Jesus sagt in seiner Endzeitrede: „Und weil die Gesetzlosigkeit überhandnimmt, wird die Liebe der vielen erkalten“ (Matthäus 24,12). Dieses Wort ist für viele nur eine dunkle eschatologische Ankündigung. Doch im Alltag zeigt sich, wie dieses Phänomen konkrete Gestalt annimmt. Nicht anhand von Statistiken oder soziologischen Abhandlungen, sondern anhand alltäglicher Beobachtungen lässt sich zeigen, wie Beziehungen an Wärme verlieren und wie die Liebe erkaltet.
I. Wahrnehmung: Zehn Beobachtungen verdeutlichen das Phänomen.
Erstens: Die Kurzfristigkeit von Absagen und Umbuchungen. Verbindlichkeit ist schwach geworden. Man möchte sich am liebsten gar nicht festlegen. Termine werden verschoben, ohne dass zwingende Gründe wie Krankheit oder familiäre Not vorliegen. Mit einer kurzen Nachricht wird abgesagt, weil es im Augenblick nicht in das Programm passt. Diese Praxis, begünstigt durch das Smartphone, signalisiert: Die eigene Spontaneität zählt mehr als der andere Mensch und das Wort, das man gegeben hat.
Zweitens: Die Dominanz des Spaßes. Das Grußwort „Viel Spaß“ hat nahezu liturgischen Charakter gewonnen. Freizeit, Wochenende, Urlaub – alles muss Spaß bringen. Spaß ist nicht mehr angenehmer Nebeneffekt, sondern das Ziel. Wo er ausbleibt, erscheint das Unternehmen als gescheitert und wird abgebrochen. Freude wird so zur Pflicht und die Beziehung zum Nächsten zur Bühne der Unterhaltung.
Drittens: Das „Liegenlassen“, um es Anderen zu überlassen. Gemeint ist nicht nur das achtlose Wegwerfen von Gegenständen im öffentlichen Raum, die dann irgendwer aufräumen kann. Auch Menschen werden links liegengelassen. Personen bleiben im übertragenen Sinne im Regen stehen. Auch die eigenen muffigen Stimmungen werden wie Abfall deponiert – beim Partner, am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit. Verantwortung für Dinge, Menschen und Atmosphären bleibt für andere liegen.
Viertens: Hohe Ansprüche an Ablenkung. Die Versorgung mit leiblicher wie geistiger Nahrung steht unter dem Diktat subjektiver Ansprüche. Essen muss jederzeit den eigenen Bedürfnissen entsprechen; Unterhaltung muss exakt die persönliche Stimmung treffen. Dank unendlicher Auswahl an Medien sind Konsumenten gewohnt, dass ihre Wünsche sofort und passgenau erfüllt werden. Wo dies nicht gelingt, weicht man aus oder bricht ab.
Fünftens: Das Nachlassen des Interesses am Nächsten. Beziehungen dienen nicht der Begegnung zweier Personen als Ebenbilder Gottes, sondern letztlich der Selbstbefriedigung. Bringt mir das etwas? Fragen an das Gegenüber werden nicht gestellt, um den anderen zu erkennen, sondern um sich selbst zu bestätigen. Das Gegenüber wird zum Spiegel der eigenen Befindlichkeit degradiert. Ziemlich willkürlich findet man Objekte für das eigene Mitgefühl, die aber möglichst weit weg sein sollen.
Sechstens: Das Schmetterlingsverhalten. Menschen hüpfen von einem Erlebnis zum anderen, von einer Ablenkung zur nächsten. Tiefe, Geduld, Kontinuität gelten als Zumutung. Ungeduld wird gesellschaftlich akzeptiert. Aber diese Leichtigkeit schlägt paradoxerweise schnell in Trägheit um: Wenn Verbindlichkeit, Fristen und Verantwortung gefordert sind, herrscht Passivität. Aufgaben werden vertagt, andere hingehalten, Fristen verstreichen.
Siebtens: Verschwendung. Trotz aller ökologischen Rhetorik herrscht ein sorgloser Umgang mit Ressourcen. Kleidung wird nicht primär getragen, sondern zur Stimmungspflege erworben. Schränke füllen sich mit Überflüssigem, Konsum wird zum Ersatz für Beständigkeit. Wenn Konsum zum Lebensstil wird, dann ist das Geld für teure Handys, Fahrzeuge oder Urlaubsreisen da, und wenn es auf Pump finanziert werden muss. Andererseits zeigt sich zugleich ein neuer Geiz: Der andere ist mir „keinen Stutz wert“. Bedürftigkeit der Schwachen und Alten wird übersehen oder ignoriert.
Achtens: Unkenntnis. Viele Menschen haben elementares Wissen über das alltägliche Leben verloren: über Zubereitung von Nahrung, über Reparaturen, über handwerkliche Fähigkeiten. Technische, kulturelle und geschichtliche Zusammenhänge sind fremd geworden. An die Stelle von Kenntnis ist Unwissenheit getreten, an die Stelle von eigener Verantwortung die Abhängigkeit von anonymen Systemen, die man schnell befragen kann.
Menschen geben sich lieber mit einfachen Lösungen zufrieden und wollen es nicht genauer wissen. Aber einfache Antworten angesichts des Nächsten sind lieblos und oft rücksichtslos.
Neuntens: Bildungsverweigerung. Die Unkenntnis könnte überwunden werden, aber dazu wäre Mühe notwendig. Menschen geben sich lieber mit einfachen Lösungen zufrieden und wollen es nicht genauer wissen. Sie scheuen die Mühe, die es machte, einer Sache nachzugehen, tiefer zu forschen, Fragen zu stellen und in der Erkenntnis zu wachsen. Wo immer es um Menschen geht, sind einfache Antworten lieblos und oft rücksichtslos.
Zehntens: Vergötzung. Ob geschaffene Dinge oder Menschen, alles soll dazu dienen, etwas zu geben, was eigentlich nur bei Gott gefunden werden kann: echte Freude, Hoffnung, Wegweisung. So aber kann nichts es mir Recht machen. Der Nächste wird überfordert und man selber bleibt ständig unzufrieden.
Diese Beobachtungen summieren sich zu einem bedrückenden Befund: Zwischenmenschliche Beziehungen sind fragiler geworden, Liebe wird austauschbar, Verbindlichkeit wird durch Beliebigkeit ersetzt. Kälte breitet sich aus.
II. Gründe: Zehn langfristige Ursachen
Die erkaltete Liebe hat Ursachen, die nicht erst seit gestern wirksam sind. Es handelt sich um ein komplexes Geflecht von kulturellen, geistigen und geistlichen Entwicklungen.
An erster Stelle steht die Ich-Fokussierung. Der Mensch wird von frühester Kindheit an auf das eigene Selbst verwiesen. Schon das Leitwort vieler Schulen – „Das Kind im Zentrum“ – prägt ein Bewusstsein, in dem sich die Welt um das eigene Wohlbefinden drehen muss. Wer so aufwächst, betrachtet andere vor allem als Funktionsträger der eigenen Bedürfnisse.
Zweitens prägt das „Evangelium der Spätmoderne“. Dieses Evangelium ruft den Menschen zur Selbstverwirklichung auf: „Bringe dich selbst zur Geltung.“ Familie, Beruf, soziale Medien – überall geht es darum, sich in Szene zu setzen. Die Energie, die in Selbstinszenierung fließt, fehlt für Hingabe an andere.
Drittens folgt daraus die Autonomie, genauer: eine Eigengesetzlichkeit. Der Mensch ist sich selbst Gesetz. In der Sprache der Theologie heißt das: Er erhebt sich zu Gott, will sein wie er. Er definiert sein Recht und Unrecht, seine Regeln und seine Ziele. Gerät diese Ordnung ins Wanken, reagiert er mit Anpassung, mit Flucht oder mit Resignation. Gottes Gebot tritt in den Hintergrund, an seine Stelle tritt das eigene Maß.
Viertens ist die Entwicklung mehr-generational. Sie wurzelt in den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Die Kriegsgeneration war durch Mangel und Not geprägt, lernte aber Selbstdisziplin. Ihre Kinder, die Babyboomer, wuchsen im Wohlstand auf, ohne Kriegserfahrung, mit wachsender materieller Sicherheit. Deren Kinder wiederum wuchsen im Überfluss auf, mit nie da gewesener technologischer und medizinischer Unterstützung. Jede Generation knüpfte an die vorige an, doch jeweils mit gesteigerter Selbstbezogenheit.
Fünftens wirkt der materielle Überfluss als Verstärker. Seit den 1950er-Jahren erlebte Westeuropa nahezu durchgehend wirtschaftliches Wachstum. Selbst Krisen wie die Ölkrisen in den 1970er-Jahren oder die Finanzmarktkrise (2008) waren nur kurze Unterbrechungen. Überfluss machte Unabhängigkeit von anderen möglich, schwächte gegenseitige Bindungen und nährte die Illusion, auf niemanden angewiesen zu sein.
Sechstens ist die Gesellschaft vom Moment besessen. „You only live once“ ist Lebensmotto. Gegenwart ist alles, Zukunftsorientierung schwach. Vorsorge, Selbstbeherrschung und Opferbereitschaft werden als Einschränkungen empfunden. Stattdessen gilt: das Heute ausschöpfen, genießen, verbrauchen.
Siebtens prägt das Helikopter-Verhalten der Eltern. In vielen Familien wird das Glück des Kindes zum Maß aller Dinge. Hindernisse sollen vermieden, Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden. Kinder verlieren dadurch Erfahrungen von Widerstand, Belastung und Mangel. Sie wachsen in einer brüchigen Beziehungswelt auf, in der Perfektionismus und Anspruch dominieren.
Achtens folgt daraus die Vereinzelung. Trotz sozialer Medien erleben viele junge Menschen Einsamkeit. Sie sind zwar virtuell ständig in Kontakt, bleiben aber auf sich selbst zurückgeworfen. Ablenkung ersetzt Begegnung, Konsum ersetzt Gemeinschaft.
Neuntens verschiebt sich die Orientierung von Schuld zu Scham. Wo Gottes Gebot nicht mehr gilt, orientiert man sich an Subgruppen und Vergleichsfiguren. Maßstab ist nicht mehr Recht und Unrecht, sondern die Angst, beschämt zu werden. Diese Schamkultur zwingt zur Anpassung an Erwartungen der Peergroup und verstärkt das Leben in der Maske.
Zehntens gilt schließlich die theologische Diagnose: Wer Gott verliert, verliert sich selbst. Wer die Bindung an den Schöpfer aufgibt, fällt auf sich selbst zurück. Ohne das Fundament göttlicher Wahrheit bleibt nur das schwankende Gesetz des eigenen Willens oder die Willkür anderer. Die erkaltete Liebe ist nicht nur ein psychologisches oder soziales Phänomen, sondern Ausdruck einer geistlichen Krise.
III. Reaktion: Zehn Maßnahmen für Christen
Wie kann ein Mensch, der durch Christus erneuert ist, in dieser Situation reagieren? Der Auftrag besteht nicht darin, die ganze Welt zu verändern, sondern – jeder an seinem Platz – inmitten einer erkalteten Gesellschaft Wärme auszustrahlen und echte Liebe zu geben.
Die erste Reaktion gilt dem eigenen Herzen. Es gilt, Gedanken, Gefühle und Willensimpulse wahrzunehmen und zu prüfen: Ist etwas von der Kälte der Umgebung in mich eingedrungen? Habe ich Verhaltensmuster übernommen, die Anpassungen an eine lieblose Gesellschaft darstellen? Selbstprüfung ist der erste Schritt.
Zweitens folgt Buße. Buße bedeutet nicht nur einmalige Entscheidung, sondern tägliche Umkehr. Es geht darum, Selbstrechtfertigungen aufzugeben, Schuld zu bekennen und sich neu auf Gott auszurichten. Buße ist eine Bewegung, die Herz, Gedanken und Willen umfasst.
Drittens gilt es, Verantwortungsbereiche zu klären. Niemand trägt die Last der Welt. Doch jeder trägt Verantwortung in seinem direkten Umfeld: Ehe, Familie, Gemeinde, Arbeitsplatz. Es ist entscheidend, diese Kreise klar zu unterscheiden, um nicht von einer globalen Last erdrückt zu werden.
Viertens heißt Reaktion: Ballast reduzieren. Materiell bedeutet das Verzicht um des Besseren willen. Geistlich bedeutet es, falsche Erwartungen an Gefühle und Bestätigungen abzulegen. Liebe zeigt sich nicht darin, dass meine Stimmung befriedigt wird, sondern dass ich im Dienst an Anderen treu bleibe.
Fünftens gehört dazu das echte Gespräch. In Begegnungen mit Menschen, die von Kälte geprägt sind, gilt es, im Gebet um einen geeigneten Zeitpunkt für offene Fragen zu bitten. Offene Fragen beginnen mit Beobachtung und genauem Zuhören: „Habe ich richtig verstanden, dass …?“ – und führen zur Nachfrage: „Wie kommt es dazu? Könnte es auch anders sein?“ Solche Fragen öffnen den Raum für Einsicht oder auch für Widerstand. Zuhören wird zur geistlichen Aufgabe.
Sechstens bedeutet Reaktion: den Zustand aushalten. Wer sich gegen die Kälte stemmt, stößt auf Widerstand. Erwartungen anderer werden enttäuscht, Gefühle verletzt. Die Kunst besteht darin, dies zu ertragen, ohne in Bitterkeit zu verfallen. Sanftmut heißt nicht Nachgiebigkeit, sondern Standhaftigkeit in Gottes Kraft.
Siebtens: Die Bereitschaft zur Scham. Wer offen lebt und Fragen stellt, wird auf Ablehnung stoßen. Vorwürfe, Ausgrenzung oder Mobbing sind mögliche Folgen. Doch wer auf Christus blickt, kann Scham ertragen, weil seine Identität nicht von menschlicher Anerkennung abhängt.
Achtens: Das Recht Gott überlassen. In Konflikten muss der Christ nicht selbst für seine Rechte kämpfen. Er vertraut darauf, dass Gott für Gerechtigkeit sorgt – zu seiner Zeit und auf seine Weise. Dieses Vertrauen entlastet von Selbstverteidigung und befreit zu Gelassenheit.
Neuntens: Geistlich handeln bedeutet auch, Konsequenzen zu bedenken. Es ist weder weise noch geboten, sich endlos in aussichtslose Situationen zu investieren. Die Apostel zogen weiter, wenn Gemeinden oder Städte das Evangelium ablehnten. Auch heute gilt es, Prioritäten zu setzen und die begrenzte Zeit und Kraft verantwortlich einzusetzen.
Zehntens: Die Wärme bewahren. Gerade in einer Gesellschaft, in der die Liebe erkaltet, sollen Christen von der Liebe Christi durchdrungen sein. Diese Liebe ist nicht Sentimentalität, sondern hat eine Kraft, die aus dem Vertrauen auf Gott kommt. Sie strahlt als Freundlichkeit und herzliches Mitgefühl und wird praktisch. In Biografien und Zeugnissen anderer Christen wird sichtbar, wie Menschen in schwierigen Zeiten Wärme bewahrt haben.
Gegen-Bewegung werden!
Die Diagnose Jesu ist ernst: „Die Liebe der vielen wird erkalten.“ Doch die Reaktion bleibt nicht Resignation. Sie beginnt im eigenen Herzen, führt zur täglichen Ein- und Umkehr, zur Klärung der eigenen Verantwortung, zur Reduktion des Ballasts, zur Erstarkung, um erwarteten Widerstand auszuhalten, und zur Bereitschaft, das Recht Gott zu überlassen.
So entsteht eine Gegenbewegung: Menschen, die von Christus erneuert sind, können inmitten der Kälte Wärme ausstrahlen. Nicht durch Gefühlsduselei oder oberflächliche Nettigkeit, sondern durch gelebte Hingabe, durch Sanftmut und Standhaftigkeit. Sie können Freundlichkeit leben, sie den Menschen offen zeigen und dabei auch „mit Salz gewürzt“ reden. In einer Welt, in der Liebe schwindet, werden sie zum Zeugnis dafür, dass Gottes Liebe nicht erkaltet.