Frage:
Kürzlich hatten wir einen Streit im Hauskreis, weil jemand vertrat, dass die alttestamentlichen Gebote, auch die 10 Gebote, für Christen nicht gelten. Wir seien „nicht unter dem Gesetz“ (Röm 6,14; Gal 5,18). Die meisten Teilnehmer widersprachen und verwiesen auch auf die evangelischen Katechismen, die die 10 Gebote für Christen lehren. Wie soll man mit so einem Streit umgehen?
Antwort:
Es lohnt sich, das Problem genau anzuschauen, denn wer vertritt, dass die alttestamentlichen Gebote nicht für Christen gelten, sagt etwas Richtiges. Allerdings umfasst eine solche Aussage nur einen Aspekt und nicht die ganze christliche Lehre vom Umgang mit den Geboten der Bibel. Es ist kaum so, dass wer das Ende aller Gebote vertritt, sagen will, dass Mord, Diebstahl oder Ehebruch für einen Christen erlaubt sind.
- 1. Frei vom Gesetz
Es ist richtig, dass sich die alttestamentlichen Gebote zum überwiegenden Teil deutlich an das Volk Gottes richten. Wenn die 10 Gebote eingeleitet werden, dann heißt es doch (2Mose 20:2-3):
„Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“
Wer nicht zu diesem Volk gehört, das Gott aus Ägypten befreit hat, bräuchte sich nicht angesprochen zu fühlen. Das Sabbatgebot sollte ausdrücklich auch für den „Fremdling“, d.h. einen Nichtjuden oder Ausländer, gelten und auch für Rind und Esel (20,10; 5Mo 5,14). Die Reinheitsgebote, wie sie besonders im 3. Buch Mose reichlich vorhanden sind, ebenso wie die Opfergesetze galten aber für Nichtjuden nicht. Das Opfern am Tempel war den fremden Völkern sogar unmöglich. Unter den ersten Christen gab es über den Geltungsbereich der Gebote offenbar sobald Meinungsverschiedenheiten, wie die ersten Nichtjuden zum Glauben an Jesus Christus gefunden hatten. Einige forderten, dass insbesondere die Beschneidung gemäß dem Gesetz durchgeführt werden musste, andere wollten auch die Reinheitsgebote und die Heiligung der Sabbate und jüdischen Feste einhalten. Nach den Beratungen der Apostel wird von den Nichtjuden wegen der Rücksichtnahme auf die gläubigen Juden nur Folgendes gefordert (Apg 21,25 NEÜ):
„Und was die Nichtjuden betrifft, die zum Glauben gekommen sind, haben wir ja schon eine Entscheidung getroffen. Wir haben ihnen brieflich mitgeteilt, dass sie kein Fleisch von Götzenopfern essen sollen, dass sie kein Blut genießen und kein Fleisch, das nicht richtig ausgeblutet ist, und dass sie sich vor jeder Unmoral hüten.“
Die Korinther waren es, die aus der Erkenntnis, dass sie nicht mehr unter dem Gesetz sind, schlossen, dass dann nichts verboten und mithin alles erlaubt ist.
Bei den Korinthern hatte Paulus an der Frage nach dem Götzenopferfleisch deutlich gemacht, dass selbst diese Bestimmungen eine Rücksichtnahme darstellen und das Essen von Opferfleisch nicht an sich schlecht ist oder mit den Götzen verbindet, denen das Tier bei seiner Schlachtung geweiht wurde (1Kor 8). Die Korinther waren es auch, die aus der Erkenntnis, dass sie nicht mehr unter dem Gesetz sind, schlossen, dass dann nichts verboten und mithin alles erlaubt ist. Paulus spielt wohl darauf an (1Korinther 6,12):
„Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangennehmen.“
Dass der sexuelle Verkehr mit Prostituierten für einen Christen trotzdem nicht infrage kommt, hat Paulus genau begründet, aber auch hier nicht einfach auf ein Gebot oder Verbot verwiesen (1Kor 6,12-20).
- 2. Unterscheidung der Gesetze
Ein Versuch, das Problem zu lösen, war die Unterscheidung der Gesetze in verschiedene Kategorien. Das Moralgesetz, also alle Gebote, die moralisches Handeln regeln, gelten auch für Christen. Das Zeremonialgesetz, alle Gesetze, die Opfer und Gottesdienst betreffen, gelten nicht mehr. Das Judizialgesetz, alle Gebote, die die Ordnung des Staates, Strafen für Verbrechen oder Vergehen und ähnliches regeln, können für einen christlichen Staat hilfreiches Vorbild sein, sind aber auch nicht verbindlich. Diese Unterscheidung findet sich schon bei einigen Kirchenvätern und ist auch später in der Reformation so vertreten worden.
Eine solche Unterscheidung ist grundsätzlich hilfreich, auch wenn sich z.B. zeigt, dass das Moralgesetz und das Judizialgesetz in den Geboten sehr eng miteinander verbunden sind. Es ist nicht nur der Ehebruch verboten (Moralgesetz), sondern auch mit der Todesstrafe bedroht (Judizialgesetz). Allerdings könnte man sagen, dass diese Abtrennung der irdischen Strafandrohung in den ethisch-moralischen Geboten des Neuen Testaments auch zu beobachten ist. Für die Gemeinde geht der Blick auf das ewige Gericht Gottes, aber sie selbst bestraft auch schwerste moralische Vergehen nicht. Allerdings sieht sie, dass die staatliche Gewalt als „Dienerin Gottes“ die moralischen Vergehen weiter bestraft und hält das für gut. Römer 13,3-4 (LU84):
„Denn vor denen, die Gewalt haben, muss man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes; so wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst: sie ist Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut.“
- 3. Liebesethik mit Geboten
Die 10 Gebote gelten im NT aber nicht einfach als abgeschafft, wenn man einmal von der Besonderheit des Sabbatgebotes absieht. Paulus hat sich öfter ausdrücklich auf die Gebote bezogen: auf das Gebot, die Eltern zu ehren in Epheser 6,2-3; auf das Verbot, fremden Besitz zu begehren in Römer 7,7; auf die Gebote, die das Miteinander unter den Menschen regeln, die sogenannte zweite Tafel, in Röm 13,9 und 1Tim 1,8-11. Diese letzten beiden Stellen machen aber auch etwas davon deutlich, wie mit den Geboten umgegangen werden soll. In 1Timotheus 1,8 sagt Paulus, dass es für den Christen einen „rechten Gebrauch“ der Gebote geben muss. Da das Gesetz das Gute nicht bewirken kann, was es fordert, ist es eine Drohung für den Nichtglaubenden. Der Glaubende braucht diese Funktion des Gesetzes nicht mehr, weil er im Glauben aus Liebe tun will, was Gott gefällt (Joh 14,15+21). In diesem Sinne verbindet auch Paulus in Römer 13,8-10 die Gebote mit dem Gebot der Liebe:
„Seid niemand etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“
Praktisch heißt das, dass Christen die Gebote danach befragen, was Gott sich dabei gedacht hat. Aus Liebe wollen sie so leben, wie es Gott gefällt und nicht nur tun, was nötig ist.
Praktisch heißt das, dass Christen die Gebote danach befragen, was Gott sich dabei gedacht hat. Aus Liebe wollen sie so leben, wie es Gott gefällt. Dabei lernen sie am meisten aus den Moralgesetzen, aber auch die anderen sind nicht einfach überflüssig, sondern lehren Christus, sein Werk, sein Sterben und Auferstehen richtig zu verstehen. Eine christliche Ethik, die Rechenschaft darüber gibt, wie ein gutes Leben nach dem Willen Gottes für einen Christen gelebt werden kann, wird aus den Geboten lernen wollen, wie sich Gott die Welt und unser Leben vorgestellt hat und das entsprechend anwenden. Luther hat mit seinem kleinen Katechismus und der Erklärung der Gebote darin genau das getan. Er hat kein neues Gesetz für Christen mit den Geboten aufgerichtet, sondern in knappen Worten den Sinn und die Absicht Gottes entfaltet. Dadurch sollte sich der Christ aufgefordert sehen, Gott zu fürchten und zu lieben. Aus Liebe und in der Gewissheit, dass er durch Christus vor Gott gerecht geworden ist, soll er ein Leben zu Gottes Ehre führen.
Der Christ weiß, wie reich ihn Gott beschenkt hat, indem er sogar seinen einzigen Sohn zur Erlösung gab (Röm 8,32). Er kennt die Liebe seines Gottes, der ihn mit allem versorgt, was er braucht.
Wenn wir uns anschauen, wie bei Forderungen an christliches Leben im Neuen Testament jeweils argumentiert wird, dann zeigt uns das, wie die christliche Ethik eine Liebesethik ist, die ihrem Nächsten das Beste will und Gott ehren. Wenn Paulus etwa fordert (Eph 4,28): „Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann“, dann steht dahinter mehr als ein „Du sollst nicht …“. Der Christ weiß, wie reich ihn Gott beschenkt hat, indem er sogar seinen einzigen Sohn zur Erlösung gab (Röm 8,32). Er kennt die Liebe seines Gottes, der ihn mit allem versorgt, was er braucht. Darum will er weder seinem Nächsten schaden, indem er ihn bestiehlt, noch seinen Gott beschuldigen, ihn nicht recht zu versorgen. Er will das Gegenteil. Mit Fleiß will er arbeiten und wenn er den Segen erfährt, dass Gott das „nötige Gut“ schenkt und noch etwas darüber hinaus, dann will er seinem Nächsten Gutes tun und seinen Gott ehren, indem er bezeugt, das er so reich beschenkt wurde, dass er weiterschenken kann. So erfüllt er das Gebot, ohne unter dem Gesetz zu sein. Und er tut noch viel mehr, als das Gesetz fordert.