Am Ende von Jeremia 38 wird der Prophet vom König offenbar zu einer Lüge aufgefordert. Das wird in der Bibel aber nicht getadelt. Ähnlich ist es in Johannes 7,8-10 wo Jesus sagt „Ich gehe nicht zu dem Fest“ und dann doch hingeht. Wie soll man das verstehen?
Schauen wir uns zuerst den Fall Jeremias an:
Zidkija sagte noch zu Jeremia: „Niemand darf erfahren, was wir hier geredet haben, sonst bringen sie dich um. Und wenn die Oberen hören, dass ich mit dir gesprochen habe, werden sie zu dir kommen und dich ausfragen: ‚Was hast du zum König gesagt? Was hat dir der König erwidert? Verschweige uns nichts, sonst bringen wir dich um!’ Dann sage ihnen nur: ‚Ich habe den König dringend gebeten, mich nicht ins Haus Jonatans zurückzuschicken, denn dort würde ich sterben.’„ Tatsächlich kamen alle Oberen zu Jeremia und fragten ihn aus. Er antwortete ihnen genauso, wie der König es ihm befohlen hatte. Da ließen sie ihn in Ruhe, denn die Sache war sonst nicht bekannt geworden. (Jer 38,24-27 NeÜ)
Wir müssen hier keineswegs von einer Lüge des Propheten ausgehen, denn
- hatte Jeremia diese Bitte bei seinem ersten Treffen mit Zidkija tatsächlich ausgesprochen (Jer 37,20),
- können wir nicht ausschließen, dass er diese Bitte sinngemäß im zweiten Gespräch noch einmal wiederholt hat, wie die Verse 15-16 anzudeuten scheinen.
- Jeremia sagte die Wahrheit, aber er sagte nicht alles, was er wusste, sondern folgte dem Gebot des Königs.
Ein ähnlicher Fall wird in 1. Samuel 16,1-5 geschildert. Samuel bekam von Gott den Auftrag, einen der Söhne Isais zum König zu salben, obwohl König Saul noch an der Macht war. Samuel befürchtete, dass Saul ihn umbringen würde, wenn er davon hörte. Da wies Gott ihn an, die Berufung im Zusammenhang mit einem Opferfest vorzunehmen. Das ist kein Betrug gewesen, denn
- hat Samuel die Einwohner von Bethlehem zu einem Opferfest eingeladen, das tatsächlich stattfand, und so unnötiges Aufsehen vermieden.
- wusste er selbst noch nicht, alles, denn er wusste noch nicht, wer der künftige König sein würde.
- Samuel sagte die Wahrheit, aber er sagte nicht alles, was er schon wusste, sondern folgte dem Gebot Gottes.
Hat unser Herr seine Brüder getäuscht? Johannes berichtet, wie er zu seinen Brüdern, also den Söhnen von Josef und Maria, sagte:
Geht ihr hinauf zu diesem Fest! Ich gehe nicht hinauf zu diesem Fest; denn meine Zeit ist noch nicht erfüllt. Nachdem er dies gesagt hatte, blieb er selbst in Galiläa. Als aber seine Brüder hinaufgegangen waren, da ging auch er hinauf zum Fest, nicht öffentlich, sondern wie im Verborgenen. (Joh 7,8-10 REÜ)
Warum sagte der Herr erst, dass er nicht zu diesem Fest nach Jerusalem geht und geht dann aber doch? Der Zusammenhang zeigt, dass seine ungläubigen Brüder ihn drängten, dass er, wenn er schon der Messias sei, sich auch in Jerusalem zeigen müsse.
„Geh nach Judäa, damit deine Jünger auch dort sehen können was für Wunder du tust. Wer bekannt werden möchte, versteckt seine Taten doch nicht in Galiläa. Falls du wirklich so wunderbare Dinge tust, dann zeige dich auch vor aller Welt.“ Denn nicht einmal seine Brüder glaubten an ihn. Doch Jesus erwiderte: „Für mich ist die richtige Zeit noch nicht gekommen, aber ihr könnt jederzeit gehen. (Joh 7,3-6 NeÜ)
Sie wollten ihn zum Handeln drängen, doch Jesus erwiderte, dass die rechte Zeit (grie. kairos) für ihn noch nicht gekommen sei. Unser Herr sagte seinen Brüdern also die Wahrheit, denn
- hatte sein Vater im Himmel ihm noch nicht offenbart, dass er zu diesem Fest nach Jerusalem gehen solle.
- wehrte Jesus den Besuch nicht prinzipiell ab, sondern wartete auf den rechten Zeitpunkt. Dafür spricht auch, dass einige der ältesten und die meisten späteren Handschriften des Neuen Testaments statt „nicht“ das Wort „noch nicht“ überliefert haben.
- Unser Herr sagte die Wahrheit und traf keine vorschnelle Entscheidung, weil er auf die Weisung seines Vaters im Himmel wartete.