Die spätmoderne Bibelauslegung
Heutzutage sind viele Schriftausleger nicht mehr bereit, sich dem Sinngehalt von Bibeltexten unterzuordnen. Oft setzen sie voraus, dass Texte gar keinen objektiven Sinn transportieren. Argumentiert wird wie folgt: „Da wir sowieso nicht verstehen, was ein ursprünglicher Autor, etwa ein David oder Paulus, gemeint hat, müssen wir nach anderen Wegen suchen, um von den antiken Texten zu profitieren. Wir verstehen Bibeltexte nicht, indem wir uns ihnen unterordnen und sie im Sinne ihrer Autoren auslegen. Wir schaffen uns vielmehr in der Begegnung mit den alten Texten neue Wirklichkeiten.“ Das Gewicht verschiebt sich vom Text auf den Ausleger, dessen Denken wiederum imprägniert ist von seiner sozialen Zugehörigkeit. Nicht das, was der Text objektiv sagt (kein Text sagt etwas objektiv), sondern das, was der Text in uns auslöst, ist entscheidend für das Textverständnis der spätmodernen Bibelausleger.
In der spätmodernen Bibelauslegung ist die Bedeutung des Textes nicht im Text, sondern immer eine Schöpfung des Lesers.
Rob Bell, ein ehemaliger Pastor, dessen Bücher auch in Deutschland von jungen Leuten gern gelesen werden, treibt diesen hermeneutischen Ansatz auf die Spitze. Seiner Meinung nach „ist die Bibel noch nicht abgeschlossen“1, sondern wird durch die Ausleger finalisiert. Jesus habe seinen Jüngern den Auftrag gegeben, „selbst zu entscheiden, wie die Schrift am besten ins Leben umgesetzt wird“2. Wir hätten also zu akzeptieren, dass wir beim Auslegen der Bibel immer etwas in sie hineinlegen. „Jede Auslegung ist im Wesentlichen eine persönliche Meinung. Niemand ist objektiv.“3 Kurz: Wir können gar nicht wissen, was Gott sagt. Alles, was wir haben, sind unsere Deutungen, die in der Regel erheblich voneinander abweichen. Die Bedeutung von Texten – heißt es beispielsweise in einem verbreiteten Lehrbuch für alttestamentliche Exegese –, „ist nicht etwas, was darauf wartet, im Text gefunden zu werden. Die Bedeutung ist letztendlich immer eine Schöpfung des Lesers; und Leser gibt es so wie Texte in einer unendlichen Vielfalt“.4 Wahrheit sei nicht von Gott vorgegeben, sondern immer von Menschen „sozial und politisch konstruiert“5. Im Austausch mit den Texten werde ein Sinn gestiftet. Das mache unser Leben lebendig. Die Passagen „wollen neu erlebt und gelebt werden“, Bibelauslegung findet in der Geschichte statt und ist damit „Identitätsfindung, Leben, Praxis, Leiden von Menschen“.6
Hermeneutisches Cruising
In der Tradition dieser spätmodernen Bibelauslegung steht auch das sogenannte „Hermeneutische Cruising“. Der Begriff „Cruising“ stammt aus der englischen Seefahrersprache und bedeutet wörtlich „mit dem Schiff kreuzen, herumfahren“. Innerhalb der schwulen Milieus wird er gern benutzt, um die aktive Suche nach einem kurzfristigen Sexpartner zu bezeichnen. Ein „Cruiser“ ist jemand, der zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Auto unterwegs ist, um einen potenziellen Intimpartner zu finden. Dabei achtet er auf zarte schwule Signale und setzt selbst mittels Körpersprache, Kleidung oder Codes Fingerzeige, die von Eingeweihten erkannt werden. Des Öftern endet Cruising mit anonymem Sex, weshalb im homosexuellen Diskurs der Begriff auch als Synonym für den schnellen Sex verwendet wird.
Insofern überrascht es nicht, dass das „Hermeneutische Cruising“ seinen Sitz in der schwulen Bibelauslegung hat. Timothy R. Koch, ein homosexueller Pfarrer und Pionier dieser hermeneutischen Herangehensweise, schreibt:
„Ich nenne sie [d. h. die schwule Hermeneutik] hermeneutisches Cruising, weil Cruising der Name ist, mit dem wir den uns eigenen Weg des Erkennens bezeichnen, die uns eigene Sehnsucht nach Begegnung, den uns eigenen Verstand und Instinkt, die uns eigene Art, auf das (bzw. den) zu antworten, was (der) uns anzieht und bewegt. Hermeneutisches Cruising bedeutet, den Frauen und Männern in der Bibel mit derselben Haltung zu begegnen, mit der wir uns einer jeglichen heterogen zusammengesetzten Gruppe nähern würden: in der Erwartung, dass unter diesen Menschen einige Freundinnen und Freunde sein werden, einige Feinde, einige, denen unser Lebensstil egal ist (oder auch die für uns nichts weiter bedeuten) … und einige echt heiße Typen!“7
Diese Weise der Bibelauslegung richtet sich gegen jedes Konzept, das der Bibel immer noch die Vollmacht zugesteht, „Menschsein zu regulieren oder in seiner Eigentlichkeit zu bestimmen und so mein Verhalten und das Verhalten anderer zu normieren“8. Verworfen wird jeder autoritative Anspruch, der von außen an den Menschen herantritt. Kompetenzzentrum der Auslegung ist das innerseelische Begehren. Die innere Wahrheit entscheidet über die Bedeutung und das Recht, die oder das fremde Wahrheiten für mein Leben haben dürfen. Timothy R. Koch schreibt:
„Ich berufe mich für die Normen meines (Zusammen-) Lebens und meiner Ethik auf eine intrinsische Autorität, welche weder diese noch irgendwelche anderen Texte in Frage stellen können. Mit Audre Lorde erlaube ich dem Wissen und der homoerotischen Kraft tief in mir, das Licht zu sein, in dem ich denke, glaube und Texte lese. Denn, wie sie sagt: ‚When we begin to live from within outward, in touch with the power of the erotic within ourselves, and allowing that power to inform and illuminate our actions upon the world around us, then we begin to be responsible to ourselves in the deepest sense‘.“9
In der queeren Bibelauslegung erschafft sich der Leser mit seiner erotischen Erkenntnisfähigkeit eine Bedeutung, die ihn in seiner sexuellen Ausrichtung bestätigt.
Der hermeneutische Cruiser wird beim Lesen der Bibeltexte seine Augen und Ohren für das offenhalten, was seine Wünsche und Sehnsüchte anspricht. Er ist immer dabei, „in dem Wald von Texten nach lebenseröffnenden, spannenden Spuren und Begegnungen zu suchen!“10. In der Bibel herumcruisen bedeutet, die eigene erotische Erkenntnisfähigkeit und das mir gehörende erotische Wissen in die Begegnung mit den biblischen Schriften einzubringen.
„Hermeneutisches Cruising setzt wie jedes Cruising in der wirklichen Welt voraus, dass ich offen bin für neue Möglichkeiten, dass ich dem Aufmerksamkeit schenke, was mir neu vor Augen kommt, meine Neugier erregt oder als vielversprechendes Signal daherkommt – und mich einfach darauf einlasse.“
Es geht nicht um institutionelle Anerkennung oder den Entwurf einer neuen Ethik. „Der einzige ‚vernünftige‘ Grund dafür, dass wir für dieses Cruising Zeit und Energie aufwenden, ist, dass wir Lust haben, es zu tun, und es tun können – und dass es etwas ist, das uns wirklich Spaß macht!“11
Diese Herangehensweise führt im Vergleich mit der traditionellen Hermeneutik zu einem Fokussierungswechsel. Die Einsicht, dass das menschliche Herz auf Erleuchtung durch die Schrift und den Geist angewiesen ist, wird auf den Kopf gestellt. Beim Cruising leuchtet die im eigenen Herzen liegende Kraft des Erotischen den Bibeltext aus. Die Bibeltexte werden entmachtet. Ihnen wird nicht mehr zugestanden, das Herz des Auslegers zu durchleuchten, zu ermahnen oder zu trösten. Sie werden vielmehr dazu benutzt, das eigene Begehren zu rechtfertigen und zu stimulieren. Ich will dies an zwei Beispielen illustrieren.
Erstes Beispiel: Elia – der Lederkerl
Timothy R. Koch selbst stellt in seinem programmatischen Aufsatz vier Anwendungsbeispiele vor. Das erste Beispiel ist eine Exegese von 2. Könige 1,2–8. Ich werde sie kurz erörtern.
Der Abschnitt dreht sich um den Propheten Elia, der dem israelitischen König Ahasja den Tod ankündigt. Ahasja war wegen des Sturzes im Obergemach eines Hauses in Samaria schwer erkrankt. Er sandte deshalb Boten aus, die Baal-Sebub, den Gott von Ekron, fragen sollten, ob er von dieser Krankheit genesen werde. Aber der Engel des HERRN befahl Elia, dem Tischbiter (vgl. 1Kön 17,1), den Boten entgegen zu gehen und sie mit dem Götzendienst des Königs zu konfrontieren: „Ist denn nun kein Gott in Israel, dass ihr hingeht, zu befragen Baal-Sebub, den Gott von Ekron? Darum spricht der Herr: Du sollst nicht mehr von dem Bett herunterkommen, auf das du dich gelegt hast, sondern sollst des Todes sterben“ (2Kön 1,3b–4a). Die Boten kehrten zum König zurück und unterrichteten ihn wahrheitsgemäß über die Gerichtsbotschaft. Der König wollte unbedingt wissen, wie der Mann, der die Botschaft überbracht hat, aussah. Und so sprachen die Boten zu ihm: „Er hatte langes Haar und einen Ledergurt um seine Lenden.“ Worauf der König antwortete: „Es ist Elia, der Tischbiter“ (2Kön 1,8).
Bibelauslegung wird zu einer Kette von Assoziationen, die im Propheten Elia einen schwulen Mann erkennen will.
Für Timothy R. Koch enthält Vers 8 den Code für das richtige Verständnis der Erzählung. „Dieser Vers ist mir sofort in die Augen gestochen: ‚Er hatte langes Haar und einen Ledergurt um seine Lenden‘. Elia – ein Lederkerl, ein Bär?!?!“12 Hier nimmt die Assoziationskette ihren Anfang. Haare und ein Ledergurt lassen den Autor an einen „Bär“ denken. In der homophilen Milieusprache bezeichnet der Bär meist den behaarten Mann als Gegenpol für den jungen, knabenhaft erscheinenden Schwulen. Elia ist also ein Bär in Lederkleidung.
Nachdem Koch den hebräischen Text betrachtet hat, kommt er zu einem Zwischenergebnis. Da Elia als „der Herr des Felles“ bezeichnet wird, können die Worte bedeuten: der Prophet habe vermutlich Ziegenfelle um seine Lenden gebunden und sei der „der Herr der Ziegen“. Der exegetische Gesamtertrag lautet:
„Als ich bei meinem Cruisen soweit vorangekommen war, klingelten plötzlich alle möglichen Glocken in meinem Kopf: Elia als ein Gott der Ziegen, umwickelt mit Ziegenfellen?! Judy Grahn hat ja schließlich ausführlich beschrieben, wie sich Gott geheiligte Homosexuelle zu verschiedensten Zeiten der Geschichte in Ziegenfelle kleideten und zu Medien von Ziegengottheiten wurden (welche oft auch als Gewittergottheiten galten)! Durch und durch faszinierend für mich … und nur die erste Entdeckung, welche ich in der ganzen Sammlung von Geschichten über diesen rauhen, haarigen Profeten gemacht habe!“13
Es besteht immer die Gefahr, dass der Bibelleser in einem Text nur wiederfindet, was ihn bewegt. Das darf aber nicht zum Prinzip der Auslegung gemacht werden.
Das Beispiel zeigt sehr schön, wie schnell wir Bibelleser in einem Text finden, was uns bewegt. Die Erzählung sagt so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Timothy R. Koch hier erkennen will. Elia ist kein Gott der Ziegen, sondern Prophet des lebendigen Jahwe. Er steht nicht im Dienst von Ziegengottheiten, sondern stellt andersherum den Götzendienst von Ahasja an den Pranger. Das äußere Erscheinungsbild hat nichts mit einem „Bären“ in Lederkleidung zu tun, sondern repräsentiert das Innenleben des Bußpredigers. Die Haare beziehen sich auf das aus Schaf-, Ziegen- oder Kamelfell gefertigte Gewand, das die Propheten damals getragen haben (vgl. 1Kön 19,21). Prophetenmantel und Ledergürtel deuten „den Ernst der göttlichen Gerichte über das verweichlichte, in Ueppigkeit und Weltlust schwelgende Volk“ an.14 Johannes der Täufer knüpfte später bei seinem Auftreten an dieser asketischen Tradition an, als er im Dienst der Buß- und Gerichtspredigt steht (vgl. Mt 3,1–12; Lk 3,2–17).
Zweites Beispiel: Jakob und der Coming-out-Prozess
Wir wollen noch ein zweites Beispiel betrachten. Auch in Deutschland praktizieren Theologen das Hermeneutische Cruising. Die evangelische Pfarrerin Dr. Kerstin Söderblom hat Jakobs Kampf am Fluss Jabbok queer ausgelegt.15
„Eine que(e)re Bibelexegese re-interpretiert traditionelle Bibelauslegungen. Sie werden undogmatisch und provokant quer gebürstet und auf gender sensible Themen hin überprüft. Homoerotische Spuren in Bibeltexten werden aufgespürt und kontextualisiert, androgyne, hybride oder queere Gottesbilder herausgearbeitet und reflektiert.“16
Einige sprechen „in diesem Zusammenhang vom ‚hermeneutischen cruising‘“17. Schauen wir uns zunächst das Umfeld von 1. Mose 32 an. Jakob, der Sohn von Rebekka und Isaak lebte in Beerscheba, einer Stadt in Kanaan (vgl. 1Mo 26,33; 28,10). Durch eine List hatte er sich den Erstlingssegen von seinem Vater erschlichen (vgl. 1Mo 27,1–29). Dieser Segen hätte seinem zuerst geborenen Zwillingsbruder Esau zugestanden. Jakob wollte ihn unbedingt haben, da Reichtum und Gottes Schutz davon abhing und er das Wohlwollen seines Vaters suchte. Seine Mutter Rebekka half ihrem Lieblingssohn, den Vater zu hintergehen, sodass ihm der Segen des Erstgeborenen zufiel (1Mo 27,1–40).
Nachdem Esau den Betrug durchschaute, drohte er damit, seinen Zwillingsbruder umzubringen (vgl. 1Mo 27,41). Jakob floh mit Unterstützung seiner Mutter zu seinem Onkel Laban in Haran, in der Hoffnung, dass sich Esaus Grimm über die Jahre legt (vgl. 1Mo 27,42–45). Dort im Osten gründet Jakob unter verwickelten Umständen eine Familie und bekommt von Frauen und Mägden elf Söhne und eine Tochter (vgl. 1Mo 29–30). Er erwirtschaftet sich ein ansehnliches Vermögen, was den Neid unter Laban und seinen Söhnen erweckt (vgl. 1Mo 31). Jakob flieht heimlich und wird von den Aramäern verfolgt. Gott mahnt allerdings Laban, Jakob freundlich zu begegnen (vgl. 1Mo 31,31). An der Grenze von Aram und Gilead schließen die beiden einen Friedensvertrag miteinander (vgl. 1Mo 31,26–54).
Als Jakob davon erfährt, dass Esau ihm mit 400 Mann entgegenzieht, teilt er aus Angst vor Rache sein Gesinde und Vieh in zwei Fraktionen, damit wenigstens ein Teil gerettet wird. Dann betet er zum HERRN und sendet am folgenden Tag Esau ein Geschenk (vgl. 1Mo 32,7–21). In der Nacht ringt Jakob, der allein zurückgeblieben ist, mit einem Mann, der ihm letztendlich die Hüfte verrenkt. Jakob lässt ihn nicht mehr los, bis dieser ihn segnet. Am nächsten Morgen läuft er hinkend Esau entgegen (vgl. 1Mo 32;23–33; Hos 12,5). Ihre Begegnung verläuft gegen alle Befürchtungen versöhnlich (vgl. 1Mo 33,1–16).
Nach traditionellem Verständnis hat Jakob mit Gott gekämpft, weshalb er den Namen Israel (d. h. „Gottesstreiter“) erhält und den Ort Pnuël (d. h. „Angesicht Gottes“) nennt. Wir lesen: „Und Jakob nannte die Stätte Pnuël; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet“ (1Mo 32,31).
Der Kampf Jakobs wird aus que(e)rer Perspektive zu einem Coming-out-Prozess von Lesben und Schwulen oder Transsexuellen.
Das hermeneutische Cruising oder eine queere Re-Lektüre führt gleichwohl zu einem gänzlich anderen Ertrag. Kerstin Söderblom schreibt:
„Susannah Cornwall bezeichnet den anschließenden Zweikampf als (homo-)erotisch, ja sogar als Liebesakt. Die beiden Männer wälzen sich durch den Matsch und kämpfen körperlich miteinander. Sie entziffert darin eine erotische Begegnung, auch wenn sie ein offenes Ende hat und ohne Sieger bleibt. Dennoch oder gerade deswegen wirkt die körperliche Begegnung verstörend, bewegend und zutiefst existentiell. Der Unbekannte bleibt geheimnisvoll und jenseits einer zuweisbaren Geschlechtsidentität oder Rollendefinition. Er entzieht sich einer klar definierbaren Identität. Obwohl er als Mann eingeführt wird, wirkt er in seiner geheimnisvollen Erscheinung eher als ein Wesen jenseits binärer Geschlechterkategorien.“18
In der que(e)ren Bibelauslegung erscheint Gott nicht als „der Abwesende, Distanzierte, ewig Unberührbare, wie er in theologischen Lehrsätzen oft dargestellt wird, sondern er tritt auf als der Nahbare. Gott wird körperlich spürbar und macht sich verletzlich, obwohl er gleichzeitig geheimnisvoll bleibt. Die Re-Lektüre zeigt einen Gott, der sich schmutzig macht, sich im Dreck wälzt und in körperlicher Weise einem anderen Mann begegnet.“19 Zudem kann aus que(e)rer Perspektive auch „jeder Coming-out-Prozess von Lesben und Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen als körperlicher, geistiger und seelischer Kampf um ein Leben in Würde und Anerkennung gesehen werden. Es ist ein Kampf mit genormten Werten in einem (hetero-)normativen Umfeld. Und es ist ein Ringen um Respekt und Gottes Segen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.“20 Das Fazit lautet:
„Vor diesem Hintergrund zeigt sich in dieser biblischen Geschichte ein Gott, der ganz anders ist. Er überschreitet Grenzen und zwingt auch Jakob, Grenzen zu überschreiten. Dieser Gott ist nicht männlich, nicht weiblich. Er lässt sich körperlich berühren und berührt selbst. Dadurch sprengt er die dualistisch angeordneten Kategorien von Normalität und Abweichung, Körper und Geist, Subjekt und Objekt. Und als der Morgen anbricht, segnet Gott den Jakob.“21
Ein Vergleich oder ein Gleichsetzen eines Coming-out-Prozesses mit dem Ringen Jakobs um Gottes Segen ist eine rein aus der Luft gegriffene Konstruktion und hat im Text keinen Anhalt.
Diese Interpretation enthält so viele Ungereimtheiten, dass ich mir erst einmal die Augen reiben musste. Kurz: Einerseits heißt es, der Zweikampf sei als homoerotisches Ereignis zu lesen, da sich zwei Männer im Matsch wälzen. Andererseits durchbreche die Jabbokerzählung gerade dualistische Kategorien und entfalte, dass Gott weder männlich noch weiblich sei. Sämtliche que(e)re Erträge basieren auf Beobachtungen dessen, was nicht im Text steht. Söderblom meint, der „Kampf hat ein offenes Ende und bleibt ohne Sieger“. In 1. Mose 32,29 lesen wir aber ausdrücklich: Gott sprach: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.“ Der Vergleich mit dem Coming-out-Prozess und das Ringen um Gottes Segen für die gleichgeschlechtliche Partnerschaft ist eine rein aus der Luft gegriffene Konstruktion. Der Text enthält keinerlei Signale, die auf eine Dekonstruktion der Geschlechter hinweisen.
Wie im ersten Beispiel lässt sich demnach zeigen, dass beim hermeneutischen Cruising eigene Wünsche in den Bibeltext eingetragen werden. Die Bibel dient als Steinbruch, aus dem Ausleger herausbrechen, was sie – willentlich oder unbewusst – finden wollen.
Schlussbemerkungen
Ich habe die Auslegungsmethode des hermeneutischen Cruising skizziert und zwei Beispiele erörtert. Es konnte meines Erachtens nachgewiesen werden, dass diese Verfahrensweise nicht zum besseren Verstehen von Bibeltexten beiträgt. Der Cruiser greift Fragmente und Begriffe auf und entwickelt gefühlige Assoziationsketten, um eigene Begehren und Ziele zu untermauern. Von daher überrascht es nicht, dass der exegetische Ertrag des hermeneutischen Cruisings vor allem das widerspiegelt, was die Herzen der Ausleger bewegt. Es handelt sich um ein Format der Eisegese, bei der etwas in den Text hineingelesen wird, was dort nicht steht. Ich bin geneigt, sogar von Projektionen zu sprechen, da innerpsychische Inhalte oder Konflikte auf die Texte übertragen werden.
Was diese Herangehensweise besonders tragisch macht, wiegt freilich schwerer als eine verfehlte Versinterpretation. Der Cruiser kann unterm Strich im zu deutenden Text nur das finden, was er sucht. Er erlaubt der Heiligen Schrift nämlich nicht, sein eigenes Vorverständnis aufzubrechen (vgl. Abb. Der Hermeneutische Zirkel). Gott darf nicht mehr reden. Was zählt, ist die „intrinsische Autorität“22. Was bleibt, ist Einsamkeit!
Die Auslegung wird so vor allem durch Sehnsüchte formatiert, die der Ausleger, Lehrer oder Verkündiger in seinem Herzen bewegt. Dieser Vorgang erinnert an die falsche Prophetie und Seelenfängerei, die Gott der HERR im Propheten Ezechiel unter Androhung schwerster Gerichte tadelt: „Weh den törichten Propheten, die ihrem eigenen Geist folgen …“ (Ez 13,3, vgl. Ez 13,1–23). Diese Leute „hängen mit ihrem Herzen an ihren Götzen und haben mit Freuden vor Augen, was sie schuldig werden lässt“ (Ez 14,3).
Unsere Herzen sind trügerisch, eben auch ein Hort für böse Gedanken (vgl. Mt 15,19). Die rettende Wahrheit des Evangeliums liegt nicht in uns, sondern muss unserer Seele zugesprochen werden. Es sind nicht unsere Herzen, die das Licht in die Bibel tragen. Vielmehr leuchtet das Wort, das Gott zu uns spricht, unsere Herzen aus, macht sie neu und klug (vgl. Ps 51,12; 119,104–105). Wohl dem, der dafür offen ist, von Gott durchforscht zu werden (vgl. Ps 139,23). Wer Gott nicht erlaubt, in sein Herz hineinzusprechen, betrügt sich um seinen Segen.
Rob Bell, Velvet Elvis, Gießen: Brunnen Verlag, 20072, S. 41. ↩
A.a.O. S. 45. ↩
R. Bell, Velvet Elvis, 20072, S. 49. ↩
D. M. Gunn u. D. N. Fewell, Narrative in the Hebrew Bible, 1993, S. xi. Die Autoren sind beeinflusst von: S. E. Fish, Is There a Text in This Class?, 1980. ↩
D. M. Gunn u. D. N. Fewell, Narrative in the Hebrew Bible, 1993, S. 10. ↩
Ulrich Luz, „Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein?“, NTS 44 (1998), S. 317–339, hier S. 330. ↩
Timothy R. Koch, „Hermeneutisches Cruising: Homoerotik und die Bibel“, Werkstatt Schwule Theologie, Nr. 3 (10/2000), S. 213–225, hier S. 219. ↩
Ebd. ↩
Ebd.; Das Zitat von Lorde steht in: Audre Lorde, „Uses of the Erotic“, The Lesbian and Gay Studies Reader, hg. v. Henry Abelove, Michèle Aina Barale u. David M. Halperin, New York/London: Routledge, 1993, S. 339–343, hier S. 342. In deutscher Sprache bedeutet das Zitat etwa: „Wenn wir anfangen, von innen nach außen zu leben, in Kontakt mit der Kraft des Erotischen in uns selbst, und wenn wir dieser Kraft erlauben, unsere Handlungen auf die Welt um uns herum zu formen und zu erleuchten, dann beginnen wir, uns selbst gegenüber im tiefsten Sinne verantwortlich zu sein.“ Die Autorin Audre Geraldine Lorde (1934–1992) war eine US-amerikanische Schriftstellerin und lesbisch, feministische Aktivistin. ↩
T. R. Koch, „Hermeneutisches Cruising“, S. 219–220. ↩
Koch, „Hermeneutisches Cruising“, S. 219–220. ↩
Koch, „Hermeneutisches Cruising“, S. 221. ↩
Koch, „Hermeneutisches Cruising“, S. 221. ↩
So C. F. Keil, Biblischer Commentar über die Prophetischen Geschichtsbücher des Alten Testaments: Die Bücher der Könige, Bd. 3, Leipzig: Dörffling und Franke, 1876, S. 237. ↩
Kerstin Söderblom, „‚Kämpfen mit einem queeren Gott?‘“, in: Christian Schmelzer (Hg.), Gender Turn. Gesellschaft Jenseits Der Geschlechternorm, Bielefeld: transcript Verlag, 2012, S. 173–187. Eine kurze Version, aus der ich ebenfalls zitiere, ist erschienen als: Kerstin Söderblom, „Que(e)r gelesen: Jakobs Kampf am Jabbok“, URL: https://www.evangelisch.de/blogs/kreuz-queer/125300/30-09-2015 (Stand: 26.03.2020). ↩
Söderblom, „‚Kämpfen mit einem queeren Gott?‘“, 2012, S. 177–178. ↩
Söderblom, „‚Kämpfen mit einem queeren Gott?‘“, 2012, S. 178. ↩
Söderblom, „‚Kämpfen mit einem queeren Gott?‘“, 2012, S. 179–180. Die Autorin bezieht sich hier auf Susannah Cornwall, „Wild Rice an Queer Dissent“, in: Lisa Isherwood u. a. (Hg.): Wrestling with God, Leuven, 2010, S. 61–75. ↩
K. Söderblom, „Que(e)r gelesen: Jakobs Kampf am Jabbok“. ↩
Ebd. ↩
Ebd. ↩
Koch, „Hermeneutisches Cruising“, S. 219. ↩