Was bewegte Sie zu Ihrem Buch „The Rise and Triumph of the Modern Self“ und mit „Strange New World“ noch nachzulegen?
Der Anfang liegt wohl in einigen Überlegungen meines Freundes, dem Journalisten Rod Dreher, und einer Einleitung, die ich zu Philip Rieffs Buch bei Crossway schrieb. Als ich mich darauf vorbereitete, wurde mir klar, dass ein interessanteres und hilfreicheres Buch die Gedanken von Rieff auf unsere gegenwärtige Situation anwenden sollte, insbesondere in Hinsicht darauf, wie die LGBTQ+-Bewegung die westliche Kultur verändert hat.
Was erhoffen Sie sich, mit dem Buch zu bewirken?
Ich hoffe, dass es für die Leser die Ursprünge und die Reichweite der Umwälzung deutlich macht, die sich in den letzten 50 Jahren in der Vorstellung vom Selbst auf dramatische Weise in der westlichen Kultur vollzogen hat. Die Wurzeln sind tief und in gewisser Hinsicht sind wir alle mitschuldig, so dass ein paar kleine Reparaturen, wie die Wahl des richtigen Präsidenten oder die Einsetzung des passenden Richters, die Situation nicht grundlegend verändern werden.
Was ist denn die moderne Sicht des Selbst und der Persönlichkeit?
Das Selbst wird weitgehend mit inneren, psychologischen Gedanken und Gefühlen identifiziert. Nur so konnte die Trans-Ideologie so plausibel werden. Persönlichkeit wird mit dem Selbstbewusstsein gleichgesetzt. So setzt sich zunehmend durch, dass Babys im Mutterleib oder Menschen mit Demenz als ohne Persönlichkeit angesehen werden und man ihnen deswegen auch Rechte abspricht.
Wie hat diese Sicht das Denken über die Ethik geformt?
Der Verlust einer allgemein anerkannten Sicht der menschlichen Natur und wofür Menschen leben, hat dazu geführt, dass Ethik zu einer Sache konkurrierender individueller Rechte wurde, bei denen typischerweise über richtig und falsch entschieden werden kann nach den jeweiligen kulturellen Vorlieben. Der Anspruch, ob etwas moralisch richtig oder falsch ist, ist nun wesentlich zu einer Aussage über kulturelle Vorlieben und Nützlichkeit geworden. Was immer den Einzelnen glücklich machen kann, wird zum bestimmenden ethischen Anspruch.
Wie konnten die Ideen der sexuellen Revolution den öffentlichen Diskurs der westlichen Zivilisation so dominieren und den Weg in die Kirchen finden?
Wenn Sexualität erst einmal gleichgesetzt wird mit menschlicher Identität, werden Gesetze und Sitten, die mit sexuellem Verhalten verbunden sind, unvermeidlich politisch.
Wenn Sexualität erst einmal gleichgesetzt wird mit menschlicher Identität, werden Gesetze und Sitten, die mit sexuellem Verhalten verbunden sind, unvermeidlich politisch. Das erscheint eine plausible Gleichsetzung, weil sexuelle Wünsche für die meisten von uns zu den stärksten Erfahrungen gehören. Wenn wir allerdings auf unser sexuelles Verhalten festgelegt werden, dann bestimmt die Gesellschaft darüber, wer wir sein dürfen. Bekanntlich gilt: Sex sells. Kinofilme und Fernsehserien, das Internet und die Werbung, alles drängt uns, über uns selbst in sexuellen Kategorien zu denken. Das verstärkt die politische Tendenz der sexuellen Revolution.
Für die Kirche gilt, dass wir in dieser Welt leben und viele ihrer Entwicklungen in uns aufnehmen, ohne das wir es wirklich merken. Denken wir an die einvernehmliche Scheidung. Dabei geht man davon aus, dass die Ehe eine gefühlsmäßige Verbindung zwischen zwei Menschen ist, die aufgelöst werden kann, wenn sie die beiden Vertragspartner nicht mehr länger glücklich macht. Das ist die Sicht der Welt auf die Ehe, nicht die der Bibel. Aber wie viele unserer Kirchen haben noch einen klaren Standpunkt zum Thema einvernehmliche Ehescheidung?
Wie können Christen zwischen begründeten und unbegründeten Ansprüchen im Hinblick auf Ungerechtigkeit unterscheiden?
Das kann schwierig sein, weil wir wissen, dass wir in der Welt nach dem Sündenfall leben und dass Ungerechtigkeit überall Wirklichkeit ist. Aber wir sind uns klar, dass der Sündenfall uns genauso betrifft und genauso unsere Institutionen, so dass sie in sich selbst auch unzuverlässig sind im Urteil darüber, was recht und unrecht ist. Zwei Dinge aber sollten in unserer Herangehensweise wesentlich für uns sein. Wir müssen zuerst wahrnehmen, dass alle Menschen nach dem Bild Gottes geschaffen wurden. Das verleiht allen Menschen eine gleiche Würde einfach nur durch ihr Menschsein. Zweitens bedeutet das Bild Gottes und die unveräußerliche Würde, dass wir auch für etwas gemacht wurden. Wir haben Ziele, Aufgaben und auch Verpflichtungen und nicht nur Rechte. Deswegen reicht es nicht aus, Gerechtigkeit nur so verwirklichen zu wollen, dass man jedem Einzelnen erlaubt, dass seine individuellen Rechte die Grenzen seines Lebens bestimmen. Wir müssen das auch in Kategorien denken, die es Menschen erlaubt, ihr Leben innerhalb dessen zu deuten, wozu Menschen erschaffen wurden. Das schließt zum Beispiel ein, dass wir für andere da sein müssen. Das muss uns schließlich dazu führen, eine Anthropologie herauszubilden, die die ethische Sicht der Bibel einschließt.
Wie unterscheidet sich das säkulare Verständnis der Persönlichkeit von der Lehre über die Persönlichkeit innerhalb der christlichen Anthropologie?
Abhängigkeit und nicht totale Freiheit wird eine biblische Anthropologie im Zentrum dessen sehen, was die menschliche Person ausmacht.
Die biblische Sicht auf die Persönlichkeit beginnt nicht mit psychologischen Kategorien oder einem Focus auf die Gefühle. Sie richtet sich auf unser Sein als Abbild Gottes. Das bedeutet zum Beispiel, das auch das Baby im Bauch seiner Mutter seine Würde hat, obwohl es ein sehr begrenztes oder – im frühen Stadium nach der Empfängnis – kein Selbstbewusstsein besitzt. Dasselbe gilt für eine Person mit Demenz. Abhängigkeit wird eine biblische Anthropologie im Zentrum dessen sehen, was die menschliche Person ausmacht: Ich wurde gezeugt und geboren in Abhängigkeit von anderen, ein Status, aus dem ich im Laufe des Lebens nur teilweise herauswachse und in späteren Jahren auch wieder zurückfalle. Wir sind Individuen also gar nicht in einem strengen Sinn, sondern immer abhängige Geschöpfe. Das macht einen großen Unterschied in der Weise, wie wir über uns und andere denken sollen.
Was ist denn ein starker Individualismus? Was ist daran richtig und was falsch?
Individualismus ist die Überzeugung, dass jede Person auf der Basis ihrer innersten Gefühle und Intuitionen handeln muss. Nur so werden sie „authentisch“ oder anders ausgedrückt, sie werden wirklich sie selbst. Richtig daran ist, dass unser Inneres, unsere Gedanken und Empfindungen, ein wichtiger Teil dessen ist, wer wir sind. Falsch ist aber, dass die Sicht dazu tendiert, dass die äußere Welt dem individuellen Glück dienen muss. Dann werden andere Personen, Institutionen und kulturellen Traditionen leicht in einem feindlichen Licht gesehen, so als ob sie die Möglichkeit des Individuums zur Selbstverwirklichung gefährden. Innerhalb der Trans-Ideologie wird sogar der Körper zu einem Problem, das überwunden werden muss, wenn er dem inneren Fühlen widerspricht.
In Ihrem Buch schreiben Sie: „Wenn es darum geht, wie wir uns selbst denken, sind wir alle inzwischen ausgesprochene Individualisten und es gibt keinen Weg dieser Tatsache zu entkommen.“ Können Sie das erklären?
Der Individualismus ist die Luft, die wir atmen. Bei der Mode heißt es: „Ich trage diese Kleidung, um mich selbst damit auszudrücken.“, in der Kirche: „Ich besuche diese Gemeinde, weil der Gottesdienst mich anspricht.“ Wir tendieren dazu, als Konsumenten der Dinge aufzutreten, die uns glücklich machen sollen und uns öffentlich so darzustellen, wie wir uns innerlich fühlen. Das ist eine Funktion von Freiheit, die an sich gut ist, aber sie fordert auch ihren Preis.
Welche Herausforderungen werden auf die Christen in den nächsten Jahren zukommen als Folge des Triumphs des modernen Selbstverständnisses? Was können Gemeinden und Einzelne tun, um sich darauf einzustellen?
In einer Welt eines starken Individualismus ist es unvermeidlich, dass nicht alle Darstellungen des Selbst nebeneinander bestehen können. Wir wissen, dass wenn ich mich ausdrücken möchte und dabei jemand anderen verletzte, dies zu Recht nicht toleriert wird. So muss aber jemand festlegen, welche Identitäten als wertvoll gelten sollen, welche tolerabel sind und welche ausgeschlossen. Weil die traditionelle christliche Moral bestimmtes sexuelles Verhalten ausschließt, das für bestimmte Identitäten als wesentlich angesehen wird (z.B. Homosexualität), wird es unvermeidbar sein, dass genauso, wie der Einfluss der LGBTQ+-Bewegung auf soziale und kulturelle Entwicklungen zunimmt, das Christentum immer mehr zurückgedrängt wird und vielleicht sogar aus der Gesellschaft ausgeschlossen.
Wie wir uns darauf vorbereiten? Lehrt und lernt den ganzen Ratschluss Gottes. Und bildet starke Gemeinschaft innerhalb der Gemeinden. Wir benötigen sowohl die Unterstützung durch die Gemeinschaft, um die Dinge zu bewahren, als auch die beständige Erinnerung durch Wort und Sakrament, dass Gott allmächtig ist und seine Gemeinde, wie er es versprochen hat, sicher nach Hause bringt. Der, der mit uns ist, ist größer als alle Kräfte, die gegen uns stehen.
Wie kann die Gemeinde die ansprechen und umstimmen, die schon überzeugt wurden durch die Lehre der Moderne?
Wir sind Zeugen für die draußen, indem wir Kirche sind, das heißt eine in der Lehre informierte, Gott anbetende und liebende Gemeinschaft, die mit ihrer ganzen Existenz ein Urteil gegen die Welt im Ganzen darstellt und Einzelnen zeigt, wie ein besserer Weg aussehen kann. Wenn wir zu denen kommen, die zu uns gehören, aber Schaden davongetragen haben, so müssen sie auf der Basis des Glaubens gelehrt werden. Sie brauchen aber auch Schutz durch starke und unterstützende Gemeinschaften, in denen sie sich geliebt fühlen und wissen, dass sie dazugehören. Wir können heute nicht nur einfach für unseren Weg argumentieren. Wir müssen auch die Kraft dessen zeigen, was wir bekennen, in der Art wie wir unser Leben leben.
Abdruck mit freundlicher Genemigung von Ligonier Ministries