Der US-amerikanische Pastor und Evangelist Francis Schaeffer (1912-1984) kämpfte in den 70er Jahren an prominenter Stelle gegen die Entscheidung des obersten Gerichtshofes, der 1973 die Bestimmungen zur Abtreibung lockerte. Ihm wurde später angelastet, dass er zum Erstarken der Rechten in den USA beigetragen habe. Dem Buch The Christian Manifesto war 1983 der Text Whatever Happened to the Human Race? vorangegangen. Diesen hatte er zusammen mit dem 1982-89 im Amt stehenden Surgeon General Everett Koop (1916-2013) verfasst.
Francis Schaeffer war sein Leben lang überzeugter Verfechter einer christlichen Weltsicht. In diesem Spätwerk suchte er das, was er in seiner Trilogie zum Denken des 20. Jahrhunderts erarbeitet hatte – den drei zentralen Büchern, die seine christliche Sicht auf Welt und Leben, erschienen in den Jahren der sexuellen Revolution Ende der 1960er Jahre –, auf den Bereich der Staatsethik, insbesondere die Frage nach dem zivilen Ungehorsam, auszuweiten.
Der Vorwurf des platonischen Christentums
Der christliche Glaube ist nicht auf den inneren Bereich des Herzens beschränkt.
Schaeffer begründete die Problematik der Christen damit, dass viele ein platonisches Christentum lebten. Er meinte, dass sie den Glauben auf den inneren Bereich des Herzens beschränken. Das bedeutete für den „bürgerlichen“ Bereich des Lebens, dass Christen keine Antworten auf die Fragen der Zeit zu geben brauchten, sondern sich aus dem heiklen Terrain zurückzogen. Da das Leben jedoch eine Positionierung verlangt, landeten sie selbst meistens in den Reihen der Nachkriegs-Mittelklasse, deren Werte sie übernahmen. Schaeffer sprach oft von den beiden Restwerten Sicherheit und Wohlstand, also die Vermehrung des Besitzes bei gleichzeitigem Unbehelligt-Bleiben. Wie Schaeffer am Anfang von A Christian Manifesto sagt:
Das Leben wird so in viele Einzelteile zerlegt. Jede Einzelfrage wird unabhängig von der dahinterliegenden Weltsicht pragmatisch entschieden. Es wird der Weg gewählt, der Wohlstand und Sicherheit gewährleistet.
Schaeffer beklagt: „Die Kirche hat somit aufgehört, das Salz der Kultur zu sein.“ Wahres geistliches Leben deckt die gesamte Realität ab und beschränkt sich nicht auf die innere oder zukünftige Welt.
Das humanistische Weltbild als Gegenentwurf
Als Gegenstück zu diesem inneren Rückzug sieht Schaeffer die Entwicklung im öffentlichen Raum: Das humanistische Weltbild, das als Grundlage ein endliches Universum ohne Schöpfergott annimmt, steht der christlichen Weltsicht in dessen gelebter Konsequenz diametral gegenüber. Sie kann staatsrechtlich keine letzte Instanz außerhalb ihrer selbst verorten. Dann aber sind der Staat bzw. die Regierenden nicht mehr auf einen transzendenten Gott rückgebunden, der verlässliche Grundlagen für Gesetze vorgibt. An die Stelle der Maßstäbe Gottes tritt der aktuelle gesellschaftliche Konsens, der von Expertengruppen ausgearbeitet wird und den Menschen vorschreibt, wie gutes Leben auszusehen hat.
Wenn die christliche Verhältnisbestimmung von Freiheit und Grenzen aus der Gesellschaft verdrängt wird, entstehen verschiedene Formen der Tyrannei.
Auf diese Weise kann vordergründig die Balance zwischen Form und Freiheit gewahrt werden. Das ist jedoch zu kurzfristig gedacht. Weshalb? Weil diese Balance in den nach-christlichen Ländern substanziell durch die christliche Weltsicht zustande kam und getragen wurde. Auf mittel- und langfristige Sicht würde sie also verlorengehen und in eine neue Form der Tyrannei führen. So war es in anderen Systemen als Realität sichtbar, man nehme nur den kommunistischen Ostblock.
Das „gute Leben“ wird einerseits vom Staat mittels Gesetzen vorgeschrieben andererseits vom gesellschaftlichen Konsens, der – wie wir heute wissen – in das Diktat des „Political Correctness“ führt. Das ist eine Konsequenz der Vorgabe dieser neuen Toleranz. Bei ihr steht nicht mehr die Akzeptanz von anderen Positionen auf der Grundlage einer eigenen festen Überzeugung im Vordergrund. Vielmehr müssen alle Überzeugungen gleichwertig nebeneinander stehen. Da bleibt allerdings kein Platz mehr für die Überzeugung der Existenz einer übergeordneten Wahrheit, die erstrebt werden soll. Sie wird ausgeschlossen. Die Voraussetzung eines allgemein gültigen Moralgesetzes ist eine Begleiterscheinung der christlichen Weltsicht. Diese Sicht wird jedoch als „diskriminierend“ abgelehnt und fällt damit selbst der Diskriminierung anheim.
Ausschluss des christlichen Glaubens vom öffentlichen Markt der Ideen
Die Trennung von Kirche und Staat, so betont Schaeffer, sei bereits bei der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika vorausgesetzt worden. Diese sinnvolle Trennlinie wurde jedoch neu an ganz anderer Stelle vollzogen: Neu wird die Religion generell – insbesondere die christliche – aus dem öffentlichen Raum verbannt. Damit ist eine wesentliche Errungenschaft der christlich geprägten Länder verloren gegangen.
Die christliche Weltsicht wird durch eine säkulare „Leitreligion“ vom Markt der Meinungen ausgeschlossen. Schaeffer sprach zwar noch nicht von der säkularen Leitreligion, hat diese Entwicklung jedoch deutlich vorausgesehen. Anfang der 1980er-Jahre erblickte er während der Amtszeit von Jimmy Carter und Ronald Reagan zwar offene Türen für die christliche Weltsicht und er empfahl den Christen, sie zu nutzen. Ebenso merkte er deutlich an, dass man die Möglichkeit bedenken sollte, dass diese Türen schnell wieder geschlossen würden. Die Christen sollten also dem Zeitgeist voraus sein, statt ihm nur hinterher zu hinken.
Staatliche Gesetze als Ausdruck der Erfahrung endlicher Menschen
Auf welche Prinzipien führte Schaeffer die christliche Staatsethik zurück? Am Anfang steht der persönlich-unendliche Gott, der alle Dinge inklusive aller gedanklichen Möglichkeiten ins Dasein gerufen hat. Gott verleiht dem Menschen unveräußerliche Rechte, zu denen auch die Autorität der staatlichen Repräsentanten gehört. Diese Autorität ist jedoch stets von der göttlichen abgeleitet, also keine ursprüngliche. Das bedeutete, dass die Herrschenden ein Gesetz über sich anerkennen mussten. Solange die westlichen Länder und insbesondere die von der reformierten Theologie geprägten (Niederlande, Schottland, Schweiz, USA) ein solch allgemeines Gesetz voraussetzten, war die Balance von Form (Gottes Gesetz, ausgedrückt in staatlichen Gesetzen und Verordnungen) und Freiheit (Freiraum für die Entwicklung von Familie, Kirche
und Wirtschaft) gegeben. Durch den Ersatz der christlichen Weltsicht mit dem humanistischen Gegenentwurf brach diese Kontinuität jäh ab. Das oberste Gesetz basiert nun auf sogenannten soziologischen Erkenntnissen und Evidenzen, die von Experten als passend erachtet werden.
Sich ändernde Erkenntnisse sind als Grundlage für eine staatliche Ordnung nicht ausreichend. Es braucht ewige Ordnungen, die von Gott kommen.
Die Grundlage dafür ist jedoch nicht Gottes übergeordnetes Gesetz, sondern die endliche Erfahrung von Menschen. Diese Erkenntnisse werden in Gesetze umgegossen. Als scheinbar unpersönlicher Repräsentant fungiert der Staat – als Vertreter der Interessen seiner Bürger und setzt die Leitlinien für Familie, Wirtschaft und Kirche. Es entbrennt ein ständiger Kampf um Macht und Einfluss.
Die Umkehr der Beweislast
Ein perfektes Beispiel für die innerweltliche Verankerung stellten die neuen Gesetze dar, die der oberste Gerichtshof der USA zur Abtreibung zuließ. Die Beweislast war nun umgekehrt worden. Nicht der Staat mit den neu erlassenen Gesetzen stand in der Pflicht, den Nachweis für die Gesetzmäßigkeit bzw. -widrigkeit der Regelungen zu erbringen. Vielmehr waren jetzt die Kläger gefordert, Beweise für die Widerrechtlichkeit darzustellen. Sie konnten sich jedoch nicht mehr auf ein vorrangiges Moralgesetz stützen. Für diese Umkehr machte Schaeffer letztlich die Passivität der christlichen Kirche verantwortlich. Sie habe es verpasst, „Salz der Kultur“ zu sein. Was meinte er genau damit?
Schaeffer orientierte sich an der Theologie von reformierten Ethikern, vorab dem Schotten Samuel Rutherford (1600-1661). Dessen Werk Lex Rex deutete im Titel das dahinter stehende Paradigma an. Das Gesetz richtete sich nicht nach dem König wie im staatlichen Absolutismus seiner Zeit. Der König hatte sich vielmehr nach dem übergeordneten göttlichen Gesetz zu richten. Schaeffer verweist auf den Leitspruch von William Penn (Gründervater der USA, 1644-1718):
Wenn Gott nicht regiert, ist die einzige Alternative die Tyrannei.
Diese Theologen bezogen diese grundsätzliche Reihenfolge auf das Staatswesen. Das heißt, es stand dem Bürger nach Rutherford ein Widerstandsrecht zu. Wenn ein Herrscher gegen Gottes Gesetze lebte bzw. widergöttliche Ordnungen durchsetzte, war er sogar verpflichtet, dagegen aufzustehen. Wer dies nicht tat, machte sich der Teilnahme an einem widergöttlichen System schuldig. Schaeffer machte diese konsequente staatsethische Haltung innerhalb Schottlands dafür verantwortlich, dass der Inselstaat von einer Revolution in der Art Frankreichs verschont wurde. Als Egalitarismus angepriesen, beraubte die Französische Revolution dem Bürger Freiraum und Sicherheit, verbannte den allmächtigen Gott aus dem Staat und brachte innerhalb kürzester Zeit eine willkürlich neue Elite hervor. Kehren wir aber zurück ins 20. bzw. 21. Jahrhundert.
Der Schutz des ungeborenen Lebens und der Einfluss der Bildung
Die kritische Frage lautet an dieser Stelle: Inwiefern sind Christen heute zum zivilen Ungehorsam verpflichtet? Anders formuliert: Wo liegen die Grenzen ihres Gehorsams?
Zwei Beispiele stehen bei Schaeffer an prominenter Stelle, nämlich die Abtreibung ungeborener Kinder und die formellen und inhaltlichen Vorschriften einer zentralisierten „Beamtenbürokratur“. Beide setzen nicht von ungefähr bei den Schwächsten an, für Ungeborene in der ersten, formativen Phase menschlichen Lebens. Platt ausgedrückt: Wer darf auf die Welt kommen? Wie werden die inneren Denkvoraussetzungen geformt und geprägt?
Es ist kein Wunder, dass der Staat Einfluss nehmen muss. Es gibt schließlich keinen Menschen ohne Gesetz. Die Frage ist jedoch, nach welchen weltanschaulichen Kriterien Gesetze erlassen werden. Wenn die Würde des Menschen nicht mehr an die Existenz eines persönlich-unendlichen Gottes gekoppelt ist und es nicht darum geht, sich nach seinem Gesetz zu richten, dann muss es eine alternative Orientierung geben. Beispielsweise steht eigene Wohlfahrt auch auf Kosten der nächsten Generation vorne an oder funktionale Tüchtigkeit von Körperorganen zur Reduktion von Folgekosten. Sobald ein atheistisches Weltbild installiert ist, bewirkt das eine niedrigere Sicht auf den Menschen. Wir brauchen nicht zu den beiden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts zurückzugehen, um die entmenschlichenden Konsequenzen vor Augen zu führen. Heute betrifft es ungeborene Kinder und zunehmend alte Menschen.
Wo liegen die Grenzen des zivilen Gehorsams?
Schaeffer sah drei Stufen des zivilen Ungehorsams: erstens den Protest. Dieser soll so lange ausgeführt werden, wie Hoffnung für Änderung vorhanden ist. Er ist das erste und wichtigste Instrument zivilen Ungehorsams. Schaeffers theologische Begründung lautet dabei: Das Recht Gottes steht nicht gleichwertig oder getrennt vom Recht des Staates. Gottes Recht steht vielmehr über dem Recht des Staates. Wo eine widergöttliche Weltanschauung zu entsprechenden gesetzlichen Regelungen führt, ist der Christ zu Widerstand berechtigt, ja sogar verpflichtet. Im Falle der Abtreibung sieht Schaeffer darin z.B. Versuche, neue gesetzliche Regelungen einzubringen bzw. die bestehenden über den Gerichtsweg anzufechten.
Richtet der Protest nichts aus, gibt es die zweite Stufe der Flucht. Christen verlassen das jeweilige Staatsgebiet. Im Falle der Bildung – der Frage des Vorrangs der Eltern zur Wahl der Bildungsform und zur Verweigerung bestimmter Inhalte – machen Christen davon immer wieder Gebrauch.
Der dritte Schritt ist der problematischste: Schaeffer spricht von Machtausübung. Diese sei von zielloser Gewalt deutlich zu unterscheiden. Im Falle der Abtreibung könnten Christen z.B. friedlich versuchen, Abtreibungskliniken an der Ausübung ihrer Tätigkeit zu hindern.
Anfrage: Wie leben wir in einem widergöttlichen Staat?
Eine Frage taucht an dieser Stelle auf. War der widergöttliche Staat nicht die vorherrschende Realität der gesamten Kirchengeschichte? Ich denke dabei an die Christen in den ersten Jahrhunderten, die sich weigerten, dem römischen Kaiser eben diesen Titel so zuzugestehen, dass sie ihm opferten.
Viele Christen auf der ganzen Welt lassen sich auch durch Bedrohung und Verfolgung nicht davon abbringen, ihren Glauben zu leben.
Ebenso steht mir die heutige Situation verfolgter Christen vor Augen. Diese lassen sich nicht davon abhalten, ihren christlichen Glauben auszuüben. Wenn es jedoch darum geht, dass ihr Besitz oder gar Leben angetastet wird, so nehmen sie es in Kauf. Beim längeren Nachdenken könnte man gerade dieses Argument umkehren. Ich bin überzeugt, dass Schaeffer dies getan hätte. Wenn wir nicht einmal bereit sind, Geldbußen, Strafandrohung oder Diskriminierung in Kauf zu nehmen, wenn wir für die Rechte Ungeborener einstehen oder für die Bildung der nächsten Generation der Kinder, wie wird es dann kommen, wenn härtere Konsequenzen als Preis für unseren Glauben eingefordert werden? Wie können wir standhaft stehen bleiben, wenn es um unseren Glauben geht, wenn wir bereits in Fragen der Political Correctness ängstlich schweigen und uns in unser privates Kämmerlein zurückziehen?
Verlust des inneren Freiraums
Wer die Möglichkeit des aktiven Widerstands nicht in Betracht ziehe, der habe innerlich einen Teil der (notwendigen) Freiheit preisgegeben und sich an ein widergöttliches System verkauft. Diese drastische Konsequenz zieht Schaeffer. Auf die heutige Situation angewandt: Die Regierenden verfolgen weithin die Agenda eines humanistischen Weltbildes. Eine Regelung nach der anderen wird gegen die christliche Weltsicht durchgesetzt. Wir Christen sind gefordert, zu diesen Dingen nicht zu schweigen.
Leider geben viele Christen ein ähnliches Bild ab wie es Schaeffer vor 30 Jahren in den USA sah. Viele kennen kaum Argumente, sondern sind damit beschäftigt, sich selbst zu unterhalten und ein geruhsames Leben zu führen. Wer sich vehement für das Leben Ungeborener einsetzt, erntet nicht selten bestenfalls ein Lächeln oder den Stempel eines Aktivisten. Man muss sich deshalb nicht wundern, dass auch glaubensnahe Themen von den Christen nicht mehr adäquat verteidigt werden können. Ich denke an das christliche Verständnis von Ehe und Familie, an die Verantwortung der Familie für die Kindererziehung, die Seelsorge oder die würdevolle Betreuung von alten Menschen. Viele ehemals christliche Organisationen haben ihr Gewand abgelegt und sind säkularisiert.
Christen bilden kleine Gegenkulturen
Ich bin gespannt, ob die Sonne – bildlich gesprochen – über Europa wieder aufgeht. Sie wird dort scheinen, wo einzelne Christen, Familien und Gemeinden aufstehen und bewusst eine Gegen-Kultur leben, die sich nach Gottes Ordnung richtet. Sie werden dabei teilweise neue Institutionen schaffen müssen. Dies tun sie nicht, weil sie prinzipiell Nein-Sager sind, sondern weil Gottes Willen ihnen vor dem staatlichen Gesetz gilt. Durch seine Gnade wird es sogar möglich sein, dass die christliche Gemeinschaft in einem Staat wieder spürbar wird. Genau das meinte Francis Schaeffer.
Je deutlicher sich eine Gesellschaft von Gottes Ordnung entfernt, desto klarer wird sich die Schönheit gelebter christlicher Ordnung zeigen.
Er hielt dabei zwei Dinge hoch: Die Orthodoxie der Lehre und die Orthodoxie der G e m e i n s c h a f t , sprich die Anerkennung der gesamten Schrift gepaart mit liebevollen Beziehungen. Daran wird deutlich, dass sich unser Profl in der säkularen Umgebung verlieren wird, wenn wir das eine oder das andere aufgeben. Umgekehrt heißt es: Je deutlicher sich eine Gesellschaft von Gottes Ordnung entfernt, desto klarer hebt sich die Kontur von überzeugten Christen ab. Das ist eine Chance für unsere Generation, ehrbare Botschafter unseres mächtigen Königs zu sein.