ThemenZeitgeist und Bibel

Wenn die eigene Wahrheit nur die eigene und dann nicht mehr die eigene ist

Dr. Michael Diener hat mit einer deutlichen Abrechnung mit seinen konservativen Kritikern im Februar 2020 seinen Rücktritt erklärt. Auch nach seiner Verabschiedung hat er nachgelegt und ihre Ansichten als Sünde bezeichnet und zur Umkehr gerufen. Michael Diener hat allerdings seine eigene Haltung in den letzten Jahren deutlich geändert. Der Grund liegt wohl in seinem Bibelverständnis und dem Glauben als persönlicher Wahrheit.

Nachdem Michael Diener am 1. September 2009 seinen Dienst als Präses des Gnadauer Gemein­schaftsverbandes angetreten hatte, veröffentlichte der Bibelbund ein eigenes Interview mit ihm (BuG 4-2009: 61-67). Die Überschrift lautete damals „Wenn meine Wahrheit nicht die Wahrheit des anderen ist“. Darin betonte er, dass er in der Auseinandersetzung mit den Entscheidungen der Landeskirchen in ethischen Fragen keine Kompromisse machen wolle, sondern den Dialog suche, wenn eben andere Wahrheiten vertreten werden als die eigene:

„Ich fühle mich nicht dazu berufen, ‚Kom­promisse‘ einzugehen, wo es um die Grund­substanz christlichen Glaubens in Theologie und Ethik geht. Wichtig ist mir deshalb im theologischen und ethischen Bereich, dass mein Gegenüber auch meine Position ernstnimmt und nicht diffamiert. Hier sehe ich eine Grenze, die aber die Grenze jedes Dialoges darstellt“ (63).

Allerdings haben sich die Wahrheiten des Michael Diener in den vergangenen 11 Jahren geändert. Eigentlich ist er schon in seinem „Sabbatjahr“, das er ursprünglich vor einer Wiederwahl 2021 als Gnadauer Präses verbringen wollte. Aber nun redet er sich in einem Interview1 mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) nach seinem vorzeitigen Rückzug aus dem Amt2, gewissermaßen frei als Privatier, einiges von der Leber:

„Meine Haltung zur Homo­sexualität etwa hat sich von 2011 an bis heute von einer völlig konservativen bis hin zu einer völlig offenen entwickelt. An mir kann man deshalb auch ablesen, wie schwer das für jemanden ist, der in diesen Fragen konservativ geprägt und erzogen wurde, diese Einstellung und die dahinterstehenden theologischen Positionen loszu­lassen. Ich bedauere die Verletzungen und Ver­ur­teilungen, die ich durch meine frühere Haltung homosexuellen Menschen zugefügt habe und gehöre zu denen, die in dieser Frage die pietistische und evangelikale Bewegung zur Umkehr auffordern.“

Michael Diener wollte immer Brückenbauer sein.

„Ich denke, ich wurde als Brückenbauer wahrgenommen und das wollte ich auch … dezidiert sein. Dazu benötige ich aber einen klaren, eindeutigen Standpunkt und die Freiheit, diesen dann auch zu benennen.“

Michael Diener bezeichnet die auf der Bibel begründete Überzeugung eines eingeschränkten Dienstes von Frauen in der Gemeinde und Schranken für homosexuelles Leben als destruktive Glaubens­haltung.

Das sagte er 2009 im Interview mit dem Bibelbund (62) und dann immer wieder, bis bei seiner Verabschiedung auch der Rats­vorsitzende der EKD Heinrich Bedform-Strohm, der auf Dieners Wunsch predigte, ihn als solchen lobte. Und – damit es bedeutender klinge – nannte er ihn auch „Pontifex“ (das lateinische Wort für Brückenbauer), eine Bezeichnung für das Papstamt, wobei der Papst der „Pontifex Maximus“ ist, der größte Brückerbauer. Allerdings wird an dem aktuellen Zitat von Diener deutlich, dass der Dienst als Brückenbauer entscheidende Ein­schränkungen bekommen hat. Denn nun will er offenbar keine Brücken mehr zu denen bauen, die das Ausleben homosexueller Neigungen für Sünde halten, sondern fordert sie zur Umkehr auf, hält also ihre Haltung für Sünde. Er selbst will jetzt „einen zugewandten und zukunftsgewandten Pietismus“ pflegen und distanziert sich mit deutlichen Worten von einem „gesetzlichen, abgekapselten Pietismus … und Formen von Biblizismus und Fun­damentalismus, die ich für Sünde halte“. Er habe das Amt des Präses auch niederlegt, weil er für „das Destruktive dieses Glaubensprofils … nicht mehr geradestehen“ wollte.

Wenn Michael Diener konkret wird, dann nennt er vier Bereiche, in denen er sich von der „destruktiven“ Glaubenshaltung distanziert. Erstens will er die konsequente Beteiligung von Frauen an sämtlichen Leitungspositionen und lehnt damit die biblischen Einschränkungen ab. Zweitens seien Angehörige anderer Religionen, namentlich des Islam nicht in erster Linie als Ziel von Mission anzusehen, also wie es die Bibel will als Adressaten des Evangeliums von Jesus Christus, sondern als Bürger, mit denen man „in einem Gemeinwesen zusammenarbeiten“ muss. Wenn ich richtig verstehe, will er Mission nicht ausschließen, sondern nachordnen. Drittens müsse sich ein Gläubiger politisch engagieren. Er nennt hier seine positive Haltung zu einer offenen Migrationspolitik als Beispiel (oder Maßstab?). Und viertens hat er auch seine „Haltung in ethischen Fragestellungen, zu denen auch die Haltung gegenüber Homosexuellen gehört“, verändert.

Man wagt kaum, Michael Diener daran zu erinnern, dass er sich damit von der Bibel entfernt und unbiblische Positionen vertritt. Denn sein Schlag gegen solche Kritik im Präsesbericht vom Februar 20203, in dem er mit seinen Kritikern abrechnet, lautet: „‚Biblisch‘ ist, was man selber vertritt, ‚unbiblisch‘, was von der eigenen Meinung abweicht“ (S. 11). Er wirft das dort seinen Kritikern, namentlich Hartmut Zopf, dem Vorsitzenden des Mecklenburgischen Gemeinschafts­verbandes, und Friedemann Wunderlich, dem Leiter der Süd-Ost-Europamission vor, die ihn und den aktuellen Weg Gnadaus hinterfragt hatten. Sie hätten doch nur „ihre Brille“ aufgesetzt, die eben nicht „meine Brille“ sei.

Würde Michael Diener seine eigenen Aussagen von 2014 auf seine heutige Haltung anwenden, müsste er sie unbiblisch nennen.

Wer allerdings den Präsesbericht von 2014 liest4 und was Diener dort zu biblischen Aussagen zur Homosexualität sagt, wird verwirrt sein. Dort nämlich war sein Urteil über seine heutige Position klar: Sie ist unbiblisch. Dort kritisierte er mit dem Verweis auf das reformatorische Verständnis des sola scriptura die Aussagen des früheren Ratsvorsitzenden der EKD, Nikolaus Schneider, der „mit Berufung auf das Schriftprinzip eine ethische Schriftaussage, die durch die Jahrtausende im Gehorsam gegen Gottes Wort gehört wurde und noch heute vor der übergroßen Mehrheit der Christenheit so gehört wird, einfach wegzuwischen“ versucht (12). Hier ging es um die Akzeptanz und Segnung von homosexueller Lebensweise trotz der Erkenntnis, dass die Bibel sie ablehnt. Liest man dann die „Theologischen Grundlinien zum Thema Homosexualität“, die Diener entfaltet, sind die Aussagen eindeutig.

„In der gesamten biblischen Überlieferung gibt es keine Aussage, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzt. … Es ist auch nicht möglich, die wenigen expliziten Bezugnahmen auf Homosexualität (Lev.18,22;20,13; Röm.1,26f.; 1.Kor.6,9-11; 1.Tim.1,10) für nicht relevant zu erklären, weil kultbezogen, auf Abhängigkeitsverhältnisse, wie etwa Päderastie begrenzt oder weil un­ver­gleichbar mit heutigen Formen von Homo­sexualität. … Es ist auffällig, dass diese relative Klarheit, welche von Bibel­wissenschaftlern unterschiedlichster Couleur immer wieder bestätigt wird, dennoch ebenso häufig angezweifelt wird. … Allerdings stützt sich ein ablehnendes Votum zur praktizierten Homosexualität keineswegs nur auf einzelne Bibelstellen, wie man es auch von offizieller kirchlicher Seite immer mal wieder im Blick auf vermeintlich ‚biblizistische oder gar fundamentalistische Frömmler‘ hören kann. Demgegenüber ist zu sagen, dass das biblische Zeugnis das ‚Mandat ehelichen Lebens ins Zentrum‘ rückt. Polarität von Mann und Frau wie auch Generativität sind dabei gleichermaßen zu nennen.“ (14)

„Spätestens hier ist nun festzuhalten, dass eine theologische Stellungnahme sich von einer Entscheidung darüber, ob Homosexualität nun angeboren, genetisch bedingt oder frühkindlich erworben ist, nicht abhängig machen kann. … Humanwissenschaftlich ist diese Frage mindestens unentschieden einzustufen, wenn nicht sogar eher mehr für die entwicklungsbedingte Variante spricht. … Ebenso umstritten ist die Frage nach einer Therapierbarkeit von Homosexualität. Hier ist festzuhalten, dass es durchaus Menschen gibt, die eine Veränderung von praktizierter Homosexualität zur erfüllenden Heterosexualität erlebt haben. … Also: unabhängig von der Antwort auf die Frage nach Veranlagung oder Prägung, nach Unveränderbarkeit oder Therapierbarkeit gilt: ‚aus dem Sein folgt nicht automatisch ein Sollen.‘ Im Sinne eines christlichen Menschenbildes sind wir nicht einfach an unsere Sexualität Ausgelieferte, sondern dazu aufgerufen, den Raum der Sexualität verantwortlich vor Gott und Menschen zu gestalten. Die daraus folgende Ermutigung zu einem zölibatären Lebensstil gilt im Sinne einer neutestamentlichen Ethik nicht etwa nur Homosexuellen, sondern allen Menschen, welche nicht auf Dauer, verbindlich, öffentlich in einer Ehe von Mann und Frau miteinander leben.“ (15)

Die Aussagen sind klar im Sinne des Neuen Testaments. Im aktuellen Interview klingt das aber ganz anders, auch wenn Michael Diener dort behauptet, er habe schon 2014 für Toleranz gegenüber homosexuellem Leben geworben:

„Ich bin heute der festen Überzeugung, dass das, was die Heilige Schrift unter homosexuellen Handlungen beschreibt, nicht das ist, was wir heute unter Homosexualität verstehen. Homosexuelle Menschen haben dasselbe Recht in ihrer Sexualität ernstgenommen, in der Gemeinde wertgeschätzt und geliebt, gesegnet und begleitet zu werden. Ich sage das auch im Blick auf die homosexuellen Menschen in den frommen Bewegungen und Gemeinden, welche immer noch Angst haben, sich zu outen. Das ist schlimm.“

Jeder aufmerksame Beobachter wird sich fragen, wie es zu einem so erheblichen Wandel in den Aussagen und Meinungen bei Michael Diener kommen konnte. Meines Erachtens hängt das mit seinem Bibelverständnis zusammen.

Auch mit seiner eindeutigen Empfehlung des Buchs von Martin Grabe, das für auf ver­bindliche Be­zie­hungen angelegtes homosexuelles Leben in evangelikal-konservativen Ge­mein­den plädiert, distanziert er sich deutlich gegenüber den früheren Aussagen. Denn Grabe argumentiert mit genetischer Veranlagung, man­gelnder Thera­pierbarkeit und angeblicher Un­mög­lichkeit einer sexuellen Abstinenz. Sind die Aussagen der Bibel nun klar ablehnend oder reden sie überhaupt nicht über Homosexualität, wie das auch Martin Grabe behauptet? Diener meinte im August 2020 auf Facebook:

„Martin Grabes Buch lässt an Deut­lichkeit nichts zu wünschen übrig. Er hat als Person und in der Darlegung seiner Grundthesen meine volle Unterstützung. Und es werden immer mehr werden, die theologisch, psychologisch, existenziell aufbegehren und aus der pietistisch-evangelikalen Welt Stellung beziehen werden FÜR eine offene Position, nicht GEGEN, sondern im Gehorsam gegen das Evangelium und das lebendige Wort Gottes“.

Jeder aufmerksame Beobachter muss sich fragen, wie das alles zusammenpasst.

Gab es neue exegetische Erkenntnisse, die eine Änderung seiner früheren klaren Einsicht verlangen? Offenbar ist das nicht der Fall. Denn die exegetischen Überlegungen aus dem Buch von Martin Grabe konnte man beispielsweise in dem Berichtsband „Der homosexuelle Nächste“ schon 1963 lesen, in dem auch Adolf Köberle einen Beitrag beigesteuert hatte.5 Nur waren sie da viel vorsichtiger, abwägend und mit vielen Fragezeichen versehen. Seitdem sind diese Erwägungen von zahlreichen Exegeten als unbegründet, spekulativ und dem gesamten Zeugnis der Bibel entgegenstehend verworfen worden. Es sind auch keine neuen Schriften aus der Umwelt des NT aufgetaucht, die ein neues Licht auf die biblischen Aussagen werfen.

In seiner Abrechnung im Präses­bericht 2020 legte Michael Diener viel Wert darauf, dass er versucht habe, seinem Amt treu zu bleiben und deswegen auch über Jahre „konservative“ Positionen vertreten hatte, die er teilweise nicht persönlich teilte. In Sachen Homosexualität sah er sich, nach seinen Äußerungen in einem Interview mit der Zeitung „Welt“6, vom Gnadauer Vorstand mit einem „Maulkorb“ versehen. Aber selbst in diesem Interview hatte er noch gesagt: „Ich vermag aus der Heiligen Schrift nicht herauszulesen, dass es einen Auftrag an die Kirche zur Segnung homosexueller Beziehungen und deren Gleichstellung mit der Ehe von Mann und Frau gäbe.“ Dort hatte er nur seine Haltung deutlich gemacht, dass er die Meinung von Christen, „die ihre Homosexualität geistlich für sich geklärt haben und sich von Gott nicht zur Aufgabe dieser Prägung aufgefordert sehen“, im Sinne des Pluralismus als mögliche Meinung neben anderen gleichberechtigt stehen lassen wollte. So ähnlich klingt das auch beim Streitthema mit der EKD, der Judenmission. Da stehen – scheinbar auch im Sinne des Pluralismus – Aussagen über die „bleibende Erwählung der Juden durch Gott“ und über „das christliche Zeugnis gegenüber Israel“ in Spannung gleichberechtigt nebeneinander. Der Pluralismus hat für Michael Diener nun teilweise ein Ende gefunden. Positionen, die er selber früher vertreten hat, sind jetzt Sünde und die, die sie weiterhin vertreten, sollen umkehren.

Bei Michael Diener verschwindet die Wahrheit Gottes hinter den „Wahrheiten“ der Menschen, die nur jeweilige persönliche Meinungen zu sein scheinen.

Meiner Einschätzung nach hat dieser Wandel mit einer hermeneutischen Grundposition zu tun, die Michael Diener – soweit ich sehe – über Jahre immer vertreten hat. Er hat niemandem etwas vorgespielt, sondern „seine Wahrheiten“ sind einem Wandel unterlegen. Er hat seine Meinungen und auch seine Bibel­auslegung immer wieder als Ergebnis seiner Lebens­ge­schichte und Prä­gung herausgestellt. Theologie sei hauptsächlich Bio­grafie. Er sei eben pietistisch aufgewachsen. Andere, die eine andere Biografie hatten, sähen naturgemäß alles anders durch ihre eigene Brille. Wer von der Bibel geprägt ist, der wird davon ausgehen, dass es „die Wahrheit“ gibt, die Jesus Christus selbst ist (Joh 14,6) und die auch im Wort Gottes wörtlich ausgesagt ist, so dass es ebenso „die Wahrheit“ heißen kann (Joh 17,17; Ps 119,160). Bei Michael Diener scheint diese Wahrheit aber hinter den „Wahrheiten“ der Menschen zurückzustehen. Im Vordergrund steht die Erkenntnis des Einzelnen, seine individuelle Sicht, die jeder durch die spezielle Brille seiner Biografie gewonnen hat.

Auch im Präses­bericht von 2014 mit seiner eindeutigen biblischen Exegese zur Homosexualität macht Diener gewissermaßen als Gegengewicht seine Hermeneutik deutlich:

„Es ist ebenso falsch, den Befür­wortern einer gleichwertigen An­erkennung homosexueller Lebens­­­gemeinschaften vorzuwerfen, sie setzten sich leichtfertig über biblische Aussagen hinweg. Wir haben ernst zu nehmen, dass auch andere Positionen für sich in Anspruch nehmen, aus einem ehrlichen und gehorsamen Studium und Verständnis der Heiligen Schrift als Ganzer zu erwachsen“ (22).

Er selbst könne zwar bestimmten Aus­le­gungen „persönlich nicht folgen“, aber der andere könne doch der sein, der die Wahrheit bewahre (23-24). Dabei erinnert er sowohl an unterschiedliche Erkenntnisse etwa in der „Tauffrage“ oder der „Frauenfragen“ als auch an biblische Begründungen für Antisemitismus oder für eine Minder­wertigkeit von Menschen mit schwarzer Hautfarbe, wie sie von konservativen Christen vertreten wurden. „Aus diesem Grund widerspreche ich, wann immer Menschen im tiefsten Brustton der Überzeugung, DIE Wahrheit für sich reklamieren und dabei nicht nur die christliche Liebe verletzen.“ (25) Er sieht auch voraus, dass immer mehr junge Christen in den sexualethischen Fragen andere Überzeugungen gewinnen werden und deswegen wohl in Zukunft auch andere Meinungen vorherrschen.

Michael Dieners Hermeneutik führt dazu, dass es Gott prakisch unmöglich wäre, mit seiner Wahrheit zum Menschen durchzudringen.

Michael Diener vertritt mit seiner Haltung eine Her­meneutik, die erhebliche Kon­sequenzen hat. Und es ist zu befürchten, dass sie weiter wirken wird. Am wichtigsten scheint mir dabei zu sein, dass diese Sicht auf die Bibel bedeutet, dass es für Gott praktisch unmöglich wäre, mit seiner Wahrheit zum Menschen durchzudringen. Die Wahrheit Gottes bliebe uns immer fern, weil sie höchstens zufällig mit unserer Erkenntnis übereinstimmen könnte und wir es dann nicht einmal wissen könnten. Kann es angesichts dessen überhaupt eine Gewissheit des Glaubens geben? Kann ich für meinen Glauben an den einzigen Retter Jesus Christus notfalls den Tod erleiden, wenn ich diese Überzeugung immer unter den Vorbehalt stellen muss, dass ja vielleicht auch diejenigen die Wahrheit haben, die gegen Christus kämpfen? Es gibt ja keine logische Grenze für das komplette Infragestellen der eigenen Erkenntnis. Der Glaube ist dann keine „feste Zuversicht“ mehr (Heb 11,1), sondern eine wandelbare Meinung. Wenn also wirklich die entgegengesetzten Meinungen von Michael Diener aus den Jahren 2014 und 2020 die gleiche Berechtigung haben, biblisch genannt zu werden, dann hat der Begriff seine Bedeutung verloren. Dann wäre Dieners Vorwurf, er verkomme zu einer Art Kampfbegriff, berechtigt.

Ja, der Mensch kann irren und irrt auch oft. Er kann sich deswegen auch nicht glaubend auf seine eigenen Meinungen und Ansichten stützen. Aber die Bibel macht deutlich, dass er sich auf die Aussagen Gottes stützen kann. Diese Aussagen kann er hören und in rechter Weise erkennen, nicht aus eigener Kraft, aber durch den Heiligen Geist, den Gott mit seinem Wort vermittelt. Ohne das Fundament des Wortes Gottes hat der Mensch immer nur „seine Wahrheiten“. Mit dem Wort Gottes kann er aber darauf vertrauen, dass Gott mit SEINER Wahrheit zu ihm durchdringen kann und sie ihm auch in sein Herzen pflanzen kann. Dadurch wird kein Christ irrtumslos. Aber weil er auf die irrtumslose Schrift hört, kann Gott ihn korrigieren. Denn: „Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam. Es ist schärfer als das schärfste zweischneidige Schwert, das die Gelenke durchtrennt und das Knochenmark freilegt. Es dringt bis in unser Innerstes ein und trennt das Seelische vom Geistlichen. Es richtet und beurteilt die geheimen Wünsche und Gedanken unseres Herzens.“ (Heb 4,12). Spielball der eigenen Meinungen und Wünsche zu sein, ist nach Gottes Wort nicht das Leben des normalen Christen, sondern ein Zeichen des Gerichtes und Zorns Gottes, wenn er den Menschen sich und seinen Ansichten überlässt (Röm 1,24-25).

Die Haltung Dieners hat nur den Anschein von besonderer Demut, tatsächlich erhebt der Mensch seine Erkenntnis über Gottes Wort und kann sich nicht mehr dem Wort beugen.

Nun erscheint Michael Dieners Grund­haltung als Zeichen besonderer Demut. Ich halte das für einen Irrtum. Zur Demut gehört biblisch betrachtet die willige Beugung unter die gewaltige Hand Gottes (1Pet 5,6) und damit auch unter sein Wort, ob mir die Konsequenzen passen oder nicht. Demut ist aber nicht die Infragestellung von klaren Aussagen der Bibel, indem ich das Ausgesagte zuerst zu meiner Erkenntnis erkläre und dann gegenüber anderer Erkenntnis relativiere. Damit beugt sich der Mensch nicht unter Gottes Wort. Im Gegenteil, er versucht, sich des Wortes zu bemächtigen. Es gehört aber auch zur Demut, dass man die Irrtümer eines anderen beim Namen nennt. So jedenfalls hat es Jesus regelmäßig getan und uns aufgefordert, von seiner Demut zu lernen (Mt 11,29). Dabei – da will ich Michael Dieners Aussagen unterstreichen – dürfen wir aber nie Richter des anderen werden, das bleibt immer Gott allein, sondern wir sind Botschafter an der Stelle Christi, durch die Gott selbst ermahnt (2Kor 5,20).

Darüber hinaus wird sich jeder Beobachter fragen, wie der Gnadauer Verband mit dem Erbe von Michael Diener umgehen wird. Soweit ich sehe, hat die hermeneutische Grundhaltung Dieners eine Reihe von Anhängern in den Reihen der Verantwortlichen im Raum Gnadaus gefunden. Seine Kritiker hat Michael Diener immer wieder als unbedeutende Minderheit dargestellt. Um die Mitgliederversammlung des Gnadauer Verbandes zu beruhigen, hatte er namentlich die von Ulrich Parzany ins Leben gerufene Initiative „Bibel und Bekenntnis“ als unbedeutend hingestellt: „Nun lässt sich die geistliche Kraft einer Bewegung wahrlich nicht einfach an Zahlen ablesen, aber offensichtlich sind selbst über 99% der sogenannten Evangelikalen von Zielsetzung und Vorgehensweise dieses Netzwerkes nicht überzeugt“ (20). Andererseits käme hier ein „Kampf um DIE Wahrheit“ zum Ausdruck, der nur „Scheidungen und Zerbruch, Polarisation und … Ablenkung von unserem eigentlichen Auftrag“ hervorbrächte (21). Auch der Einfluss Michael Dieners auf die ganze evangelikale Bewegung dürfte in dieser Hinsicht nicht gering sein: Wahrheit wird zur Meinung, um Streit zu vermeiden.

Die Gemeinde Jesu hat von Beginn an damit leben können, dass es unterschiedliche Erkenntnisse und Auslegungen der Bibel gibt. Wo aber das Wort Gottes selbst in Frage gestellt ist oder wo man ihm gar nicht mehr die Kraft zutraut, durch das Wirrwarr der menschlichen Meinungen hindurchzudringen, da war immer die Grenze erreicht. Dieser Kampf um die Wahrheit hat nicht vom eigentlichen Auftrag abgelenkt, sondern immer zu ihm zurückgeführt.


  1. https://www.evangelisch.de/inhalte/175960/22-09-2020/pietist-michael-diener-hat-sich-veraendert-ja-zu-segnung-homosexueller-paare 

  2. Die Meldungen dazu sind nicht ganz eindeutig. Einerseits hieß es, Diener bleibe bis Ende August 2021 „formell“ im Amt, andererseits betont der Verband jetzt in einem Bericht von der Verabschiedung am 19. September, dass Michael Diener „entpflichtet“ worden sei. https://www.gnadauer.de/verabschiedung-mdiener/ 

  3. https://www.gnadauer.de/uploads/_gnadauer/2020/02/2020-02-10-Pr%C3%A4sesbericht-MV-Web.pdf 

  4. https://www.gnadauer.de/uploads/_gnadauer/2016/09/Pr%C3%A4sesbericht_2014.pdf 

  5. Hg. B. Hermanus. Hamburg: Furche-Verlag, 1963. 288 Seiten. 

  6. https://www.welt.de/politik/deutschland/article149946122/Chef-der-Evangelikalen-will-Homo-Verdammung-stoppen.html