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Ein Recht auf Abtreibung?

In Deutschland war es nach der Neufassung des Paragraphen 218 lange relativ ruhig um das Thema „Abtreibung“. Die Gesellschaft schien irgendwie damit befriedet zu sein, dass Abtrei­bung falsch und strafbar sein muss, dass man sie aber unter gewissen Voraussetzungen (Fristen, Beratung, glaubhafte Gründe) nicht bestrafen würde. Die gemeldeten Abtreibungszahlen sanken, wenn es auch zuletzt immer noch jährlich um die 100.000 Kinder waren, deren Leben ausgelöscht wurde, ehe es richtig begann. Der Streit um die Aufhebung des Werbeverbots, das für eine Straftat selbstverständlich erscheint, hat die Diskussion neu aufleben lassen. Viele haben bisher kaum wahrgenommen, dass in den USA die Frage nach einem Recht auf Abtreibung seit mehr als 50 Jahren die Gesellschaft spaltet. Nachdem 2022 ein sehr liberales Urteil aus dem Jahr 1973 aufgehoben wurde, flammte der Streit heftig auf.

Das Urteil des höchsten amerikanischen Gerichts zur Abtreibung hat in den USA und auch in Europa zu heftigen Kontroversen und teilweise radikalen Stellungnahmen geführt. Es ging darum, dass das oberste Gericht eine Entscheidung von 1973 für verfassungswidrig erklärte, die Abtreibung bis zum Zeitpunkt der selbstständigen Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibes erlaubte.

Mit einem ziemlich eindeutigen Abstim­mungs­verhältnis von sechs zu drei stellte das Gericht zu Recht fest, dass aus der Verfassung der USA kein allgemeines Recht auf Abtreibung abgeleitet werden kann. Deshalb dürfe die Bundesregierung den einzelnen Bundesstaaten auch keine verbindlichen Vorschriften für ihre eigene diesbezügliche Gesetzgebung machen. Schon in den vergangenen Jahren hatten mehrere amerikanische Bundesstaaten eine Verschärfung ihrer Abtreibungsgesetze beschlossen, die dem Lebensrecht der Ungeborenen einen größeren Stellenwert einräumten. Zumeist ging es darum, Kinder ab ihrem ersten Herzschlag, also etwa in der sechsten Schwangerschaftswoche, unter staatlichen Schutz zu stellen. Abtrei­bungen bei medizinischen Notlagen, in denen das Leben der Mutter gefährdet ist, sind dort grundsätzlich auch möglich.

Selten ist die Re­aktion auf ein verfassungsmäßig begründetes Urteil des höchsten amerikanischen Ge­richts so panisch ausgefallen wie bei der Infragestellung des allgemeinen Rechts auf Abtreibung bis zur Über­lebensfähigkeit des Kindes, würde es als Früh­geborenes auf die Welt kommen.

Über Jahrzehnte hinweg gab es bei Fragen der Abtreibung in den meisten westlichen Industriestaaten nur eine Entwicklung, nämlich hin zu mehr Liberalisierung und weniger Schutz für das ungeborene Leben. Jetzt wird von vielen Kommentatoren und besonders Kommentatorinnen der drohende Unter­gang der Demokratie, der Menschenrechte und der Freiheit proklamiert, obwohl doch demokratisch gewählte Regierungen amerikanischer Bundesstaaten das Recht bekommen haben, eigene Gesetze zur Regelung von Abtreibungen zu erlassen.

Höchstwahrscheinlich werden zukünftig einige konservativ re­gierte Bun­des­staaten der USA von der neuen Rechtsprechung Ge­brauch machen und strengere Re­geln für zulässige Abtreibungen ver­abschieden. In anderen gelten jetzt automatisch länger bestehende Gesetze, die praktisch außer Kraft waren. Trotz großer medialer Aufregung sieht es allerdings nicht nach einem gänzlichen Verbot der Abtreibung in den USA aus. Die Schreckensszenarien von Abtreibungen mit Kleider­bügeln durch sogenannte „Engel­macherinnen“ sind unbegründet.

Misstrauen gegen demokratische Organisationen

Die momentane Beurteilung des höchsten amerikanischen Gerichts durch Politiker und Medien allerdings erscheint höchst problematisch. Demnach ist das Gericht gut, solange es von liberalen Richtern dominiert wird. Sollte es aber eine konservative Mehrheit geben, dann ist dasselbe Gericht plötzlich unzuverlässig und inkompetent. Eine solche Argumentation aber ist zutiefst undemokratisch und letztlich ideologisch.

Es ist ein ziemlich bedenkliches Zeichen, wenn in den großen deutschen Medien anlässlich der aktuellen Diskussion fast ausschließlich Stimmen zu Wort kommen, die sich für sehr liberale Abtreibungsregeln aussprechen. Stichhaltige Argumente für einen verstärkten Lebens­schutz aber werden entweder vollkommen ignoriert oder von vornherein in einen negativen Zusammenhang gestellt.

Viele Kommentare zeigen ein besorgnis­erregendes Misstrauen gegen die eigenen demokratischen Einrichtungen und den Willen, ihre Autorität zu untergraben.

Es offenbart ein beängstigendes Miss­trauen amerikanischer und europäischer Politiker zu ihren eigenen demokratischen Organisationen, wenn sie deren Autorität untergraben, nur weil diese Entscheidungen fällen, die ihrer eigenen liberalen Welt­an­schauung widersprechen. Genau das tut beispielsweise der amtierende amerikanische Präsident Joe Biden, wenn er dem obersten Gericht seines Landes öffentlich und pauschal einen „tragischen Fehler“ unterstellt. Auch der frühere US-Präsident Barack Obama meldete sich mit einem negativen Kommentar zu Wort:

„Heute hat der Oberste Gerichtshof nicht nur fast 50 Jahre Präzedenzfälle rückgängig gemacht, er hat die persönlichste Entscheidung, die jemand treffen kann, den Launen von Politikern und Ideologen überlassen – und die grundlegenden Freiheiten von Millionen von Amerikanern angegriffen.“

Es wirkt reichlich seltsam und inkonsequent, wenn von Befürwortern liberaler Abtreibungsgesetze jetzt darauf verwiesen wird, dass die bisherige amerikanische Regelung doch bereits seit fast 50 Jahren gültig sei. Zum einen sagt die Gültigkeitsdauer eines Gesetzes bekanntlich nur wenig über deren Berechtigung aus. Zum anderen wird hier verschwiegen, dass andere amerikanische Gesetze zum Verbot der Abtreibung vorher natürlich noch viel länger in Kraft waren.

Mit „aktuellen“ Umfragen wird Stimmung gemacht, obwohl diese unterschiedlich interpretiert werden können und sich Meinungen ständig ändern.

Auch der jetzt zu hörende Verweis auf die vorgebliche Meinung der amerikanischen Bevölkerung ist irreführend. Es mag ja durchaus sein, dass nach aktuellen Umfragen momentan eine Mehrheit der Amerikaner gegen eine deutliche Verschärfung der Abtreibungsgesetze ist. Obwohl die Ergeb­nisse sich auch so lesen lassen, dass die meisten Amerikaner Ruhe und keine weitere Spaltung der Gesellschaft an dieser Frage wünschen. Dass bei der Ein­führung der sehr liberalen Abtreibungsgesetze vor knapp 50 Jahren umgekehrt ebenfalls eine Mehrheit gegen diese Neuerungen war, interessiert dann aber inkonsequenterweise nicht.

Realistisch gesehen machen die von Medien und liberalen Politikern beschworenen Vergewaltigungsopfer und Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden, nur einen kleinen Bruchteil abtreibender Frauen aus. Mit Schlagzeilen von einzelnen nach Vergewaltigung schwangeren Kindern und Frauen wird die reale Situation verfälscht dargestellt, um Emotionen für unterdrückte Frauen zur Durchsetzung von freieren Abtreibungsgesetzen zu instrumentalisieren. In der aktuellen Diskussion geht es nicht, wie behauptet, um die Abschaffung der Rechte von werdenden Müttern, sondern um die ethische Abwägung ihrer Rechte gegen die Rechte ungeborener Kinder.

Im Umgang mit der nun vorliegenden richterlichen Ent­scheidung erweisen sich manche Abtreibungs-Befürworter als reichlich undemokratisch und nicht diskussionsfähig. Statt auf einsichtige logische, philosophische, juristische und religiöse Argumente sachgemäß zu antworten, werden Drohungen, unberechtigte Schreckensbilder und Szenen einer verzerrten Wirklichkeit herangezogen, um die eigene Meinung gesellschaftlich durchzusetzen. Dieselben Personen, die sich schwer über den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts mit seinen überwiegend christlichen Werten beklagen, betreiben teilweise ihren neuen eurozentrierten Kolonialismus, mit dem sie der übrigen Welt ihre heutigen, eher atheistischen Überzeugungen aufdrängen wollen. Jetzt darf nur noch der als aufgeklärt, fortschrittlich und modern gelten, der ihre ethischen Auffassungen von Abtreibung, Ehe, Selbstverwirklichung und Sexualität teilt. Statt wirklicher Freiheit und der Respektierung anderer, gut begründeter Positionen geht man daran, diese mit gesetzlichen und medialen Mitteln zu bekämpfen oder lächerlich zu machen.

Gute Gründe gegen Abtreibung nicht unterdrücken

In den meisten westlichen Demokratien wird menschliches Leben auch vor der Geburt gesetzlich geschützt. In Deutschland wird Abtreibung juristisch sogar eindeutig als „Tötung eines menschlichen Wesens“ definiert, die unter bestimmten Voraussetzungen allerdings straflos bleibt.

Hinter der immer umfassenderen Be­wer­bung der Abtreibung als universalem Menschenrecht steht ein Missverständnis individueller Freiheit und grundsätzlicher Emanzipation von jeder außenstehenden Autorität. Allein der Wille der Frau soll über Leben und Tod eines werdenden Menschen entscheiden, weil allein die Lebenspläne dieser Frau als schützenswert deklariert werden.

Unter Abtreibungs­befür­wortern hatte man schon lange gehofft, in wenigen Jahren die Entscheidung über das Leben ungeborener Menschen als verfassungsmäßig gesichertes Recht etablieren und damit jede Kritik an Abtreibung im Keim ersticken zu können.

In der Abtreibungs­debatte müssen immer Rechte der Mutter und Rechte des ungeborenen Kindes miteinander abgewogen werden.

Im Kern der Diskussion geht es natürlich immer um die Frage, wann und inwieweit das Recht der Mutter durch das Recht des ungeborenen Kindes beschränkt wird. Wie in vielen anderen, ethisch herausfordernden Situationen muss hier eine angemessene Güterabwägung vorgenommen werden. Wenn sich Ab­treibungs­befür­wor­ter alleine auf die Rechte der Frau konzentrieren, dann lassen sie einen absolut entscheidenden Faktor weitgehend außer Acht. Kein Mensch sollte das pauschale Recht über das Leben eines anderen Menschen bekommen, wie es bei einer uneingeschränkten Abtreibungs­regelung geschieht.

Natürlich darf es nie nur um ein Verbot von Abtreibung gehen. Immer muss auch die jeweilige Situation der Mutter im Blick behalten werden. Für manche Frauen braucht es eine öffentlich finanzierte Unterstützung bei der Austragung und Erziehung ihres Kindes, weil sie sich in einer prekären materiellen oder familiären Situation befindet.

Deshalb ist es auch zu begrüßen, dass parallel zur neuen Rechtslage engagierte Amerikaner gut organisierte private Hilfe für Frauen anbieten. Die richtet sich insbesondere an Frauen, die in ihrer Schwangerschaft aufgrund von Armut oder häuslicher Gewalt unter Druck stehen. Die verheiratete zweifache Mutter und überzeugte Christin Aubrey Schlackman beispielsweise gründete auf ihrer Ranch deshalb eine Hilfseinrichtung, in der ungewollt schwangere Frauen kostenlos bis zum ersten Geburtstag ihres Kindes leben können und seelsorgerlich begleitet werden. Außerdem erhalten die betroffenen Mütter Hilfen für den weiteren Aufbau ihres zukünftigen Lebens. Finanziert wird das Projekt in erster Linie durch Spenden.

Aus Gottes Wort jedenfalls ergibt sich der Schutz für das Leben ungeborener Kinder ebenso wie die Unterstützung hilfsbedürftiger Mütter.

Braucht die Gesellschaft ein Recht auf Abtreibung?

Die öffentlichen Kommentare zur jüngsten Entscheidung des Obersten Gerichts bezüglich des amerikanischen Abtreibungsrechts hätten kaum radikaler und ideologischer ausfallen können. Dabei arbeitet man vor allem mit dem begründeten Mitgefühl vieler Menschen mit vergewaltigten, kranken oder sozial benachteiligten Frauen, die ungewollt schwanger geworden sind. Ohne es immer klar auszusprechen, wollen viele Abtreibungsbefürworter ein allgemeines und pauschales „Menschenrecht auf Abtreibung“ installieren, so dass jede Frau jederzeit und aus jedem Grund den in ihr heranwachsenden Menschen töten darf. Das wird dann als grundlegendes Frauenrecht, als soziale Errungenschaft, als demokratisch und geschlechtergerecht beworben. Was heute gesellschaftlich als positiv wahrgenommen wird, soll angeblich mit der Freiheit zur Abtreibung zu tun haben. So jedenfalls versuchen manche es einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln.

Über die Rechte der jährlich allein in den USA fast einer Millionen abgetriebenen Kinder wird in dieser Diskussion kaum ein Wort verloren, obwohl medizinisch, ethisch und juristisch kein ernsthafter Zweifel daran besteht, dass es sich bei einer Abtreibung um die Tötung menschlichen Lebens handelt. Das ist auch jedem klar, der eine schwangere Frau sieht. Er wird ihr nicht sagen, dass sie nur einen Zellhaufen in sich trägt, der erst mit der Geburt zu einem Menschen wird.

In der aufgeheizten Stimmung in den USA werden alle, die sich für die Rechte der Ungeborenen einsetzen, pauschal als Feinde der Frauen, der Migranten, der Jugend, der Freiheit und der Demokratie diffamiert.

In der aufgeheizten Stimmung in den USA werden alle, die sich für die Rechte der Ungeborenen einsetzen, pauschal als Feinde der Frauen, der Migranten, der Jugend, der Freiheit und der Demokratie diffamiert. Aufgrund dieser Hasskampagne, an der sich selbst führende amerikanische Politiker der demokratischen Partei und zahlreiche deutsche Medien beteiligen, gab es bereits ernstzunehmende Morddrohungen gegen die Richter des Obersten amerikanischen Gerichts. Weil diese Richter, durchaus gut juristisch begründet, gegen die weltanschaulichen Interessen von Abtreibungsbefürwortern entschieden haben, müssen sie jetzt um ihr Leben fürchten und unter Polizeischutz gestellt werden. So eine Entwicklung sollte ernsthaft zum Nachdenken bringen, zumal diese Stimmung aktiv in die deutsche Gesellschaft importiert werden soll.

Hier einige der momentan häufig zu hörenden Vorwürfe gegen die Entscheidung des höchsten amerikanischen Gerichts zur Abtreibungs-Gesetzgebung:

1. Frauen werden nun gezwungen illegal abzutreiben, bzw. weite und gefährliche Reisen oder hohe Kosten auf sich zu nehmen, um abtreiben zu können.

Diese Behauptung geht diskussionslos davon aus, dass alle gewöhnlich durchgeführten Abtreibungen unbedingt nötig sind. Wenn sie in ihrem Bundesstaat nicht mehr abtreiben können, dann sind Frauen demnach „gezwungen“, weit entfernt oder unter schlechten Bedingungen abzutreiben. Mit dieser Argumentation wird der eigentlichen Frage aber geschickt ausgewichen, nämlich, ob Abtreibungen in jedem Fall die einzig mögliche und wünschenswerte Option sind. Wenn der Staat oder Privatleute bessere Bedingungen zur Austragung des Kindes schaffen, dann könnte sowohl das Leben des Embryos gerettet als auch das Problem der jeweiligen Frau gelöst werden.

2. Das Oberste Gericht der USA hat Abtreibungen verboten.

In der momentanen, aufgeregten Diskus­sion wird von manchen Kommentatoren übersehen, dass das Oberste Gericht der USA keine verpflichtenden Regeln zur Abtreibung beschlossen hat. Es wurde lediglich festgestellt, dass es in Amerika aus guten juristischen und ethischen Gründen kein allgemeines, durch die Verfassung gesichertes „Recht auf Abtreibung“ gibt. Das jetzt außer Kraft gesetzte Grundsatzurteil von 1973 war im Übrigen recht seltsam, weil es das Recht auf Abtreibung aus dem Recht auf Privatsphäre ableitete: weil eine Frau ihre Schwangerschaft geheim halten darf, darf sie auch abtreiben. Jetzt haben die einzelnen Bundesstaaten die Möglichkeit, eigene gesetzliche Regeln zur Abtreibung zu erlassen. Eine bundesstaatliche Priorität gegenüber den einzelnen Staaten muss in den USA gut begründet werden, was in diesem Fall den Richtern nicht angemessen erschien. Sie haben also davon abgesehen, ihre mehrheitliche Sicht der Abtreibung in den ganzen USA durchzusetzen, sondern die gesetzgeberischen Rechte den einzelnen Bundesstaaten zugestanden. Man kann darüber unterschiedlich denken, aber es ist jedenfalls eine Achtung der Demokratie nach der Verfassung der Vereinigten Staaten.

3. Die Einschränkung von Abtreibung ist eine Verletzung der Menschenrechte.

Abtreibung zum „Menschenrecht“ zu erklären, wäre höchst problematisch, weil die Tötung menschlichen Lebens in den meisten Ländern noch immer als Straftat verstanden wird.

Die allgemeinen Menschen­rechte umfassen viele persönliche Freiheiten, die dem einzelnen Bürger von den meisten demokratischen Staaten zugesprochen werden. Dazu gehören Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, das Recht auf körperliche Unversehrtheit usw. Ein wie auch immer geartetes „Recht auf Abtreibung“ gehört bisher nicht zu den allgemeinen Menschenrechten. Abtreibung zum „Menschenrecht“ zu erklären, wäre auch höchst problematisch, weil die Tötung eines menschlichen Wesens in den meisten Ländern noch immer als Straftat verstanden wird. Immerhin kann man kein Menschenrecht einführen, das andere, bisher geltende Menschenrechte prinzipiell außer Kraft setzt; in diesem Fall das Recht des Kindes auf Leben.

4. Einschränkungen von Abtreibungen richten sich vor allem gegen die arme Bevölkerung.

Die meisten staatlichen Regeln treffen Menschen mit eingeschränkten materiellen Möglichkeiten stärker als Personen, die viel Geld zur Verfügung haben. Arme können nicht so einfach ihren Wohnort oder ihren Arbeitsplatz wechseln, sie haben weniger Geld für medizinische Behandlungen, sie können auch keine teuren Anwälte in Anspruch nehmen usw. Deshalb sind aber nicht alle Gesetze von vornherein gegen materiell schlechter gestellte Menschen gerichtet. Prinzipiell gelten die Abtreibungsgesetze eines US-Bundesstaates natürlich für alle seine Bürger, unabhängig von ihrem Einkommen. Reiche haben allerdings eher die Möglichkeit, illegal diesen gesetzlichen For­derungen auszuweichen, indem sie beispielsweise in einem anderen Bundesstaat abtreiben. Durch die hohe Verfügbarkeit von relativ billigen Medikamenten zur Abtreibung, war die Möglichkeit dazu aber kaum eingeschränkt. Bisher wurden die allermeisten Abtreibungen in den USA durch Einnahme von Abtreibungspillen, die online bestellt werden konnten, vollzogen.

5. Einschränkungen von Abtreibung sind gegen die Demokratie.

Da die Entscheidung, Abtreibungsgesetze den einzelnen Bundesstaaten zu überlassen, von einer wichtigen und grundlegenden Institution der amerikanischen Demokratie getroffen wurde, ist es geradezu absurd, diesen Beschluss nur deshalb als undemokratisch zu bezeichnen, weil er der eigenen Weltanschauung widerspricht.1 In den meisten demokratischen Staaten verabschieden die von der Bevölkerung gewählten Vertreter im Parlament neue Gesetze. Unabhängig davon müssen die Gerichte sicherstellen, dass diese Gesetze auch korrekt eingehalten werden. Genau das hat das Oberste Gericht der USA in dem vorliegenden Fall getan und festgestellt, dass die bisherige Regelung der Verfassung widerspricht. In diesem Sinn ist das Urteil der höchsten Richter also gerade ein Zeichen funktionierender Demokratie und nicht etwa demokratiefeindlich. Nur wer Demokratie mit seiner eigenen weltanschaulichen Meinung verwechselt, der kann das momentan gültige Recht amerikanischer Bundesstaaten auf eigene Abtreibungsgesetze als undemokratisch bezeichnen.

6. Einschränkungen von Abtreibungen sind gegen das Lebensrecht von Frauen.

Gesetze amerikanischer Bun­des­staaten, die Ab­trei­bungen strenger regeln, um auch das Lebensrecht der Kinder nicht aus dem Blick zu verlieren, handeln nicht generell gegen das Lebensrecht von Frauen. Offensichtlich wird durch eine Schwangerschaft das Leben einer Frau nicht beendet oder unwiderruflich zerstört. Natürlich beeinflusst eine ungewollte Schwangerschaft den Lebensplan der betroffenen Frau deutlich, selbst wenn sie sich entschließen sollte, ihr Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben. Allerdings gibt es auch viele andere, nicht frei ausgewählte Ereignisse, die das Leben eines Menschen ohne seine Zustimmung stark bestimmen. Dazu gehören beispielsweise begrenzte Arbeitsangebote, seltsame Eltern oder ein unvorhergesehener Verkehrsunfall. Außerdem wird in der Diskussion regelmäßig ausgeblendet, dass die freie Lebensgestaltung der Frau bei Abtreibung nur durch den Tod des Kindes erreicht werden kann. In jedem Fall muss man also beide Ansprüche sorgsam gegeneinander abwägen und das Lebensrecht des Kindes nicht generell vernachlässigen.

7. Einschränkungen von Abtreibungen sind Vergehen gegen die Gleichstellung der Geschlechter.

Es ist absurd, aufgrund biologi­scher Tatsachen eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit der Geschlechter zu konstruieren. Ähnlich unsinnig wäre es, von geschlechtlicher Ungerechtigkeit zu sprechen, weil Männer durchschnittlich mehr Muskelmasse haben oder Frauen durchschnittlich länger leben. Selbst­verständlich richten sich einige Gesetze nur an Menschen mit bestimmten Eigenschaften, das betrifft manchmal das Alter, die Zurechnungsfähigkeit oder eben auch die Fähigkeit, Kinder zu bekommen. Nur wer Kinder bekommt, kann während der Schwangerschaft zeitweilig von der Arbeit freigestellt werden. Nur wer in der Lage ist, Kinder zu bekommen, kann ein in seinem Bauch befindliches Kind töten. Hier handelt es sich nicht um eine gesellschaftliche Benachteiligung, sondern um eine Konsequenz biologischer Tatsachen. Nur wer nicht bereit, ist Biologie und Ideologie sachgemäß voneinander zu trennen, kann zu dem Schluss kommen, die Bedingungen des Frauseins generell als Diskriminierung zu interpretieren.

Das Lebensrecht Ungeborener achten

Erschreckenderweise wird auf das Lebens­recht abgetriebener Kinder in der großen medialen Empörung fast nie eingegangen. Meistens werden diese Kinder quasi per Definition zu Nichtmenschen erklärt, um sie ohne größere ethische Bedenken töten zu können. Zu Menschen würden diese Kinder in dieser Logik erst, wenn sie von ihren Müttern als solche anerkannt werden oder mit ihrer Geburt. Wie alle juristischen und medizinischen Gutachten allerdings deutlich zeigen, ist eine solche Sichtweise natürlich vollkommen unlogisch, inkonsequent und nirgendwo Konsens. Das gilt unter anderem, weil in der Entwicklung des Kindes während der Schwangerschaft eben kein wirklich tiefgreifender Sprung zu beobachten ist, der das Kind von einem frei verfügbaren Zellklumpen zum schützenswerten Menschen macht. In Deutschland betonen sowohl das Grundgesetz als auch das Strafrecht deshalb deutlich, dass es sich bei Abtreibung um die Tötung eines Menschen handelt.2

Um aber ungeborene Kinder ohne größere ethische Bedenken töten zu können, werden sie erst verbal entmenschlicht. Ähnliches zeichnet sich momentan in der Diskussion um die Sterbehilfe ab. Auch hier geht es in einer ersten Phase darum, schwer kranke, demente oder einfach sehr alte Personen zu entmenschlichen, ihnen das unveräußerliche Recht auf Leben teilweise abzusprechen, um dann notwendige medizinische Behandlung verweigern, abbrechen oder um das Sterben dieser Nicht-mehr-Menschen aktiv einleiten zu können. Wer sich wirklich für das Recht auf Leben einsetzen will, der sollte die häufig weltanschaulich geprägten Stellungnahmen von Abtreibungs- und Sterbehilfe-Befürwortern auch einmal kritisch gegen den Strich lesen und sich stärker die Situation dadurch bedrohter Menschen vor Augen führen, zur Abtreibung bestimmte Kinder und andere Schwache. Wenn das Lebensrecht Schwacher durch medialen Einfluss immer stärker infrage gestellt wird, empfinden sie selbst, dass sie wohl besser sterben sollten und nehmen sich – wie es bei Älteren bereits erkennbar wird – selbst das Leben.

Gott gibt mit dem Leben auch eine Pflicht zum Schutz des fremden und eigenen Lebens vor Gefahr, Gewalt und Bedrohung. Der Friedens­nobelpreisträger Albert Schweitzer sprach in diesem Zu­sam­menhang zu Recht von der „Ehrfurcht vor dem Leben“, das auch den Schutz ungeborener Kinder und alter, schwacher oder schwer behinderter Menschen umfasst. Nach biblischer Auskunft ist es alleine der ewige und heilige Gott, der über Leben und Tod bestimmen darf.


  1. Der Richter im Ruhestand Thomas Fischer kommentierte im Spiegel so: „Der »Supreme Court« der USA (USSC) hat in der vergangenen Woche erwartungsgemäß entschieden, dass sich aus dem »Recht auf Privatsphäre«, welches in einem Zusatzartikel der Verfassung der USA als unionsweit geltendes Grund­recht garantiert ist, kein für alle Staaten geltendes »Recht auf Abtreibung« ableiten lasse, sondern dass die Garantie oder Nichtgarantie eines solchen Grundrechts in der Zuständigkeit der 50 Staaten liege. Das ist zunächst einmal – Verzeihung! – schlicht und ergreifend eine vertretbare Auslegung des Verfassungsrechts eines fremden Staats durch das dafür dort zuständige Gericht. Es mag bitter sein, wenn Gerichte anders entscheiden, als man selbst es hätte tun wollen, wenn man es hätte tun dürfen. Ein bisschen erstaunlich ist, dass in Deutschland allenthalben hohes Interesse am Verfassungsrecht der USA behauptet wird, obgleich sich fast niemand tatsächlich dafür interessiert, zumal es deutlich komplizierter ist als das übersichtliche deutsche Grundgesetz.“ https://www.spiegel.de/kultur/abtreibung-entscheidung-des-supreme-court-in-den-usa-kolumne-von-thomas-fischer-a-f922f051-4275-4bd8-a3b5-59cdad974cdf 

  2. Thomas Fischer, der selber kein Abtreibunggegner, aber Jurist ist, macht darauf aufmerksam: „Wieso kann die Frage der Abtreibung nicht so behandelt werden wie die Frage, ob man Kartoffeln mit dem Messer schneiden oder mit kurzer Hose ins Büro gehen darf? Da kämen manche vermutlich schon ins Stottern und auf die Idee, »irgendwie« sei die Schwangerschaft doch wichtiger als die aktuelle Mode. Aber warum? Ist ein Embryo eine Art Wurmfortsatz, ein Muttermal, eine gutartige Geschwulst? Wenn ja: warum? Und wie lange? Erstaunlicherweise betonen auch Befürworter einer radikalen Abtreibungsfreiheit stets, es mache sich »keine Frau die Entscheidung leicht«. Das ist nicht ganz widerspruchsfrei, denn warum sollte man sich das Entfernen eines störenden Zellhaufens von »Schwangerschaftsgewebe« nicht auch mal leicht machen?“ Spiegel online, a.a.O.