ThemenBibelverständnis

Nicht ohne den Zusammenhang – Auslegung braucht den Kontext

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ Matthäus 7,1

Wenige Texte werden in unserer Zeit stärker missverstanden als Matthäus 7,1: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ Nicht selten, wenn in einem Gespräch ein ethischer Anspruch an den Anderen geäußert wird, der seinen Fehler aufzeigt, kommt die Retourkutsche: „Wer bist du, dass du richtest?“

Aber von welcher Art von Richten spricht Jesus? Wie in allen Fällen ist auch hier der Kontext die wesentliche Hilfe, um zu verstehen, worauf Jesus hinaus will. Der Vers steht in der Bergpredigt, wo das Wesen wahrer Gerechtigkeit einer oberflächlichen Reli­gio­sität gegenübergestellt wird. Jesus greift die Heuchelei der Doppelmoral an. Der Beweis dafür, dass es darum geht, ist die Bildrede, die in den Versen 3-5 folgt:

„Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.“

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Die Sprache des griechischen Textes malt lebendig einen großen tragenden Balken, wie er zum Bau von Häusern verwendet wurde. Das Bild von einem Menschen, der mit einem Balken im Auge versucht einen Splitter im Auge eines Anderen zu entfernen, mag die Zuhörer zum Schmunzeln gebracht haben. Der Heuchler ist also jemand, der einen anderen für ein Verhalten verdammt, was er offensichtlich selbst praktiziert, und das sogar noch ausgeprägter. Einige der Zuhörer von Jesus waren Schriftgelehrte und Pharisäer, die im Matthäusevangelium als Experten dieser Art von Heuchelei geschildert werden.

Kann es aber Gelegenheiten geben, in denen „Richten“ gerechtfertigt wäre, jedenfalls in dem Sinn, dass wir einen moralischen Anspruch an andere Menschen stellen? Die Bibel fordert uns sogar dazu auf.

Jesus sagt in Johannes 7,24: „Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist, sondern richtet gerecht.“ Wie sähe so ein gerechtes Richten dann aus? Im Matthäusevangelium zeigt Jesus, dass ein Mensch den direkt ansprechen soll, der gegen ihn gesündigt hat (Mt 18,15). Es gibt in dem Abschnitt eine Reihe weiterer Punkte, die uns über diese Art von gerechtem „Richten“ belehren.

Erstens muss der Anspruch an den Anderen sich auf Gottes Werte gründen und darf nicht einfach nach persönlichen Vorlieben erhoben werden. Wenn etwas eine Sünde genannt wird, dann muss es eine klare Verletzung von Gottes Standards aus seinem Wort sein. Aber wenn sich die Menschen über diese Standards nicht einig werden, wird uns heute entgegengehalten. Wenn jeder nach seiner „eigenen Wahrheit“ lebt, dann können sich für ihn die Werte je nach Situation ändern, an denen er sein Verhalten ausrichtet. „Wenn ich denke oder fühle, das etwas richtig ist, dann ist es auch richtig.“ Doch das Argument tut so, als ob es keine absoluten Werte von richtig oder falsch gäbe. Die aber gibt es offensichtlich und sie sind in der Bibel enthalten.

Zweitens muss die angemessene Motivation für die Konfrontation Anderer mit ihren Fehlern und Sünden immer das Ziel der Besserung sein. Der Grund, warum wir einen anderen Menschen mit seiner Sünde konfrontieren, ist ihn zu gewinnen und nicht ihn niederzumachen, zu verdammen oder sich selbst über ihn zu stellen. Das war nicht nur das Problem der Schriftgelehrten und Pharisäer. Von diesem Zusammenhang schreibt auch Paulus an die Galater (6,1 NEÜ): „Liebe Geschwister, wenn jemand von euch in eine Sünde hineinstolpert, dann müsst ihr, als vom Geist bestimmte Menschen, ihn verständnisvoll auf den rechten Weg zurückbringen. Du solltest dabei aber gut aufpassen, dass du nicht selbst zu Fall kommst.“ Wir sehen auch hier, dass es bei der „Übertretung“ um Sünde geht, die Gottes Standards verletzt. Und wir erkennen das Ziel der Besserung des Bruders oder der Schwester im Glauben. Wir müssen immer um das Beste für die besorgt sein, die abgeirrt sind. Im Galaterbrief erkennen wir auch eine Betonung auf die Haltung, in der wir einen anderen ermahnen. Es soll im Geist der Freundlichkeit und Sanftmut geschehen. Das kennzeichnet eine Demut, von der jede Ermahnung zwischen zwei Sündern bestimmt sein soll. Wir werden auch daran erinnert, dass wir auch auf uns selbst aufpassen müssen, weil die Situation eigene Versuchung zur Sünde mit sich bringt. Eine solche Haltung ist dann weit von Selbstgerechtigkeit entfernt, die es sich herausnimmt, Andere zu verdammen, statt ihnen aufzuhelfen.

Das führt uns drittens zu der letzten Beobachtung, dass wir alles mit dem beständigen Denken daran tun, dass Gott der letzte Richter ist und dass wir alle Ihm verantwortlich sind. Jesus sagt doch (Matthäus 7,1-2) „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.“ Die letzte Beobachtung unterstreicht die anderen. Die Erinnerung daran, dass Gott der Richter ist, lässt uns bedenken, dass sein Wort das Maß für jedes Urteil sein muss. Das sollte zu einem Geist der Demut führen, der uns die Selbsterkenntnis gibt, dass immer zu viel Heuchelei in unseren Herzen sein wird.

Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Ligonier Ministries