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ThemenKultur und Gesellschaft, Orientierung, Zeitgeist und Bibel

Alles nur eine Sache der Interpretation?

Über einiges darf es unter Christen, die die Bibel ernst nehmen, durchaus unterschiedliche Meinungen geben. Allerdings ist es nicht beliebig, was dazu gezählt werden sollte. In jüngster Zeit werden immer häufiger Ansichten und Verhaltensweisen, die immer zu den für Christen nicht diskutierbaren zählten, für diskutabel erklärt. Hauptsache sei, dass sich ein Christ vor Gott Rechenschaft gebe und dann seiner Meinung gewiss sei. So werden Grenzen verwischt, wo es klare Maßstäbe geben sollte.

Mitte Juni 2019 veröffentlichte ein ehemaliger Theologiestudent (nennen wir ihn Demas) Folgendes als Post. „Demas“ hatte früher seinen M.Div. an einem bekannten evangelikalen Seminar erfolgreich abgeschlossen und stand dann einige Jahre lang als Pastor im Dienst einer wachsenden Gemeinde in einer Großstadtregion. In dieser Zeit arbeitete er auch an einem Ph.D. im Bereich Neues Testament. Er war ein ziemlich guter Student, ein zuverlässiger Prediger und in seinem Umgang mit anderen Menschen immer warmherzig und angenehm. Leider begann er eine Affäre und wurde schließlich Immobilienverkäufer. Gott sei Dank konnten er und seine Frau ihre Ehe retten. Und hier folgt nun, was Demas im vergangenen Juni, einige Jahre nach seinem Rücktritt als Pastor, über soziale Medien veröffentlichte:

Hier ist mein öffentlicher Beitrag während des #PrideMonth1: Wann immer ich mit einem der konservativen Christen oder Pastoren (die ich liebe und schätze, über die ich Gutes denke und als jemand, der ich selbst mal einer von ihnen war) jetzt über Homosexualität rede – unabhängig davon, was ich am Ende tatsächlich zu ihm sage – was ich WIRKLICH DENKE, ist: „Sieh mal. Ich habe eine biblische und theologische Ausbildung auf einem sehr hohen Niveau absolviert. Mindestens so hoch wie du, wenn nicht höher (das gilt für 99,9% der Bevölkerung). Und ich sage dir: Du. weißt. es. nicht. sicher.

Du weißt nicht genau, ob dein Verständnis der Bibel richtig ist. Oder ob deine Hermeneutik die korrekte ist. Du weißt nicht sicher, wie göttliche und menschliche Autorenschaft(en?) in der Bibel miteinander verwoben oder gewichtet sind. Du weißt es nicht.

Du weißt nicht mit 100%iger Sicherheit, welche antiken Bücher tatsächlich das ewige Wort des allmächtigen Gottes sind. Denn es gab da viele Bücher. Und wir verlassen uns deswegen auf diese bestimmten Bücher, weil es die sind, die die Kirche nun mal zufällig dazu nahm, als sie erstmals eine „Bibel“ zusammenstellte. Mose hat nicht die ganze Bibel von Gott erhalten und vom Berg heruntergebracht. Wir lieben diese Bücher, aber wir wissen nur sehr wenig darüber, wie und warum und unter wessen Autorität diese Sammlung zustande gekommen ist. Wir wissen es nicht.

Wir wissen nicht mit absoluter Sicherheit, wie wir nach Gottes Willen mit diesen Büchern umgehen sollen; wie er sie im 21. Jahrhundert in der westlichen Welt angewendet haben wollte.

Wir wissen das nicht sicher. Wir können das nicht sicher wissen.

Der Bibel zu vertrauen, ist ein Glaubensakt. Für jeden. Und ich vertraue der Bibel. Aber wenn ich mit offenen Augen die Tatsache wahrnehme, dass ich SOWOHL sagen kann: „Dieses Buch ist heilig“, ALS AUCH: „Wie es in unserer Gesellschaft angewendet werden sollte, ist sehr ungewiss“, dann wird mir sofort klar, dass ich mit einer „Antwort“ auf die Homosexualitätsfrage falsch liegen könnte – so oder so. Ich könnte am Ende etwas befürworten, das Gott hasst, oder etwas hassen, das Gott liebt. Beides ist möglich. Weil die Sache nicht sicher ist. Ist sie nicht. Wir kennen dieselben Fakten. Du weißt, dass sie nicht sicher ist.

Wenn mein potentieller Fehler also ist, dass ich etwas liebe, was Gott hasst, dann irre ich mich, stehe dabei aber immerhin auf der Seite, die für mich am meisten wie Liebe aussieht und sich auch so anfühlt. Denn was auch immer ich sonst noch über Gott glaube: Ich glaube, dass Gott Liebe ist. Somit sollte ich versuchen, die Dinge zu befürworten, die für mich am meisten nach Liebe aussehen.

Das macht mich zu einem LBGTQ+ befürwortenden Christen. Und ich sollte bereit sein, das auch öfter zu sagen.

Happy Pride Month.

Wenn Christen in der Vergangenheit über die Beschaffenheit der Bibel sprachen, ging es um Aspekte wie ihre Wahrhaftigkeit, Zuver­lässigkeit, Genugsamkeit, Inspi­ration, Irrtumslosigkeit usw. In Übereinstimmung mit vielen Zeitgenossen hat Demas allerdings – ohne eine dieser bekannteren Kategorien offen in Frage zu stellen – einige von ihnen untergraben, indem er erkenntnistheoretische und hermeneutische Fragen aufwirft: Wie kann ich zuverlässig wissen, was die Bibel sagt? Wie kann ich sicher sein, welche Bücher wirklich in die Bibel gehören? Wie kann ich sicher sein, dass meine Interpretation eines Textes richtig ist? Und mehr noch: Welches ist die angemessene Anwendung, wenn ich Texte, die zwei- oder dreitausend Jahre alt sind und in einer anderen Sprache und Kultur geschrieben wurden, mit unserem Leben im frühen 21. Jahrhundert verknüpfe?

Oft stehen erkenntnis­theoretische Fragen im Vordergrund, die jedoch die Zuverlässigkeit und Inspiration der Bibel untergraben können.

Und es mag sein, dass auch viele Prediger, die eigentlich nicht mit solcher Lei­den­schaft wie Demas erkenntnistheoretische Zweifel kultivieren, sich trotzdem mit ähnlichen Fragen herumschlagen, wenn sie ihre Sonntagmorgenpredigt vorbereiten – wenn auch auf einem gemäßigteren Niveau. Welche Interpretation des vor mir liegenden Textes ist korrekt? Wie kann ich verkündigen, was das Wort des Herrn sagt, wenn ich mir nicht sicher sein kann, was es sagt? Wer von uns hat nicht schon einmal zu erklären versucht, was die Bibel zu dem einen oder anderen sensiblen Thema sagt – um schließlich den Satz „Aber das ist nur deine persönliche Interpretation!“ zu hören?

Natürlich ist das Thema viel zu groß und vielschichtig für einen kurzen Artikel, aber es ist dennoch möglich, einige Eckpunkte aufzuzeigen, wobei die ersten vier etwas detaillierter sind als der letzte Punkt.

1. Wir brauchen keine Allwissenheit

Es ist irreführend und sogar götzendienerisch, Allwissenheit als notwendiges Kriterium für „zuverlässiges“ und „sicheres“ Wissen zu verlangen.

Wer absolut sicheres Wissen verlangt, ist deswegen götzendienerisch, weil er Allwissenheit verlangt, die allein Gott hat, und zugleich verneint er den biblischen Weg zu sicherer Erkenntnis und das biblische Mass der Erkenntnis.

Wir erinnern uns, wie Demas immer wieder betonte, dass man Dinge nicht „sicher“ oder „genau“ oder „mit 100%iger Gewissheit“ usw. wissen kann. Sein Argument scheint also zu sein: Wenn du etwas nicht „zu 100% sicher“ weißt, dann weißt du es nicht wirklich. Anders gesagt: Man benötigt erst eine allwissende Erkenntnis über einen Gegenstand, bevor man legitim behaupten kann, dass man über die Sache gut genug Bescheid weiß, um dann auf der Grundlage dieses vermeintlichen Wissens Lebensentscheidungen zu treffen. Wenn du also – in dem konkreten Beispiel, um das es Demas geht – nicht mit solch einer allwissenden Erkenntnis weißt, dass die Bibel homosexuelles Verhalten wirklich verurteilt; und wenn du nicht mit solch einer allwissenden Erkenntnis weißt, dass die Bücher der Bibel mit diesen Passagen wirklich zum Kanon der von Gott inspirierten Bücher gehören; und wenn du nicht mit solch einer allwissenden Erkenntnis weißt, dass das die Art und Weise ist, wie Gott selbst diese alten Texte interpretiert und heute angewendet haben möchte – dann hast du kein Recht so zu tun, als könnte man über diese Frage überhaupt etwas wissen. Laut Demas hast du die Freiheit, einen anderen Weg zu wählen.

Aber es ist irreführend, auf All­wissenheit als not­wen­digem Krite­rium für „zuverlässiges“ oder „sicheres“ Wissen zu bestehen – und das aus mindestens vier Gründen.

(1) Wir sprechen ganz natürlich von menschlichem Wissen, ohne dabei Allwissenheit als Kriterium für wahre Erkenntnis vorauszusetzen. Das finden wir auch in der Bibel. Zum Beispiel sagt Lukas zu Theophilus, er sei – obwohl viele es schon unternommen hatten, Augenzeugenberichte vom Leben und Dienst Jesu zu verfassen – selbst sorgsam „allem von Anfang an genau nachgegangen“, um „es dir der Reihe nach zu beschreiben, vortrefflichster Theophilus, damit du die Gewissheit der Dinge erkennst, in denen du unterrichtet worden bist“ (Lk 1,3–4). Lukas verwendet hier Begriffe, die sehr treffend menschliches Wissen und menschliche Gewissheit beschreiben; er verspricht Theophilus damit aber keine allwissende Erkenntnis. Auch Johannes sagt seinen gläubigen Lesern, dass er seinen ersten Brief schreibt, „damit ihr wisst, dass ihr ewiges Leben habt“: Dabei ist das Ziel seines Schreibens nicht, dass sie allwissend werden, was ihre Erkenntnis über ihren Stand betrifft. Und wenn Paulus Timotheus ermutigt, ein „Arbeiter, der sich nicht zu schämen braucht, der das Wort der Wahrheit recht teilt“ (2Tim 2,15) zu werden, dann zielt er darauf ab, dass Timotheus ein treuer Ausleger der Schrift wird, nicht aber, dass er ein allwissender Ausleger der Schrift wird.

Um konsequent in der Frage des sicheren Wissens zu sein, müssten wir die gleiche agnostische Position im Hinblick auf alles, was die Bibel sagt, einnehmen – inklusive der grundlegenden Wahrheiten des christlichen Bekenntnisses.

(2) Mal angenommen, dass Demas’ Argumente in den Punk­ten greifen, die ihm ein An­liegen sind – d.h. wenn wir keine 100%ige Sicherheit darüber haben, was die Heilige Schrift über diese ethischen Fragen sagt, dann sind wir auch nicht berechtigt, zu beurteilen, was richtig oder falsch ist. In dem Fall müssen wir aber auch, um konsequent zu sein, die gleiche agnostische Position im Hinblick auf alles andere, was die Bibel sagt, einnehmen – inklusive der sehr grundlegenden Wahrheiten des christlichen Bekenntnisses. Beispielsweise behaupten Christen, dass es der Wahrheit entspricht, Jesus als Gott zu bekennen und anzubeten. Aber die Gottheit Christi wird von alten und neuen Arianern geleugnet, einschließlich der Zeugen Jehovas. Man kann daher nicht sagen, dass es einen universalen Konsens darüber gibt, dass die Bibel das wirklich lehrt. Sollten wir deshalb – weil wir nicht „ganz sicher“ wissen, was die Bibel hier lehrt – diese Frage offenlassen?

(3) Der Bibel zu vertrauen, so behauptet Demas, „ist ein Akt des Glaubens“. Das stimmt. Allerdings scheint es so, als würde Demas hier Glauben und Wissen gegeneinander ausspielen. Wenn ich ihn richtig verstehe, ist sein Argument folgendes: „Du magst glauben, dass die Bibel dies oder das über LGBTQ+-Fragen sagt, aber du kannst es nicht „zu 100% sicher“ wissen, daher bist du dann auch nicht berechtigt zu sagen, dass Gott LGBTQ+-Verhalten ablehnt.“ Doch damit kauft man sich nicht nur einen fehlgeleiteten Wissensbegriff ein, sondern auch die zeitgenössischen säkularen Definitionen von „Glauben“. Auf den Straßen von New York oder Montreal hat „Glaube“ eine von zwei geläufigen Bedeutungen: Entweder ist er ein Synonym für „Religion“ (Es gibt viele „Religionen“; es gibt viele „Glaubensrichtungen“.), oder er bezieht sich auf eine persönliche, subjektive, religiöse Überzeugung, die nicht notwendigerweise etwas mit Wahrheit zu tun haben muss. Demas scheint von einer Version des letzteren auszugehen, auch wenn „Glaube“ in der Bibel niemals so verwendet wird. Glaube ist in der Bibel immer ganz eng mit Wahrheit verbunden. Die Bibel fordert uns niemals dazu auf, auf etwas zu vertrauen oder an etwas zu glauben, was nicht wahr oder vertrauenswürdig ist. Tatsächlich gehört es zu den häufigsten Methoden, mit denen die Bibel den Glauben stärkt, dass sie Wahrheit aufzeigt und verteidigt. Was geglaubt oder worauf vertraut werden soll, ist oft unhinterfragbar vorgegeben, aber manchmal auch nicht, nur ist es niemals unwahr. Es macht aus biblischer Perspektive überhaupt keinen Sinn, die Wahrheit der biblischen Aussagen gegen den Glauben, den die Bibel hervorruft, auszuspielen.

Wer 100% Sicherheit im Wissen verlangt, der kann auch nicht wissen, ob Gott gut und ein liebender Gott ist.

(4) Man kommt nicht umhin, zu fragen, woher Demas überhaupt weiß, dass Gott ein liebender Gott ist. Immerhin verneinen viele der sogenannten „Neuen Atheisten“ instinktiv, dass Gott groß oder gut ist.2 Die Bibel selbst zeigt, dass Gott hinter Gerichten steht, die einem Genozid gleichkommen, und viele Menschen ringen aufgrund solcher Passagen damit, ob Gott wirklich gut ist. Warum also gründet Demas seine ethischen Entscheidungen auf die Über­zeugung, dass Gott gut ist? Sollte er nicht – um konsequent zu sein – sagen, dass wir nicht „mit 100%iger Sicherheit“ wissen können, dass Gott gut ist? Trifft er nicht ethische Entscheidungen auf der Grundlage von etwas, das er (wie seine eigene Logik ihm sagen muss) gar nicht wissen kann?

Es scheint also, dass Demas die Denk­muster dieser gegenwärtigen bösen Welt übernommen hat, um zu seinen Schluss­folgerungen zu gelangen oder diese zumindest zu bestätigen. Im Grunde untergräbt Demas die Klarheit und die Autorität der Schrift mit der Begründung, dass wir nicht wirklich wissen können, was die Schrift sagt – schließlich könnten wir zu keiner allwissenden Erkenntnis gelangen, und auch unsere Sicht der Bibel beruhe nicht auf Wissen, sondern auf (seinem Verständnis von) Glauben. Ich habe versucht zu zeigen, dass dieser Ansatz irreführend ist, denn unser üblicher Sprachgebrauch funktioniert so, dass wir – ob nun in der Bibel oder im ganz normalen Alltag – für gewöhnlich von menschlichem Wissen sprechen, auch wenn dieses Wissen nicht in Allwissenheit verankert ist.

Doch sein Ansatz ist nicht nur irreführend, er ist götzendienerisch. Um überhaupt etwas wissen zu können (und zwar „sicher“ – d.h. gut genug, um ethische Entscheidungen zu treffen), erwartet er nämlich von Menschen ein Attribut, das allein Gott gehört. Natürlich behaupten Demas und seine Freunde gerade nicht, dass wir allwissend sind: Wir sollen ja nicht für uns in Anspruch nehmen, die Attribute Gottes zu besitzen. Warum also werfe ich ihnen Götzendienst vor? Darum, weil die Behauptung, wir könnten nichts („sicher“) wissen, uns verbietet, auf biblische Art und Weise über das Menschsein und menschliche Erkenntnis nachzudenken.

Die Bibel zeigt – oft implizit, aber manchmal auch explizit –, dass der Mensch mit angemessener Sicherheit in der Erkenntnis wachsen kann, indem er auf die Offenbarung Gottes mit Bedacht, aktivem Glauben und gehorsamer Unterwerfung unter seinen Schöpfer und Erlöser antwortet. Das Ziel, Gott zu kennen und ihn bekannt zu machen, wird nun aber – unter Außerachtlassung dessen, was Gott über menschliches Wissen sagt – eingetauscht gegen eine dogmatische Konzentration auf das, was wir nicht wissen können. Und das, indem man unter Berufung auf die Erkenntnistheorie unsere geistige Bewegungsfreiheit einschränkt und uns damit taub und nachlässig macht für Gottes Offenbarung über uns selbst, unsere Welt und über moralisches und ethisches Verhalten. Gott wurde ent-göttlicht. Der Name dieses Spiels lautet Götzendienst.

2. Wir widerstehen der Manipulation

Wir müssen um jeden Preis vermeiden, uns durch das manipulieren zu lassen, was ein Freund „die Kunst der autoritären Unwissenheit“ genannt hat.3

Mit der Behauptung der eigenen Unwissenheit, wird autoritativ verlangt, dass niemand anderes sicheres Wissen behaupten darf. Das ist „autoritäre Unwissenheit“.

Um für einen Augenblick auf den Beitrag des Mannes, den ich Demas genannt habe, zurückzukommen: Was man bei seiner Argumentation beachten muss, ist, dass er nicht nur behauptet, selber nicht zu wissen, ob die relevanten Texte von Gott sind und/oder was sie bedeuten (was ein Eingeständnis seiner eigenen Unwissenheit ist); sondern er meint auch, dass niemand anderes berechtigterweise behaupten kann, er wisse es (was eine dogmatische Erklärung der Unwissenheit aller anderen ist). Das ist „autoritäre Unwissenheit“ – die autoritative Festlegung, dass man unwissend sein muss, ob man es nun zugibt oder nicht.

Das von Mike Ovey angeführte Beispiel autoritärer Unwissenheit hat mit dem Konzil von Sirmium (357 n.Chr.) zu tun. Die theologische Debatte damals betraf die Natur Jesu: War er homoousios, wesensgleich mit dem Vater, oder homoiousios, wesensähnlich mit dem Vater? Ersteres wäre ein Bekenntnis, dass Jesus wahrer Gott ist; letzteres ein Hinweis, dass er zwar gottähnlich ist, aber nicht Gott. Sirmium war pro-arianisch – dort wurde die Sichtweise bevorzugt, dass Jesus weniger als Gott ist. Aber anstatt aufzustehen und das klar zu sagen, kam das Konzil zu dem Schluss, dass die Argumente auf beiden Seiten so fein gezeichnet sind, dass man nicht wissen könne, welche Seite Recht hat. Die Schlussfolgerung war, dass es falsch sei, einer der beiden Seiten zuzustimmen; und damit war diese Entscheidung ein implizites Verbot, irgendetwas Spezifisches zu behaupten, weil wir es ja schließlich nicht wissen können. Die orthodoxen Theologen Athanasius von Alexandrien und Hilarius von Poitiers kritisierten diese Entscheidung von Sirmium: nicht nur weil sie falsch war (wie sie nachdrücklich erklärten), sondern auch weil sie blasphemisch war. Das Dekret, so sagten sie, beinhalte ein Zwangselement – aber wie kann man Gesetze erlassen, die jemand anderem das Wissen verbieten? Gerade weil es das Bekennen der Wahrheit unterband, war es blasphemisch. Das autoritative Gebot der Unwissenheit bedeutet in der Praxis, dass jeder sich die Meinung aussuchen darf, die er gern haben möchte.

Selber in manchen Fragen unsicher zu sein, ist etwas anderes, als Unwissenheit vorzuschreiben, um Schluss­folge­rungen zu vermeiden, denen man lieber aus dem Weg gehen möchte.

Ich dachte an Sirmium, als ich vor einigen Tagen Andrew Bartletts Buch Men and Women in Christ: Fresh Light from the Biblical Texts las.4 Das Buch enthält viele scharfsinnige exegetische Beobachtungen. Aber mehr als einmal (z.B. bei 1 Kor 14,34–35) plädiert der Autor dafür, dass die Argumente so fein gezeichnet sind, dass es unmöglich ist, sich für die eine oder andere Auslegung zu entscheiden. Und wieder ist das mehr als das Eingeständnis, dass Bartlett selbst sich nicht entscheiden kann; vielmehr ist es die Behauptung, der exegetische Befund sei dergestalt, dass eine Entscheidung unmöglich ist – womit auch allen anderen implizit verboten wird, eine Entscheidung zu treffen, wenn sie nicht den Vorwurf unsauberer Exegese riskieren wollen. Das ist also ein klares Beispiel, wie autoritäre Unwissenheit in Anschlag gebracht wird. Ich gehe aber davon aus, dass sich in all diesen schwierigen Fragen sehr wohl einige entscheiden können (mit unterschiedlichen Sicherheitsgraden), auch wenn andere bekennen, dass sie dazu nicht in der Lage sind. Aber das ist etwas anderes, als Unwissenheit vorzuschreiben, um Schlussfolgerungen zu vermeiden, denen man lieber aus dem Weg gehen möchte.

3. Kunstgriffe der Verunsicherung durchschauen

Wir sollten wachsam sein, um nicht publizistischen Kunstgriffen auf den Leim zu gehen, die scheinbar vor allem Verunsicherung schüren wollen.

Man beachte ein kürzlich erschienenes Buch, herausgegeben von Preston Sprinkle, das den Titel Two Views on Homosexuality, the Bible, and the Church trägt.5 Die Idee der „zwei (oder drei, oder vier) Sichtweisen“-Bücher ist nichts Neues. Viele von ihnen sind hilfreich: z. B. vier Sichtweisen auf das Millennium, drei Sichtweisen auf die Entrückung – oder zu anderen Themen. In der Vergangenheit haben sich diese „Sichtweisen“-Bücher in der Regel mit Debatten innerhalb der Grenzen des Evangelikalismus beschäftigt. Das ist für gewöhnlich nicht die Sorte von Büchern, die behaupten „zwei Sichtweisen der Gottheit Christi“ anzubieten. Sprinkles Buch, das von einem evangelikalen Verlag veröffentlicht wurde, macht nun die Debatte über die Legitimität von homosexueller Praxis zu einer innerevangelikalen Angelegenheit. Das Buch wird damit beworben, dass beide Seiten „von der Bibel her“ für ihre Sicht argumentieren – allerdings ist es natürlich so, dass auch die Zeugen Jehovas für sich in Anspruch nehmen, ihre Sicht „von der Bibel her“ zu begründen. Der Punkt ist der: Wenn es so etwas wie rechte Lehre gibt, dann ist nicht jedes diskutierbare Thema gleichermaßen diskutierbar.6 Die christliche Gemeinde wird manchmal durch weitsichtige Verlagsprojekte aufgebaut und gestärkt; manchmal wird sie aber auch von Verlegern manipuliert, die nur wenig oder keine konfessionelle Loyalität oder gemeindliche Disziplin kennen.

4. Erkenntnistheoretische Modelle und Argumente durchschauen

Wir brauchen persönlich Wissen über das Wesen postmoderner Ansätze der Erkenntnistheorie – denn auch wenn sie heute kaum noch reflektiert werden, werden sie doch weitgehend vorausgesetzt.

Vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren wurde von den meisten Studen­ten der Geisteswissenschaften – Englisch, Geschichte, Sozial­wissenschaften, Politik, Journa­lismus usw. – verlangt, sich in die Ideen (und – an den besseren Universitäten – auch in die Schriften) von Jacques Derrida, Michel Foucault, Jean-François Lyotard und einer Menge weiterer Schriftsteller mit ähnlichen Überzeugungen einzuarbeiten. Mit anderen Worten: Es war nötig geworden, die Theorie, die dem Postmodernismus (und insbesondere der postmodernen Erkenntnistheorie) zugrunde liegt, zu lernen und zu verteidigen. Heute studieren vergleichsweise wenige diese Autoren, aber nichtsdestotrotz sind viele tiefgehend von den Ideen der Bewegung beeinflusst. Das bedeutet, dass viele nach wie vor in offenkundig postmoderner Manier denken, obwohl ihr Verständnis der zugrunde liegenden Theorie relativ dünn ist. In manchen Fällen wissen sie gar nicht mehr, was Foucault mit Totalisierung gemeint hat, aber sie gebrauchen ein ähnliches Argument, wenn jemand eine exklusive religiöse Aussage macht.

Die postmoderne Hermeneutik betont stark, dass der Leser eines Textes nie objektiv ist, sondern seine Fragen die Antworten beeinflussen, die er aus einem Text herausliest.

Vielleicht hilft es, mit einem Beispiel zu beginnen, wie es in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts häufiger auftrat. Als ich Student am theologischen Seminar war, war Bernard Ramms Protestant Biblical Interpretation eines der Bücher, das wir zum Thema Hermeneutik lesen mussten.7 Ich hatte mit dem Buch in seiner ersten und zweiten Auflage zu tun, in denen es noch keine Interaktion mit der postmodernen Hermeneutik gab. Die dritte Auflage fügte etwas Material hinzu, um auch diese Richtung mit abzudecken, aber der Hauptteil des Buches blieb bei den Voraussetzungen der ersten beiden Auflagen. Die Aufgabe der biblischen Hermeneutik ist es, Fähigkeiten zu vermitteln, die „mich“, den Interpreten, dazu befähigen, Fragen an „ihn“, den Text, zu stellen. Ich, der Erkennende bzw. Interpret, richte angemessene Fragen an den Text und der Text antwortet mir gewissermaßen mit derselben Direktheit. Aber die „neue“ (inzwischen schon wieder ziemlich alte) Hermeneutik – d.h. die postmoderne Hermeneutik – zeigt vielsagend auf, dass das fragende „Ich“ niemals neutral ist, niemals verlässlich objektiv.

Vielleicht ist das „Ich“ ein weißer, mittelständischer, westlicher, gebildeter Mann, der nach einer Festanstellung an einer Universität strebt. Seine Fragen sind wahrscheinlich nicht dieselben, die ein verarmtes, nahezu analphabetisches Straßenkind in einem Slum in Lagos stellt, das sich gerade für ein Wohlstands­evangelium zu interessieren beginnt, wie es in einer nahegelegenen Kirche gepredigt wird. Offenbar stellt niemand von uns vollkommen neutrale Fragen.

Die eigene soziale und kulturelle Verortung beeinflussen die Fragen. Diese können aber von der Botschaft des Textes verändert werden.

Unsere soziale und kulturelle Verortung garantiert, dass meine Frage kein Volltreffer ist; sie ist eher wie ein Streifschuss, der vor allem auf den Standort des Urhebers zurück schließen lässt und der damit mehr über das „Ich“ (den Erkenner-Interpreten) sagt als über den Text. Entsprechend gibt auch der Text keine direkte Rück­antwort. Seine Antwort ist grundlegend von der an ihn gerichteten Frage bestimmt, die wiederum von dem „Ich“ bestimmt ist. „Ich“ streife also den Text mit meiner Frage, worauf der Text mit einer dazu passenden Antwort reagiert.

Zweifelsohne wird das „Ich“ von der Antwort, die er oder sie erhält, beeinflusst; wenn das „Ich“ also die nächste Frage stellt, weicht diese schon geringfügig von der vorherigen ab, ebenso auch die Antwort des Textes. Somit haben Text und Interpret einen „hermeneutischen Zirkel“ errichtet – wobei es unmöglich ist, der Subjektivität zu entkommen. Und wenn dieses Modell gültig ist, dann ist davon betroffen, wie wir Literatur interpretieren, wie wir Geschichte gestalten (wenn wir sie schreiben und lesen), wie wir Beweise auswerten usw. Und so finden wir uns plötzlich von gewichtigen Gründen umgeben (von postmodern-hermeneutischen Gründen), die den skeptischen Vorwurf „Aber das ist nur deine Interpretation!“ rechtfertigen.

Das Resultat ist eine Fülle von innovativen Interpretationen, die persönliche Glau­bens­sätze und (wenn genug Leute ihnen folgen) auch kulturelle Anschauungen verändern. Wie Richard Topping es zugespitzt hat:

„Bedenke, wir leben in einer Zeit, in der sechs der sieben Todsünden ungesunde Lebensweisen sind – und Stolz eine Tugend.“8

Wenn genügend Leute diese von der Postmoderne autorisierten Inter­pretationen verinnerlicht haben, dann wird sich ein traditioneller Christ schnell ausgeschlossen fühlen. Entsprechend erinnert uns Topping an die wohlbekannte Aussage von Flannery O’Connor:

„Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch seltsam machen.“ (Ebd.)

Wenn du dich im Gegensatz dazu mit Demas dafür entscheidest, dass man die Wahrheit nicht erkennen kann, dann wirst du in einer von der Postmoderne durchtränkten Kultur nicht seltsam wirken. Und dazu wirst du auch die Wahrheit nicht erkennen.

Wie wir antworten können

Es lassen sich dazu mehrere Punkte nennen, die so etwas wie den Beginn einer Antwort darstellen:

(1) Es ist wichtig, eine Antwort zu vermeiden, die unnötig polarisiert, denn offensichtlich ist kein Interpret, kein „Ich“, kein Erkennender, vollkommen objektiv. Die einzige Möglichkeit, in diesem Bereich Vollkommenheit zu erlangen, bestünde darin, allwissend zu werden – und wohin das führt, haben wir gesehen. Die traditionelle Hermeneutik sollte also zuerst einmal dankbar sein für die Erinnerung, dass wir unserer eigenen Subjektivität, unserer Begrenztheit und unseren kulturellen blinden Flecken nicht entkommen können.

(2) Daraus folgt allerdings nicht, dass alle Interpretationen gleichermaßen gut oder schlecht sind. Aus Erfahrung wissen wir, dass wir bei unseren Interpretationsbemühungen keinem hermeneutischen Zirkel ausgeliefert sind. Vielmehr sind unsere Erkenntnis und unser Wissen eher wie die Bewegung einer hermeneutischen Spirale: Indem wir uns den Text immer wieder und wieder vornehmen, kommen wir einem richtigen Verstehen immer näher und näher, auch wenn es sich dabei nicht um die Art von Verstehen handelt, die allein der Allwissenheit vorbehalten ist.9 Mit einem anderen mathematischen Modell lässt es sich so ausdrücken: Durch beharrliche Versuche, etwas zu verstehen (biblische Texte zum Beispiel), bewirken wir normalerweise eine asymptotische Annäherung an vollkommenes Wissen (d.h. wir werden niemals dorthin gelangen – das ist allein der Allwissenheit vorbehalten –, aber wir können uns so stark annähern, dass wir es tatsächlich „so gut wie“ erreichen, so „als ob“ wir es geschafft hätten, den ganzen Weg zu gehen, ähnlich wie bei den Annäherungen in einer Disziplin wie der mathematischen Analysis).10

Auch wenn wir Menschen ständig lernen und uns durch sorgfältiges Studium dem Wissen nur annähern können, so gibt es Wahres und Falsches, besser und schlechter.

(3) Dass diese Lern- und Wissensmodelle zutreffen (also: dass wir mit der Zeit zu einem immer besseren Verständnis gelangen), wird auch durch die Art und Weise bestätigt, wie wir generell lernen – egal, ob es um Griechisch, Spensers11 Versmaß, Statistik, Mikrobiologie oder Bibel­wissen­schaft geht. Wenn wir anfangen, etwas über irgendein Thema zu lernen, dann zeigt sich, wie groß die Kluft ist zwischen dem, was wir zu wissen glauben, und dem, was es tatsächlich zu wissen gibt, was natürlich nur solche Menschen ermessen können, die durch sorgfältiges Studium eine beständige, asymptotische Annäherung erreichen. Wir Menschen lernen; wir erkennen Stück für Stück; wir korrigieren uns; wir tauschen uns gegenseitig aus. Nichts davon lässt uns hoffen, dass wir mit sorgfältiger hermeneutischer Disziplin vollkommenes (d.h. allwissendes) Wissen erreichen können. Aber sicher ausgeschlossen ist damit die Folgerung, dass irgendein angenommenes Wissen nicht besser oder schlechter sein kann oder mehr oder weniger richtig als anderes konkurrierendes mutmaßliches Wissen. Ähnlich sieht es im Fall unerschiedlicher Kulturen aus: Wir missbilligen zwar herablassende Kulturen, die jede andere Kultur geringschätzen, aber wir können doch nicht die Auffassung rechtfertigen, dass alle Kulturen genauso wertvoll für den Rest der Welt sind. Ist die Kultur des Nationalsozialismus wirklich von gleichem Wert wie z.B. die einer Mutter Teresa?

(4) Und letztendlich ändern sich diese Modelle nochmals, wenn wir zu der Über­zeugung gelangen, dass die All­wissenheit selbst freund­licherweise mit Worten mensch­licher Sprache zu uns gesprochen hat. Das heißt nicht, dass Gott uns die Fähig­keit gegeben hätte, dass nun auch wir allwissende Erkenntnis erreichen können: Dazu müssten wir Gott sein. Aber es ist sicher vernünftig, anzunehmen, dass dieser all­­wissende Gott weiß, welche Wörter, Aus­drucksweisen, Syntax und Rede­wendungen er verwenden muss, um bestmöglich mit denen, die nach seinem Bild erschaffen sind, zu kommunizieren – egal, wie verloren und blind sie auch sein mögen. Und bei all jenen Themen, über die er uns unbedingt informieren möchte, wiederholt er in Liebe immer wieder dasselbe, mit den Worten verschiedener menschlicher Autoren, in verschiedenen Zusammenhängen. Und nicht nur das: Er schenkt auch noch großzügig seinen Geist, um ihr Verständnis zu erleuchten. Er erwartet von seinen Lesern, so wie die Gläubigen in Beröa zu sein, die „das Wort mit aller Bereitwilligkeit auf[nahmen]; und sie forschten täglich in der Schrift, ob es sich so verhalte“ (Apg 17,11). Das ist ein wunderbares Beispiel für ein Wachsen in der Erkenntnis, ohne den Anspruch auf Allwissenheit zu erheben. Es ist also, anders gesagt, möglich (und auch wichtig) sich nach dem auszustrecken, was Paulus an anderer Stelle „das Vorbild der gesunden Worte“ (2Tim 1,13; vgl. Röm 6,17) nennt, damit wir nicht am Ende das verdrehen, was Gott verkündigt hat (vgl. Jes 5,20–21). Die Idee eines „Vorbilds der gesunden Worte“ verweist darauf, wie stark unser Verständnis irgendwelcher Texte oder Themen geformt und umgestaltet wird durch das, was in unserer Weltanschauung als „gegeben“ vorausgesetzt wird, also von unseren Vorverständnissen. Aber um das zu vertiefen, müsste man mindestens einen weiteren Artikel schreiben.

5. Demut und Gottesfurcht haben Gottes Verheißung

Dieser besondere Charakter des Wor­tes Gottes, hinter dem der allwis­sen­de Gott steht (so fehlerhaft die Inter­pre­ta­tionsbemühungen unsererseits auch sein mögen), ruft uns zur Demut und Gottesfurcht auf, wenn wir uns auf den heiligen Text einlassen.

Gott erklärt: „Ich will aber den ansehen, der demütig und zerbrochenen Geistes ist und der zittert vor meinem Wort“ (Jes 66,2). Für unser Thema lassen sich aus dieser Behauptung zwei Lehren ziehen.

(1) Die Prophetie Jesajas macht immer wieder klar, dass Gott alle religiösen Formen verabscheut, die einfach nur auf Show aus sind, als eine Fassade für Gier, Lust und Götzendienst. Kognitive Fähigkeiten, so wichtig sie auch sind, garantieren für nichts, denn auch Götzendienst in unseren kognitiven Fähigkeiten ist immer noch Götzendienst. Somit halten wir aus gutem Grund nach Predigern und Lehrern Ausschau, die sich unzweideutig und in offenkundiger Demut unter das Wort stellen. Dagegen ist bei jenen äußerstes Misstrauen angebracht, die sich neunmalklug geben und dabei mit einem augenzwinkernden Schmunzeln versuchen, die Schrift gefügig zu machen, anstatt sich ihr zu unterwerfen.

(2) Diese Haltung verleiht dem Ausleger auch eine gewisse demütige Kühnheit. Kürzlich habe ich bei einer christlichen Zusammenkunft gesprochen, wo ich dieselben Gedanken wie hier entwickelt habe. Am Ende kam eine Frau zornig und in Tränen aufgelöst auf mich zu und sagte, ich habe sie mehrmals tief verletzt. Es stellte sich heraus, dass sie eine lesbische Tochter hat und dass es meine Verurteilung von Homosexualität (im Gegensatz zu Demas) war, mit der ich sie so sehr getroffen hatte. Man konnte ihr nicht erklären, dass ich Homosexualität einfach nur deshalb als Beispiel gewählt hatte, weil es der Aufhänger von Demas’ Argu­mentation war. Ich hätte ihr sagen können, dass ich an anderer Stelle versucht habe, dieses komplexe Thema detailliert zu behandeln; ich hätte ihr einige hervorragende und zum Nachdenken anregende Autoren wie Rosaria Butterfield empfehlen können. Aber die Frau war entschieden, sich selbst als Opfer und mich als Täter und Schikaneur zu sehen. Ich fragte sie also zum Schluss – ganz ruhig –, ob ihr Zorn und ihre Verletzung von meinen Worten herrührten oder von dem, was Gott in der Schrift sagt. War sie auf mich oder auf Gott zornig? Es ist mir eine Gewohnheit, mir auch andere Interpretationen anzuhören und ich freue mich, wenn ich korrigiert werde: Auch ich muss ein guter Arbeiter sein wollen, der sich für seinen Umgang mit der Bibel nicht schämen muss. Aber wenn ich vor dem Wort Gottes zittere, werde ich dem, was es zu sagen hat, nicht ausweichen, nur weil es kulturell unbequem ist. Vor dem Wort Gottes zu zittern, gibt mir die Freiheit, in einer Kultur, die die Autorität dieses Wortes nicht anerkennt, seltsam zu sein. Aber es bietet mir auch einen Ort, an dem ich Schutz finden kann.

Wir dürfen kein Plädoyer für autoritäre Unwissenheit gelten lassen.

„Aber das ist nur deine Interpretation“: Nun, ja, es ist meine Interpretation. Wessen Interpretation sollte es denn sonst sein? Aber im heutigen Klima zielt diese Frage nicht darauf, eine überlegene oder besser argumentierte Interpretation anzubieten, sondern alle Interpretationen zu relativieren. Und dieses Plädoyer für autoritäre Unwissenheit darf nicht gelten. Schließlich ist es inkohärent und götzendienerisch. Eine weitaus bessere Annäherung an die Heilige Schrift finden wir in Psalm 119.

Der Postmodernist12

 

Nun wissen wir’s, dass alle Wahrheit grau: am Ende

des Glaubens lärmende Rhetorik, die trügende Falle

des Absoluten, bunt strahlende Karte

des Guten und Bösen: unser Meer hat kein Ufer.

 

Dogmatische Wahrheit ein Hirngespinst: verurteilt

jede Arroganz: undurchdringliches Grau verzehrt

jede leuchtende Farbe der Engstirnigkeit, verdeckt

den Regenbogen, versteckt

die Sonne, bis sich Dumpfheit erhebt.

 

Nur leise flüchtige Zweifel lauernd

hinter häuserhoher Wolkenwand

wie funkelnd schillernder Glanz im Dunkel,

entfesseltes Grau wird zum Totengewand.

 

Wo nichts mehr falsch sein darf,

muss Wahrheit verschwinden –

nicht zuletzt auch die Wahrheit,

grau sei meine Welt.

Nachdruck aus Themelios 44.3 (2019): 425-33. Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Evangelium21 für die Übersetzung. Alle Fußnoten in eckigen Klammern redaktionell.


  1. [Unter diesem Titel sind Paraden und Aktio­nen der Homosexuellen- und LGBT+-Bewegung im Juni eines Jahres zusammengefasst, die mit dem sogenannten Christopher-Street-Day ihren Anfang begannen.] 

  2. Z.B. Christopher Hitchens, God Is Not Great: How Religion Poisons Everything, New York: Hatchett, 2007. 

  3. Mike Ovey, „Off the Record: The Art of Imperious Ignorance“, in: Themelios 41 (2016), S. 5–7, URL: http://themelios.thegospelcoalition.org/article/the-art-of-imperious-ignorance. 

  4. Andrew Bartlett, Men and Women in Christ: Fresh Light from the Biblical Texts, London: Inter-Varsity Press, 2019. 

  5. Preston Sprinkle (Hg.), Two Views on Homosexuality, the Bible, and the Church, Grand Rapids: Zondervan, 2016 

  6. [vgl. D. A. Carson, „Worüber die Meinungen geteilt sein können und warum nicht alles in diese Kategorie gehört“, Bibel und Gemeinde 1/2016: 13-22.] 

  7. Bernard Ramm, Protestant Biblical Interpretation, 3rd Edition, Grand Rapids: Baker Books, 1980. 

  8. Richard Topping, „Theological Study: Keeping It Odd“, Scottish Bulletin of Evangelical Theology 37 (2019), S. 5. 

  9. Vgl. Grant R. Osborne, The Hermeneutical Spiral: A Comprehensive Introduction to Biblical Hermeneutics, 2nd Ed., Downers Grove, IL: InterVarsity Press, 2006. 

  10. Ich habe versucht, diese Modelle in The Gagging of God: Christianity Confronts Pluralism auszuarbeiten (Grand Rapids: Zondervan, 1996). 

  11. [Edmund Spenser, engl. Dichter, gest. 1599, der für seine ausdrucksstarke strophische Dichtung bekannt wurde.] 

  12. D. A. Carson, „The Postmodern“, Über­tragung T. Jeising.