das im Neuplatonismus niemals sein. Allerdings leben wir jetzt in der gefallenen Schöpfung. Das heißt, dass wir das Paradies und den Zustand einer Schöpfung ohne Tod und Sünde nicht mehr kennen. Alles Geschaffene ist davon betroffen. Über den Urstand Adams und das Leben im Paradies können wir nur spekulieren. Aber die Bibel bietet dafür kaum Anhaltspunkte, so dass wir dabei nicht zu verlässlichen Ergebnissen kommen. Unser Denken kann sich ohne Offenbarung nur im Raum der vergänglichen Schöpfung bewegen. Die Deutungen von Augustinus sind zwar denkbar. Sie führen aber zu Konsequenzen, die ich für die Auslegung für problematisch halte.

Liegt die Sünde schon darin, dass Eva und Adam die verbotene Frucht begehrenswert empfanden, oder darin, dass sie sie aus Misstrauen gegen Gott begehrten und dem nicht widerstanden?

Die Idee, eine gute Sexualität sei von jedem Lustempfinden frei und nur durch den Willen gesteuert, während die sündige Sexualität von Begehren gesteuert zur ungezügelten Begierde wird, bringt das Problem mit sich, dass damit alle Affekte als sündig in Verdacht geraten, während der reine Wille besser zu sein scheint. Liegt die Sünde schon darin, dass die verbotene Frucht im Paradies als anziehend und begehrenswert empfunden wurde (1Mo 3,6)? Oder lag die Sünde nicht darin, dass Eva und Adam sie aus Misstrauen gegen Gott begehrten und sie diesem Begehren nicht gewehrt haben? Sie wussten doch, dass es falsch war, weil es auf das falsche Objekt, die verbotene Frucht, ausgerichtet war. Im ersten Fall wäre das Begehren eines erlaubten Apfels von einem Apfelbaum auch schon sündig gewesen.

Wenn wir unsere Affekte betrachten, dann nehmen wir wahr, dass sie uns bewegen, aber dass wir ihnen nicht zugleich willenlos ausgeliefert sind. Wir haben Durst oder Hunger, unwillkürlich mag uns das Wasser im Mund zusammenlaufen, weil wir ein leckeres Essen sehen oder riechen, aber wir essen es schließlich nicht nur gesteuert von unseren Gefühlen, sondern weil wir es unter der Leitung bestimmter Werte auch wollen. Wir können fasten und aus bestimmten Gründen Hunger oder Durst eine Zeit lang aushalten. Menschen können sich sogar willentlich zu Tode hungern. Aber ist deswegen das Begehren nach Wasser und Brot oder nach Kartoffeln und Wurst schlecht? Würde man Matthäus 5,28 ohne den Zusammenhang auslegen, könnte man im Hinblick auf die Sexualität auf diese Idee kommen: „Ich aber sage euch, dass jeder, der eine Frau ansieht, sie zu begehren, schon Ehebruch mit ihr begangen hat in seinem Herzen.“ (ELB) Im Zusammenhang ist aber klar, dass es um die fremde, verheiratete Frau geht, die ein Mann nicht begehren soll. Und das Begehren ist offenbar nicht nur das Empfinden einer erotischen Anziehung, der doch widerstanden werden kann und die nicht notwendig zum Begehen des Ehebruchs im Herzen führen muss. Gemeint ist doch, dass der Ehebruch auch dann vorliegt, wenn er im Herzen oder in der Phantasie stattfindet. Das Begehren spielt dabei eine Rolle und muss kontrolliert werden. Es ist falsch, wenn es das Falsche will und wenn es dann bekommt, was es will (Jak 1,15).

Das entsprechende griechische Wort für Begehren oder Begierde ἐπιθυμίᾳ hat oft eine negative Bedeutung. Die Zu­sammenhänge ma­chen aber klar, dass es um die „fleischliche“, „unreine“, „weltliche“ Begierde geht (z.B. Röm 1,24; Gal 5,16; 2Pet 1,4; 2,10; 1Joh 2,16-17). Das liebevolle Verlangen nach einem anderen Menschen kann aber mit dem gleichen Wort bezeichnet werden. Jesus hatte ein Verlangen danach, mit seinen Jüngern das letzte Passamahl zu essen (Lk 22,15). Paulus begehrte, die Thessalonicher bald wiederzusehen, von denen er getrennt sein musste (1Thess 2,17). Ein Leitungsamt in der Gemeinde zu begehren, hält Paulus offenbar nicht für grundsätzlich falsch, wenn die Fähigkeiten und die Berufung berücksichtigt sind (1Tim 3,1). Nachdem er das Begehren nach der verheirateten Frau verurteilt hat, kann Jesus im gleichen Evangelium das Begehren der Propheten des Alten Bundes nach dem Erscheinen des Messias ganz positiv sehen (Mt 13,17). Diese Verwendung des Begriffs entspricht dem in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments.

Beim Begehren im Zusam­men­­hang mit der Sexualität erscheint mir die Sache auch nicht einfach zu sein. Muss jedes sexuelle Begehren nach einem anderen Menschen per se sündig sein? Die Sünde ist natürlich nicht weit, wie bei jedem Begehren und auch sonst bei allem, was Menschen wollen oder tun. Darf man die Wirkung von schönem Aussehen, Düften und Gefühlen zu einem Teil gottgewollter Sexualität rechnen? Die Liebeslieder im biblischen Buch Hohelied sprechen m.E. dafür. Friedhelm Jung will diese Lieder als Beschreibung von Sexualität nach dem Sünden­fall ohne Wertung deuten. Für ihn ist dort keine positive Wertung etwa über die Wirkung der anmutigen Frau und des schönen Mannes auf den Partner ausgesagt. Aus seiner Deutung einer guten Sexualität, die rein vom Willen gesteuert ist, sind sie tatsächlich eher als sündig anzusehen. Ob man die Liebeslieder im Buch Hohelied nun als Lob echter leidenschaftlicher Liebe zwischen Mann und Frau deutet oder als gleichnishafte Darstellung der Liebe zwischen Christus und seiner Braut, der Gemeinde, wie es überwiegend in der Kirchengeschichte war: Die ausgiebige Verwendung von Beschreibungen mit erotischer Sprache wäre bei einer eindeutig negativen Beurteilung jeglicher Affekte in einer guten Sexualität sehr schwer begründbar.

Nach dem Sündenfall ist kein Bereich des menschlichen Lebens von Sünde und Tod ausgenommen. Das gilt für das sexuelle Empfinden, aber auch für das Denken.

Wenn wir davon ausgehen, dass nach dem Sündenfall kein Bereich dieser Welt von den Folgen der Sünden ausgenommen ist, dann gilt das natürlich auch für das sexuelle Begehren wie für jedes Begehren. Das Denken oder der Wille sind aber ebenso wenig ohne Sünde oder dem Sündigen irgendwie ferner. Für den Willen gilt, dass man das Gute wollen kann (Röm 7,19-21), was aber den Willen nicht sündenfrei macht. Für das sexuelle Begehren ist es das Gleiche: die ungezügelte Begierde ist immer abzulehnen (1Thess 4,3-5). Begehren in den Grenzen Gottes ist der christliche Weg in einer gefallenen Schöpfung. Einen Bereich ganz ohne Sünde dürfen wir nicht erwarten.

Ein ähnliches Problem ergibt sich aus der Deutung der Reinheitsgesetze. Wenn wir annehmen, dass die Reinheitsgesetze, die im Zusammenhang mit der menschlichen Sexualität stehen, ein Beleg dafür sind, dass der Teufel den Sex gemacht hat, dann muss man fragen, welche Folgen diese Deutung für die anderen Reinheitsgesetze hat. Es besteht Einigkeit in der christlichen Ethik, dass aus den Reinheitsgesetzen im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme, die im AT zahlreich sind, keine ethisch-moralische Deutung über das Essen im Allgemeinen oder von bestimm­ten Nahrungsmitteln folgt. Das Essen von Schweinefleisch oder Schnecken ist nicht mehr oder weniger sündig als das Essen von Schaffleisch oder Heuschrecken. Hier ist zum Verständnis hilfreich, was Jesus im Hinblick auf die Reinheitsgebote beim Essen erklärte (Mk 7,18-23):

Und er spricht zu ihnen: Seid auch ihr so unverständig? Begreift ihr nicht, dass alles, was von außen in den Menschen hineingeht, ihn nicht verunreinigen kann? Denn es geht nicht in sein Herz hinein, sondern in den Bauch, und es geht heraus in den Abort. Damit erklärte er alle Speisen für rein. Er sagte aber: Was aus dem Menschen herauskommt, das verunreinigt den Menschen. Denn von innen aus dem Herzen der Menschen kommen die bösen Gedanken hervor: Unzucht, Dieberei, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, Arglist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut, Torheit; alle diese bösen Dinge kommen von innen heraus und verunreinigen den Menschen.

Ich verstehe das so, dass die Rein­heits­gebote des Alten Bundes nie dazu dienten, dass Menschen wirklich rein wurden. Es ging vielmehr darum, dass Gott mit diesen Geboten auf Schritt und Tritt und in jedem Lebenszusammenhang daran erinnerte, dass der Mensch wirkliche Reinigung von der Sünde in seinem Herzen benötigte. Die Beschneidung als Bundeszeichen diente nicht dazu anzuzeigen, dass Sexualität eigentlich böse ist, sondern ausdrücklich, dass das Herz des Menschen beschnitten werden muss, damit er heilig sein und Gott von ganzem Herzen lieben kann (5Mo 10,12-16; 3Mo 11,44-45). Inwiefern eine „Beschneidung der (sexuellen) Begierde“ darin liegen soll, wenn einem wenige Tage alten Säugling die Vorhaut entfernt wird, bliebe genauso unverständlich, wie warum ein Meerschweinchen unreiner ist als eine Ziege. Außer Gott hat es so bestimmt, bis dass Christus alle Reinheitsgesetze erfüllt, indem er die völlige Reinigung vollbringt. Bis dahin sollte der Mensch beim Essen oder beim Anziehen und auch bei Regelblutung oder Samenerguss und sonst ständig prüfen, in welchem Verhältnis er zu Gott steht. Denn darum geht es bei „rein oder unrein“. So wurde das Gesetz ein Erzieher auf Christus hin (Gal 3,24f), denn die Funktion hat Christus übernommen. Wer auf ihn sieht, der sieht Gottes Urteil über die Verdorbenheit des Menschen in seinem Herzen, die sich in allen Lebensbereichen auswirkt. Und er sieht zugleich Gottes Verge­bungs­urteil, weil Christus für unsere Sünde gestorben ist und den Schuld­brief ans Kreuz geheftet hat (Kol 2,4).

Die christliche Sexualethik sollte deswegen immer auf den primären Sinn der geschöpflichen Gabe der Sexualität verweisen. Die menschliche Geschlechtlichkeit ist ein Element der Gottebenbildlichkeit. Deswegen kann die christliche Sexualethik nicht anders, als Männer und Frauen an ihre jeweilige Verantwortung und Aufgabe erinnern, die Gott ihnen mit ihrem Geschlecht gegeben hat. Darin sollen sie Gottes Wesen repräsentieren und zu seiner Ehre leben. Verwirrung in Bezug auf die eigene Geschlechtlichkeit darf deswegen nicht zu einem Ideal stilisiert werden. Sondern wo – wie das in der gefallenen Schöpfung zu erwarten ist – Unklarheit entsteht, soll ein gesundes Vorbild von Mannsein und Frausein in den biblischen Grenzen helfen. Hier müssen Christen selbstverständlich zwischen notwendigen Unterschieden und Klischees oder diskriminierender Abwertung bestimmter Merkmale unterscheiden. Weil die Ehe von Mann und Frau eine so hohe geschöpfliche Aufgabe hat, darum darf ihre Würde nicht beschädigt werden durch Untreue, Ehebruch oder Unzucht.

Die Geschlechtlichkeit als Mann und Frau ist offenbar mehr als das Ausleben der kör­per­lichen Sexualfunktionen. Es ist eine teuf­lische Lüge, wenn sich in einer sexualisierten Gesellschaft der größte Teil der Auf­merk­samkeit darauf konzentriert. Dies entspricht nicht der Lebenswirklichkeit und macht Men­schen unglücklich. Mannsein und Frau­sein haben viele Dimensionen darüber hinaus, die auch ohne Ehebeziehung gelebt werden können. Das ist insbesondere für Ledige und Verwitwete wichtig, aber auch darüber hinaus. Identität an Sexualpraktiken bestimmen zu wollen, ist jedenfalls ein ungesunder Irrweg, der einen Ausdruck der Vergötzung von körperlicher Sexualität darstellt.

Trotz einer anderen Perspektive und dem Widerspruch zu einzelnen Ansichten, die Friedhelm Jung in seinem Beitrag entfaltet hat, gibt es in den praktischen Folgen für die Sexualethik nur geringe Unterschiede. Da ich allerdings der Meinung bin, dass für die Verkündigung der Sexualethik in der Gemeinde der Christen und nach außen in die Gesellschaft eine Entfaltung des Sinns von Geschlechtlichkeit und Sexualität notwendig ist, halte ich die Diskussion darüber für wichtig. Christliche Sexualethik steht im Kontext des Evangeliums und darf nicht zu einem moralisierend erhobenen Zeigefinger werden, um Menschen ein schlechtes Gewissen zu machen. Mit der biblischen Botschaft haben wir aber eine gute Grundlage, die auch in der gegenwärtigen Diskussion gut bestehen kann. Sie spiegelt wider, wie Gott den Menschen gemacht hat. Sie gibt gesunde Orientierung auf einem Gebiet, auf dem Menschen dringend nach Orientierung suchen.