Die kleinen Propheten des Alten Testaments gehören in Gemeinden nicht gerade zum Standardprogramm der Verkündigung. Wieso auch? Sie gelten als lebensfern, theoretisch und furchtbar weit weg von der heutigen Zeit. Doch nichts könnte der Realität ferner sein. Sie haben nicht nur viel für heute zu sagen, sondern ein Blick auf ihre Lebenswelt zeigt so verblüffende Parallelen zur heutigen Zeit, dass man sich über ihre Aktualität nur wundern kann.
Der Prophet und seine Zeit
In chronologischer Hinsicht ist einer der ersten Propheten, der seine Botschaft auch schriftlich niedergelegt hat, der Prophet Amos. Auch vorher schon bezeichnet die Bibel einzelne Personen als Propheten, zum Beispiel Abraham (1Mo 20,7), Mose (5Mo 34,10), Aaron (2Mo 7,1) Elia (1Kön 18,36) oder Elisa (2Kön 5,8). Man erfährt in der Bibel viel von ihrem Leben, doch es gibt kein eigenes Bibelbuch zu ihrer prophetischen Botschaft. Mit Amos ändert sich das, denn mit ihm beginnt die Zeit der Schriftpropheten, also Propheten, die im 8. – 4. Jahrhundert v. Chr. ihre Botschaft auch schriftlich niederlegten. Mit diesen Propheten ist es genau umgekehrt: Von ihrem Leben ist nur wenig bekannt, doch dafür wissen wir umso mehr von ihrer Botschaft.
Die Botschaft des Propheten Amos ist wie das Brüllen eines Löwen, das durch Mark und Bein geht. Dabei deckt er offen geduldetes Unrecht genauso auf wie das verborgene.
Auch zur Person des Propheten Amos gibt es nur spärliche Informationen: Er wird als „Schafzüchter“ (Am 1,1) und „Maulbeerfeigenzüchter“ (Am 7,14) beschrieben, der aus Tekoa stammt, einem kleinen Ort südlich von Jerusalem. Vermutlich ist er beruflich häufiger unterwegs gewesen und hat auch das Nordreich Israels bereist und dort als Prophet gewirkt. Umso mehr aber wissen wir von seiner Zeit, von der das Buch Amos ein lebhaftes Zeugnis gibt. Amos lebte und wirkte im 8. Jh. v. Chr. zu einer Zeit, als das Nordreich Israels unter Jerobeam politisch und wirtschaftlich florierte. Es ging Israel in kaum einer anderen Zeit so gut: Es gab keine großen Kriege, Israel beherrschte ein sehr großes Gebiet und der Handel spülte unentwegt Waren aus aller Welt in die Städte und zu ihren reichen Bewohnern. Viele konnten es sich leisten, von ihrem Land in die Stadt zu ziehen und andere für sich arbeiten zu lassen. Äußerlich gesehen ging es Israel also gut und es fehlte an nichts, doch dieser Schein trog. Genau in dieser Zeit trat der Prophet Amos mit einer Botschaft im Nordreich Israels auf, die es in sich hatte. Sie ist ein durchdringender Weckruf, der in Amos 1,3 mit dem Brüllen eines Löwen verglichen wird, und durch Mark und Bein geht. Doch was hat es damit auf sich?
Gott richtet das Unrecht bei den anderen …
Das Buch Amos beginnt in Amos 1-2 mit einer poetisch geschliffenen Rede, in der eine Abrechnung mit den Vergehen aller Nachbarvölker vorgenommen wird: Die Völker von Damaskus, Gaza, Tyrus, Edom, Ammon und Moab werden wegen Grausamkeit, Unmoral, Unterdrückung der Schwachen, Ausbeutung, Unbarmherzigkeit und Ungerechtigkeit zur Verantwortung gezogen (1,3-2,3). Auch das Südreich Judas wird in bezeichnender Weise in den Reigen der gottlosen Nachbarvölker des Nordreiches aufgenommen und zur Rechenschaft gezogen, weil sie Götzendienst praktizierten und Gott und sein Wort verwarfen (2,4-5).
Diese Botschaft, die Gott durch den Propheten Amos anprangerte, war ein wichtiger Weckruf in einer Zeit, in der man zusehen konnte, wie moralische Grenzen überschritten wurden und Maßstäbe verrutschten. Es ist nur zu deutlich, dass die damalige Zeit etliche Parallelen zur heutigen Zeit hatte und es war gut und notwendig, dass die Missstände der gottlosen Nachbarvölker bloßgestellt wurden.
Die Botschaft, die Amos im Nordreich Israels predigte, muss den Leuten runter gegangen sein wie Öl: Endlich wurden die Gräueltaten der Nachbarn einmal aufgedeckt! Endlich sorgte Gott in den Dingen für Gerechtigkeit, die man den Nachbarvölkern schon lange vorwarf! Und auch das Südreich, dem gegenüber man sich im Norden wegen des Tempels in Jerusalem immer etwas benachteiligt fühlte, bekommt nun sein Fett weg! So oder so ähnlich haben sie vermutlich beim Zuhören gedacht, bis … ja bis Amos zum letzten und wichtigsten Teil des Gerichtswortes kam.
… aber man muss vor der eigenen Haustür kehren!
Was als Höhepunkt der Botschaft in Amos 1-2 kommt, gleicht einem zielsicheren Treffer, der sogar rhetorisch angedeutet ist. Die Reihenfolge, in der die Nachbarvölker des Nordreiches in Amos 1,3-2,5 erscheinen, gleicht einem sorgsam aufgespannten Fadenkreuz. Zuerst werden die am weitesten entfernten Völker an den vier Ecken im Nordosten (Damaskus), Südwesten (Philister), Nordwesten (Tyrus) und Südosten (Edom) genannt. Anschließend geht mit den nächsten drei Völkern die Richtung über Ammon, Moab und Juda in einer Bewegung von Ost nach West bis zu der einzigen Stelle der imaginären Landkarte, die bisher ausgelassen wurde: Zum Nordreich Israels. Und plötzlich wird deutlich, dass die Gerichtsworte über die Nachbarn nur eine Vorbereitung waren, um zum eigentlichen Thema zu kommen, nämlich dem, was im Nordreich unter Jerobeam schiefläuft.
Es kann kein Zufall sein, dass nach den sieben Nachbarvölkern und ihren Vergehen nun exakt sieben Vergehen Israels aufgezeigt werden, die inhaltlich dem Fehlverhalten der Nachbarvölker fast exakt gleichen. Am bittersten daran ist wohl, dass die Reihe von den Nachbarvölkern sogar nahtlos weitergeht, ohne dass Israel auch nur im Geringsten von dem moralischen Versagen der Nachbarvölker abgesetzt wird. Dazu kommt, dass bei Israel sogar noch mehr Vergehen als bei den anderen Völkern genannt werden.
Es ist immer einfach, sich über das Fehlverhalten der gottlosen Nachbarn zu beklagen und moralische Missstände anzuprangern. Doch wie sieht es im eigenen Leben aus?
Und plötzlich wird klar: Es ist immer einfach, sich über das Fehlverhalten der gottlosen Nachbarn zu beklagen und moralische Missstände anzuprangern. Doch wie sieht es im eigenen Leben aus? Sollten nicht diejenigen, die in einer Beziehung zu Gott leben, besser machen, was sie bei anderen anklagen? Sollten nicht diejenigen, die das Wort Gottes haben, die Fehler vermeiden, die sie bei anderen hervorheben? Sollte das Volk Gottes es nicht besser wissen und so leben, wie es Gott gefällt?
Doch auch bei ihnen klagt Gott dieselben Missstände wie bei den gottlosen Nachbarn an: Auch Israel wird für Grausamkeit, Unmoral, Unterdrückung der Schwachen, Ausbeutung, Unbarmherzigkeit und Ungerechtigkeit zur Verantwortung gezogen (2,6-8). Was in Israel schief läuft, kommt scheinbar harmlos daher, enthält aber dasselbe Unrecht, das bei den anderen Völkern angeprangert wurde. Sie beuten die Armen aus und bezahlen Spottpreise für das, was für andere der ganze Lebensunterhalt war (2,6.8). Die reichen Bewohner der Städte konnten es sich leisten, dass anonyme Arbeiter weit entfernt für Hungerlöhne das Leben im Wohlstand am Laufen hielten. Und solange sie gut leben konnten, brauchte man nicht zu fragen, wie genau dieser Wohlstand zustande kam und ob das nicht letztlich eine Ausbeutung anderer war (2,2-8). Sie nahmen gerne ihren Einfluss wahr und übergingen dabei auch gerne mal solche, die nicht so viel zu sagen haben (2,7a). Dabei stand nicht immer das im Mittelpunkt, was wirklich gerecht wäre, sondern was den eigenen Interessen dient (2,7b). Auch heimliche Unzucht stand an der Tagesordnung und wurde nicht als Problem für den Dienst für Gott gesehen (2,8).
Damals und heute
Ist diese Beschreibung wirklich so weit weg von heute? Ist das, was Gott durch den Propheten Amos weitergibt, nicht eine erschreckend zutreffende Beschreibung der heutigen Zeit? Sind die von Gott aufgedeckten blinden Flecken der damaligen Zeit nicht auch heute noch unter Christen zu finden? Auch heute noch ist die Gefahr groß, in einer Doppelmoral zu leben: Nach außen vertritt man Prinzipien wie Barmherzigkeit und den Schutz der Schwachen, nimmt aber gleichzeitig doch gerne den eigenen Einfluss in der Gemeinde wahr und übergeht dabei auch gerne mal solche, die weniger zu sagen haben. Die heimliche Unzucht im Internet kann man heute sogar wesentlich besser verstecken und nach außen wirkt im Gottesdienst alles noch gut und fromm.
Der Prophet Amos trifft einen Nerv, den Wohlstandsgesellschaften zu allen Zeiten gemeinsam haben. Sie leben für ihren Reichtum auf Kosten anderer, die nur Hungerlöhne erhalten.
Auch der eigene Wohlstand funktioniert heute noch nach erschreckend ähnlichen Prinzipien wie damals: Für den Reichtum von Wenigen arbeiten Menschen weit entfernt für Hungerlöhne. Und auch Christen akzeptieren gerne diesen Wohlstand, ohne genauer danach zu fragen, an welchen Stellen auch eine eigene Verantwortung bestehen könnte. Sicher – in einer kleineren Lebenswelt mag die Verantwortung der Reichen im damaligen Israel noch stärker und direkter gewesen sein als in der komplizierten und unüberschaubaren globalen Welt von heute. Aber der Prophet Amos trifft dennoch einen Nerv, den Wohlstandsgesellschaften zu allen Zeiten gemeinsam haben. Doch die Lösung besteht nicht darin, mit Scheuklappen zu leben und jede eigene Verantwortung von sich zu schieben. Sie besteht aber auch nicht darin, im sozialen Kampf gegen Ungerechtigkeit die Welt zu retten und den Himmel auf Erden zu erkämpfen. Beides greift zu kurz, denn es trifft nicht den Kern des Problems. Das Problem liegt tiefer – heute wie damals. Die eigentliche Ursache liegt in der eigenen Beziehung zu Gott, und genau hier setzt Gott im Propheten Amos an.
Unabhängigkeit von Gott
Das Grundproblem zur Zeit des Propheten Amos war eine innere Haltung, in der sich Israel an den von Gott geschenkten Gaben unabhängig vom Geber gemacht hatte. Die Rettung aus Ägypten war vergessen worden (2,10). War nicht damals Israel selbst mittellos, arm, unterdrückt und dem Tod geweiht gewesen? Hatte nicht Gott sie erlöst, ihnen Gutes erwiesen und in vielen Schritten kleine und große Probleme aus dem Weg geräumt (2,9)? Die Abhängigkeit von Gott hätte nicht größer sein können und nicht stärker zum Ausdruck kommen können als in dieser Erlösung.
Wem es rundherum gut geht, kann schnell vergessen, dass er immer noch ganz von Gott abhängig ist. Wer begeistert von seinem Wohlstand ist, verliert leicht die Begeisterung für die Erlösung.
Doch das war schleichend in den Hintergrund gerückt. Man hatte sich zu sehr an ein Leben gewöhnt, in dem alles seinen Gang ging und man trotz einiger Krisen (vgl. 4,6-11) noch relativ sorglos lebte (6,1). Man konnte sich auf bequemen und teuren Betten räkeln und hatte genug Freizeit, um sich zu vergnügen (6,4). Der Wohlstand war so groß, dass man sich Fleisch und Wein leisten konnte und mit den verfügbaren Salben, Ölen und Parfüms konnte man den Körper auch in anderer Hinsicht verwöhnen (6,6). Und obwohl dieser Wohlstand kein Problem in sich darstellt, ja nicht einmal als Wohlstand an sich von Gott kritisiert wird, birgt er eine große Gefahr: Wem es rundherum gut geht, kann schnell vergessen, dass er immer noch ganz von Gott abhängig ist. Wer begeistert von seinem Wohlstand ist, verliert leicht die Begeisterung für die Erlösung. Und wer sich im praktischen Leben nicht von Gott abhängig fühlt, vergisst leicht, dass alleine schon die erlebte Erlösung die größtmögliche Abhängigkeit von Gott darstellt. Auf eben dieses Grundproblem weist Gott schon zu Beginn der Botschaft des Propheten Amos hin (2,9-16).
Zurück zu Gott
Die Therapie für diese geistliche Trägheit steht sprichwörtlich (nämlich rein literarisch) im Mittelpunkt des Propheten. Sie ist so einfach, dass sie in einem Satz zusammengefasst werden kann, und dennoch so inhaltsreich, dass sie tägliche Herausforderung bleibt. Sie lautet: „Sucht mich und lebt!“ (5,4; vgl. auch 5,5). Im Kern geht es darum, nicht nur Gottesdienstorte aufzusuchen, sondern Gott selbst zu suchen. Nach Gott als Person zu suchen und in der Beziehung zu ihm zu leben ist die Kur, die der Prophet Amos verordnet. Nicht kulinarische Genüsse und Wellness sind das wahre Leben, sondern Gott und seine Nähe zu suchen, bedeutet „leben“. Was dieses Leben auszeichnet, sind zunächst einmal keine konkreten Beschreibungen des Umfeldes. Um Gott zu suchen, muss man weder reich noch körperlich gesund sein, man muss nicht im Wohlstand oder Reichtum leben, man braucht dazu weder ein bequemes Bett noch Musik (vgl. 6,4-5) zur Entspannung. Um Gott zu suchen, braucht man nur eines: Gott! Und Gott ist da, er ist der Erlöser (2,10), er ist der Schöpfer (5,8) und er meint es gut mit seinem Volk (9,7-12). Und mit der Aufforderung, ihn zu suchen, wird gleichzeitig eine Art geistlicher Test gemacht: Woran hängt das Herz denn wirklich? Ist es das gute Leben oder Gott, der ganz unabhängig von den Umständen derselbe ist? Wenn diese Prioritätenfrage geklärt ist, wird die Ursache für die Doppelmoral beseitigt. Wem Gott wichtiger ist als die persönlichen Umstände, für den verliert ungerechte Bereicherung an Anziehungskraft. Wer wirklich Gott sucht, hat die Wahl zwischen dem Guten und Bösen im Alltag längst getroffen (5,12). Wer Gott sucht und in der Gewissheit seiner Gegenwart lebt (5,14), kann auch im Kleinen gegen Böses und Unrecht in seinem persönlichen Umfeld Stellung beziehen (5,15).
Im Kern ist diese von Gott angeordnete Therapie heute noch genauso nötig wie damals. Die Aufforderung „Sucht mich und lebt“ hat bis heute eine bleibende Verheißung, aber sie ist bis heute auch eine bleibende Aufgabe und Herausforderung.
Amos 5,14: Sucht das Gute und nicht das Böse, damit ihr lebt! Und der HERR, der Gott der Heerscharen, wird so mit euch sein, wie ihr sagt.