ThemenFrage & Antwort

Haben Menschen und Engel Riesen gezeugt?

Frage: Wie soll man sich die Aussagen aus 1Mose 6 vorstellen, dass menschliche Frauen und „Gottessöhne“ miteinander geschlechtlichen Umgang hatten? Waren die Riesen, die zu dieser Zeit geboren wurden, dann eine Art von Halbgöttern?

Antwort: Der kurze Bericht in 1Mo 6,1-4 über die „Abenteuer“ der „Söhne Gottes“ auf der Erde gibt tatsächlich einige Fragen auf, auch wenn er offenbar kein zentraler Text biblischer Theologie ist.

Die beiden Fragen, die sich bei genauem Hinsehen stellen, sind: Wer oder was waren die „Söhne Gottes“? Und: Sind die erwähnten „Riesen“ die Kinder, die durch die sexu­elle Gemeinschaft zwischen Töchtern der Menschen und Söhnen Gottes gezeugt wurden?

Diese Stelle hat die jüdische und christliche Auslegung seit Jahrhunderten beschäftigt und es sind verschiedene Deutungen daraus hervorgegangen. Die Bibelstelle gibt insbesondere deswegen Rätsel auf, weil sie etwas zu schildern scheint, was sonst kaum zum biblischen Verhältnis von himmlischer und irdischer Welt zu passt. Während es in der griechischen Welt von Halbgöttern wimmelt und die erotischen Abenteuer der Götter mit Menschen zum Grund­bestand dieser Vorstellungswelt gehören, ist die Welt Gottes und die himmlische Welt in der Bibel fast durchweg strikt getrennt.

Dabei liegt die Betonung darauf, dass der Mensch von sich aus zu dieser Welt keinen Zugang haben kann und darf. Gott kann aber seinerseits Boten bzw. Engel senden, die mal als solche deutlich erkennbar sind und dann auch wieder so menschenähnlich, dass sie nicht als Boten Gottes erkannt werden. So war es etwa mit den Engelboten, die nach Sodom kamen. Mit dieser Tatsache ermahnt auch der Hebräerbrief zur Gastfreundschaft (Heb 13,2):

„Vergesst nicht, Gastfreundschaft zu üben! Denn auf diese Weise haben einige, ohne es zu wissen, Engel bei sich aufgenommen.“

Diese Engelboten sind aber an allen diesen Stellen über jeden Zweifel erhaben und ein Ausflug solcher Engel zu erotischen Aben­teu­ern scheint undenkbar. Dass Dämonen Menschen beherrschen können, ist biblisch, aber dass sie mit Menschen Nachkommen zeugen, liegt fern.

Jaab Doedens hat die Geschichte der Aus­legung von 1Mo 6,1-4 genauer untersucht.1 Die Ergebnisse seiner Studie zeigen in Hinsicht auf die erste Frage vier Möglichkeiten. Die „Söhne Gottes“ wurden verstanden als gefallene Engel, als besonders mächtige Menschen, als Nachkommen Seths oder als göttliche Wesen. Die älteste bekannte Tradition spiegelt sich im apokryphen Henochbuch wider. Dort kommen Engel gegen den Willen Gottes mit der Absicht auf die Erde, schöne Frauen zu heiraten. Ihre Kinder werden zu Riesen, was die Welt in ein Chaos stürzt. Gott greift schließlich ein, indem er die Engel in einem himmlischen Gefängnis einsperrt bis zum Tag des letzten Gerichts und über die Erde die Sintflut kommen lässt.

Die frühen christlichen Ausleger haben sich dem angeschlossen. Erst ab dem 4. Jhdt. ist ein Umschwung in der Auslegung zu beobachten: Die „Söhne Gottes“ werden als Nachkommen Seths angesehen in Abgrenzung von den Nachkommen Kains. Söhne Gottes heißen sie, weil sie aus der göttlichen Linie sind, aus der auch der versprochene Erlöser kommen soll. Die Töchter sind in dieser Auslegung aus der Nachkommenschaft Kains. Seit dem 2. Jhdt. ist aber auch in der jüdischen Auslegung ein Um­schwung feststellbar. Die „Söhne Gottes“ werden immer öfter als mächtige Menschen ange­sehen, die nach Gottes Willen als Richter oder Herrscher Macht ausüben, moralisch minderwertige Frauen heiraten und damit ungehorsam werden. Hier wird auch die in der jüdischen Auslegung verbreitete Verachtung von Frauen sichtbar. Doedens meint wohl zurecht, dass sich im Wandel der Auslegung auch der jeweilige Zeitgeist widerspiegelt.

Erst im 20. Jahrhundert ist die Variante der gefallenen Engel wieder in die verbreitete christliche Exegese zurückgekehrt. Jetzt verstand man die Texte als Ausdruck einer primitiveren antiken Religiosität, die innerhalb der Religionsgeschichte eine Weiterentwicklung erfuhr.

Auch die Lösung, die Doedens anbietet, ist davon bestimmt. Riesige Höhlen in Trans­jordanien hätten am Ende des 3. Jahr­tausends die Nahrung für Sagen über riesige Bewohner geliefert, die wiederum ihren Weg in die theologische Verarbeitung des menschlichen Schick­sals in Schuld und Gericht Gottes gefunden hätten. Das passt zwar zu der Art, wie die Urgeschichte in 1Mo 1-11 heute weithin verstanden wird, ist aber reine Spekulation.

Mir scheint aus verschiedenen Gründen die lange verbreitete christliche Auslegung, dass mit den Söhnen Gottes Nachkommen aus der Linie Seths gemeint sind, am sinnvollsten, auch wenn es Argumente für Engelwesen gibt.

1. Der hebräische Text fordert keineswegs, die Riesen als Nachkommen von „Söhnen Gottes“ und Töchtern der Menschen zu verstehen, auch wenn das möglich ist. Die NEÜ übersetzt Vers 4 richtig:

„Damals lebten die Riesen auf der Erde und auch dann noch, als die Gottessöhne Kinder mit den Menschentöchtern hatten. Das wurden die Helden der Vorzeit, berühmte Män­ner.“

Das ist auch deswegen sinnvoll, weil es vereinzelte riesenhafte Menschen auch noch später gab. Goliath war einer von ihnen. Vor der Sintflut waren die Riesen aber wohl keine Ausnahme.

2. Der Text will ein Element der menschlichen Verdorbenheit benennen, wie aus Vers 5 hervorgeht. Wären es eigentlich Engel, die die treibende Kraft des Bösen sind, wäre das widersprüchlich. Das Böse und die Verdorbenheit ist hier entweder darin zu sehen, dass die Wahl der Frauen und die Verheiratung nur noch der Willkür ausgeliefert sind und keinerlei göttliche Schranken achten will. Oder weil das hebräische Wort für „erwählen“ auch regelmäßig für die göttliche Erwählung seines Volkes, des Königs Davids usw. steht, ist der Akt der Wahl einer Ehefrau selbst kritisch benannt. Es ist nicht das demütige Annehmen eines Geschenks Gottes: „Was Gott zusammengefügt hat, …“, sondern die selbstherrliche Haltung „Ich darf mir die Frau nehmen, die mir gerade gefällt.“, was übrigens zugleich ein Element der Verachtung für die Frau enthält.

3. Damit wäre die Kritik an dieser Haltung auch eine Vorschau auf den weiteren Weg Gottes, bis der Retter als Sohn einer mensch­lichen Frau auf die Welt kommt. Schon Abra­ham setzte Gottes Weg und Erwählen aufs Spiel, als er den Sohn seiner Magd zum Erben machen wollte und als er seine Frau Sara den sexuellen Wünschen des Pharaos ausliefert, so dass sie vom Pharao hätte schwanger werden können, statt den verheißenen Nachkommen zur Welt zu bringen.

4. Weil eine religionsgeschichtliche Aus­legung die Einheit der Bibel missachtet, kann sie nicht ernsthaft in Frage kommen. Außer­dem ist sie reine Spekulation ohne An­halts­punkte in der Bibel oder im Text.


  1. Jaab Doedens, The Sons of God in Genesis 6:1-4: Analysis and History of Exegesis, Old Testament Studies 76. Leiden: Brill, 2019.