ThemenBiblische Probleme, Kritik der Bibelkritik

Neutestamentliche Textvarianten – Lohnt sich der Streit darüber?

Seit einigen Jahren kommt es immer wieder zum Streit darüber, ob die verschiedenen Textvarianten, die es in den mehr als 5000 Abschriften der Urtexte der neutestamentlichen Schriften gibt, das Wissen über den ursprünglichen Bibeltext verbessern oder unsicher machen. Einige Verfechter des sogenannten „Textus Receptus“ werfen anderen Christen vor, keine richtige Bibel zu haben, wenn ihre Übersetzung nicht auf diesem Text aus dem 16. Jahrhundert beruht. Der Streit lässt sich allerdings nur lösen, wenn man sich tatsächlich anschaut, worum es bei den Varianten eigentlich geht. Da zeigt sich nämlich, dass die wirklichen Unterschiede gering sind und sich gut erklären lassen.

Wer verschiedene Bibelüber­set­zun­gen vergleicht, merkt, dass in einigen Bibelausgaben Wörter, Sätze oder sogar ganze Verse fehlen, die man in anderen (vor allem älteren) Ausgaben findet. Zum Teil wird diese Auslassung dann auf die Bibelkritik zurückgeführt. Aus diesem Grund werden von manchen Christen der sogenannte „Textus Receptus“ („anerkannter Text“) und Bibelübersetzungen, die vom Textus Receptus ausgehen, stark verteidigt. Auch im deutschsprachigen Raum scheint die „Rechtgläubigkeit“ zum Teil davon abhängig gemacht zu werden, ob man von der Ursprünglichkeit „des Textus Receptus“ – bzw. „des Mehrheitstextes“ – ausgeht oder nicht. Das bedeutet allerdings, dass der „richtige Glauben“ anhand von Menschenerkenntnis gemessen wird. Die Argumente scheinen oft trotzdem überzeugend zu sein, zumindest dann, wenn man nicht genauer hinschaut.

Der bessere Urtext?

Doch was heißt „Textus Receptus“? Im Jahr 1516 erschien in Basel das erste gedruckte griechische Neue Testament, und zwar von Erasmus von Rotterdam herausgegeben. Da Erasmus keine neutestamentliche Handschrift finden konnte, die das ganze griechische Neue Testament enthielt, benutzte er für die einzelnen Texte verschiedene Handschriften. Insgesamt verließ er sich anfangs auf zwei Handschriften aus der Universitätsbibliothek in Basel, eine zu den Evangelien und eine zur Apostelgeschichte sowie den Briefen, beide etwa aus dem 12. Jhdt. n.Chr. Im Anschluss erschienen verschiedene überarbeite Ausgaben dieses griechischen Neuen Testaments unter Benutzung weiterer Handschriften. Im Jahr 1624 gaben die zwei Brüder B. und A. Elzevir eine kleine, handliche Ausgabe heraus, deren Text hauptsächlich aus der kleineren Ausgabe von Theodor Beza (Nachfolger von Calvin in Genf) von 1565 entnommen war. Die Vorrede zur zweiten Auflage, die 1633 erschien, betont, dass der Leser mit der Ausgabe den Text habe, „der jetzt von allen anerkannt ist, indem wir nichts bieten, was verändert oder verderbt ist“ (Lat.: Textum ergo habes, nunc ab omnibus receptum: in quo nihil immutatum aut corruptum damus).

Von anderen Christen wird der sogenannte„ Mehrheitstext“ als der ursprüngliche, inspirierte Text des Neuen Testaments betrachtet. Dabei handelt es sich um die byzantinische Lesart, die bei weitem am meisten Zeugen, im Sinne der vorhandenen Abschriften, aufweist (ca. 80 %). Sie stammen allerdings aus der späteren Zeit und weisen bei weitem keinen einheitlichen Text auf. Das Fehlen von älteren Vorlagen wird zum Teil damit begründet, dass solche Vorlagen vernichtet bzw. verloren gegangen seien. Zudem geschieht die „Überzeugungsarbeit“ auf mathematischer Ebene, wobei auf die Anzahl der Handschriften verwiesen wird. Diese Tatsache kann aber auch darauf zurückgeführt werden, dass bei den Christenverfolgungen zahlreiche Hand­schriften vernichtet wurden und später dann vor allem ein Texttyp kopiert wurde, weil er noch zahlreicher vorhanden war.

Viele moderne Bibel­über­setzungen gehen vom „Nestle-Aland-Text“ aus. Die Heraus­geber des „Novum Testamentum Graece“ berücksichtigen auch ältere Handschriften, die heute bekannt sind, und geben diesen oft den Vorzug, jedoch nicht immer. Dabei spielen sogenannte „äußere und innere Kriterien“ eine Rolle. Bei den „äußeren Kriterien“ handelt es sich um das Alter der Handschriften und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Textfamilie“, bei den „inneren Kriterien“ geht es um Stilfragen usw.

Obwohl es zahlreiche Varianten in den Abschriften gibt, spielen sie keine zentrale Rolle, weil aus den Unterschieden keine unterschiedliche Dogmatik abgeleitet werden kann.

Wichtig ist zu beachten, dass die Bibel so gut überliefert ist, dass die Textvarianten keine wirklich zentrale Rolle spielen. Man kann von Unterschieden in den Textvarianten keine unterschiedliche „Dogmatik“ ableiten. Dazu bemerkten Kurt und Barbara Aland, Mitherausgeber des Nestle-Aland-Textes:

„Die Textkritik selbst und in entsprechend gesteigertem Maße die Fachvertreter des Neuen Testaments, von den Außen­stehenden ganz zu schweigen, blicken fasziniert auf die Differenzen und vergessen darüber, wie viel davon Zufälligkeit, wieviel naturnotwendige Variantenbreite und wie wenig echte Differenz ist – auf das Ganze gesehen, das immer wieder in Gefahr ist, über die Einzelheiten aus dem Auge zu geraten.“1

Im Folgenden soll es nicht um die verschiedenen Theorien zur Überlieferung des griechischen neutestamentlichen Textes gehen. Anhand von ausgewählten Beispielen aus den Evangelien, der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen soll vielmehr dargelegt werden, worüber man überhaupt „streitet“.

Beispiele aus den neutestamentlichen Evangelien

In Mt 8,28 ist nach dem Nestle-Aland-Text des griechischen Neuen Testaments (28. Auflage) vom „Land der Gadarener“ die Rede (Mehrheitstext: „Land der Gergesener“), während Mk 5,1 und Lk 8,26.37 nach der gleichen Text-Ausgabe in dem Zusammenhang vom „Land der Gerasener“ sprechen (Mehrheitstext: „Land der Gadarener“). Dabei ist zu beachten, dass es an allen drei Stellen in den griechischen Handschriften drei verschiedene Varianten gibt und auch in Mk 5,1 und Lk 8,26.37 die Lesart „Land der Gadarener“ sehr gut bezeugt ist (neben dem Mehrheitstext jeweils u. a. durch Kodex Alexandrinus aus dem 5. Jh. n. Chr.). Zudem erscheint an allen Stellen jeweils auch die Lesart „Land der Gergesener“, die besonders in Mt 8,28 u. a. durch den Mehrheitstext breit bezeugt ist. Damit stellt sich die Frage nach dem ursprünglichen Ort der Dämonen-Austreibung. Zu beachten ist, dass die drei Orte alle zur Dekapolis (Zehn-Städte-Gebiet) im Ostjordanland gehörten und damit „heidnisches“ Gebiet waren. Ich fasse mich an dieser Stelle kurz2: Ich gehe davon aus, dass an allen vier Stellen ursprünglich vom „Land der Gadarener“ die Rede war, das bis zum See Genezareth reichte, – während Gerasa etwa 60 km vom See entfernt lag und Gergesa keine Stadt mit Land war, sondern zur Stadt Hippos gehört – und dass daraus später „Land der Gerasener“ entstand, da Gerasa seit dem 2. Jh. n.Chr. eine sehr bekannte Stadt in der Dekapolis war – während vorher Gadara die bedeutendste Stadt in der Gegend gewesen war. Aus dem „Land der Gerasener“ ist dann wohl das „Land der Gergesener“ geworden, weil man realisiert hat, dass Gerasa nicht gemeint sein kann, da es zu weit entfernt ist.

In Mt 17,3 lesen wir nach den älteren Handschriften: „Und siehe, es erschien (ὤφθη) ihnen Mose und Elia …“ Dabei fällt auf, dass das Verb im Singular erscheint, während Mose und Elia Subjekt sind. In verschiedenen späteren Handschriften, darunter der Mehrheitstext, erscheint das Verb im Plural. Im hebräischen Alten Testament ist es typisch, dass das Verb im Singular erscheint, obwohl es zwei Subjekte gibt, wenn ein Subjekt stärker betont wird. So erscheint z. B. regelmäßig die Formulierung: „Und es redete Mose und Aaron/Elieser/die Priester …“ (z. B. in Ex 7,6; Num 8,20; 26,3; 31,31; Deut 27,9). Es ist m. E. ausgeschlossen, dass in Mt 17,3 eine ursprüngliche Pluralform in eine Singularform geändert wurde. Das Umgekehrte muss der Fall sein. Klar ist zudem, dass Matthäus nicht von Markus „abhängig“ sein kann, eher umgekehrt. Denn in Mk 9,4 lesen wir: „Und es erschien ihnen Elia mit Mose …“

In Mt 17,20 antwortet Jesus seinen Jüngern auf die Frage, warum sie den Besessenen nicht heilen konnten: „Wegen eures Kleinglaubens …“ Nach Mk 9,29 antwortet Jesus zudem: „Diese Art kann nur durch Gebet [Mehrheitstext u. a. ergänzen: ‚… und Fasten‘] ausfahren.“ Die Handschriften des Mehrheitstextes und andere späteren Handschriften fügen auch im Anschluss an Mt 17,20 hinzu:

„Diese Art kann durch nur durch Gebet und Fasten ausfahren.“

Dabei fällt auf, dass eben dieselben Handschriften das Fasten auch in Apg 10,30 und 1Kor 7,5 ergänzen. Allein das Beten scheint also zu wenig zu sein. Doch warum kritisiert Jesus dann den „Kleinglauben“ der Jünger (vgl. auch Lk 9,41) statt zu sagen, dass sie erst hätten fasten müssen? Es ist also nicht davon auszugehen, dass Jesus das Fasten in dem Zusammenhang erwähnt hat.

In Mt 18,15 wird u. a. im Mehrheitstext „gegen dich“ (εἰς σέ) ergänzt: „Wenn dein Bruder gegen dich sündigt …“ Die Frage ist allerdings, ob eine persönliche Kränkung Anlass für Gemeindezucht sein soll. Auffallend ist, dass das „gegen dich“ u.a. im Mehrheitstext auch in Lk 17,3 ergänzt wird, wo es offensichtlich aus Lk 17,4 übernommen worden ist, während es sich in Mt 18,15 wohl um eine Anpassung an Mt 18,21 („gegen mich“) handelt. Zu beachten ist, dass es sich in Mt 18,21f. sehr wohl um persönliche Kränkung handelt, kaum jedoch in Mt 18,15-18. Jesus geht nicht auf persönliche Kränkungen ein, sondern auf ein sündhaftes Verhalten Gott gegenüber. „Wenn dein Bruder in Sünde fällt“, heißt die passende Übersetzung. Beschrieben wird im Folgenden der Fall, dass der „Bruder“ in dem sündhaften Leben verharrt. Andererseits erscheint das „gegen dich“ (κατὰ σοῦ) in Mt 5,23, wobei jedoch nicht vom „Sündigen“ die Rede ist und wobei vorausgesetzt wird, dass das angesprochene „Du“ seinerseits am „Bruder“ schuldig geworden ist.

Der Ausdruck „Menschen des Wohlgefallens“ geht wohl auf einen hebräisch/aramäischen Ausdruck zurück, der später schlecht verstanden wurde. Dadurch kamen die Varianten in Lukas 2,14 zustande.

In Lk 2,14 verkündigen die Engel u.a. „Frieden auf Erden unter den Menschen des Wohlgefallens“. Da der Ausdruck „Menschen des Wohlgefallens“ später wohl nicht mehr verstanden wurde, strich man das griechische Sigma am Ende, das den Genitiv anzeigt, und so wurde daraus der „Friede auf Erden [und] unter den Menschen das Wohlgefallen [Gottes]“, eine Variante, die u.a. im Mehrheitstext erscheint. In diesem Fall wird das „Wohlgefallen“ auf alle Menschen ausgedehnt, während die entsprechenden Verheißungen im Alten Testament wiederholt betonen, dass der „Gottlose“ keinen Frieden hat (vgl. z. B. Jes 48,22; 57,21; Jer 8,11; Hes 13,16). Aus einem Qumran-Text ist der Ausdruck „Menschen des Wohlgefallens“ (אנשי רצון) bezeugt. Damit sind Menschen gemeint, die im Wohlgefallen/Willen Gottes leben und damit Gottes Wohlgefallen haben. Die Engel konnten diesen Ausdruck als bekannt voraussetzen.

In Joh 1,18 ist in den ältesten Handschriften in Bezug auf Jesus vom „einzigartigen Gott“ ([ὁ] μονογενὴς θεός) die Rede, während u. a. die Handschriften des Mehrheitstextes vom „einzigartigen Sohn“ (ὁ μονογενὴς υἱός) sprechen – und sich damit wohl an Joh 3,16.18 anlehnen. Diesbezüglich wird argumentiert, dass die Rede vom „einzigartigen Gott“ gnostisch sei, da Gnostiker den Ausdruck für ihre Lehre verwendet hätten. Selbst wenn dies zutreffen sollte, ist das kein Argument gegen die Ursprünglichkeit des Ausdrucks in Joh 1,18, sondern eher eine Bestätigung, wobei Gnostiker dann einen biblischen Ausdruck missbraucht hätten. Im Kontext des Johannesevangeliums wird der Sohn Gottes von Anfang an mit Gott identifiziert und gleichzeitig vom himmlischen Vater unterschieden.

In Joh 1,28 wird in den älteren Hand­schriften der Ort, an dem Johannes taufte, „Bethanien“ (hebr. בֵּית עַנְיָה = „Haus der Armut“) genannt. Einige spätere Handschriften und Origenes lesen stattdessen „Bethabara“ (Βηθάβαρα; hebr. בֵּית עֲבָרָה = „Haus der Überquerung“) – so auch der Textus Receptus –, während u. a. die Mehrheit der Handschriften des Mehrheitstextes den Ort gar nicht nennen.3 Bethabara lag von Jerusalem aus gesehen wohl gegenüber von Bethanien auf der Westseite des Jordans. Zu beachten ist allerdings, dass der griechische Ausdruck, der in Joh 1,28 mit „jenseits des Jordan“ wiedergegeben wird (πέραν τοῦ Ἰορδάνου), dem hebräischen Ausdruck ‘eber HaJarden (בְּעֵ֥בֶר הַיַּרְדֵּֽן) entspricht, was wörtlich „Überquerung des Jordans“ bedeutet. Das „Haus der Überquerung“ hängt somit wohl mit der Überquerung am Jordan östlich von Jericho zusammen, wo Johannes taufte.

In Joh 5,4 ergänzen u.a. der Kodex Alexandrinus und die Handschriften des Mehr­heitstextes: „Denn ein Engel stieg zu gewissen Zeiten in das Becken [Bethesda] hinab und bewegte das Wasser. Wer nun nach der Bewegung des Wassers zuerst hineinstieg, der wurde gesund, mit welcher Krankheit er auch geplagt war.“ Dass der Lahme eine solche Erwartung vom Wasser hatte, wird in Joh 5,3 zum Ausdruck gebracht. Doch auch wenn in der Ergänzung gesagt wird, dass „ein Engel“ das Wasser bewegt, so scheint die Aussage doch im Kontext der Bibel nicht unproblematisch zu sein und eher auf eine Deutung zurückzugehen, wie sie bereits in Sir 50,3f. vorliegt, wo es heißt: „In jenen Tagen wurde ein Wasserbecken ausgehauen, Bronze wie ein Meer im Umfang. Es bewahrte sein Volk vor Schaden und befestigte die Stadt gegen eine Belagerung.“ Die Aussage bezieht sich wahrscheinlich auf das Bethesda-Becken nördlich des Tempelberges. Zumindest nach 70 n. Chr. ist hier der Äskulapkult bezeugt (Äskulap bzw. Asklepios ist der „Heil-Gott“ u. a. mit einem Zentrum in Epidaurus und Pergamon).4

Der „lange Markusschluss“ (Mk 16,8-20)

Die Textzeugen Vaticanus (B) und Sinaiticus () – beide Anfang 4. Jh. n. Chr. – schließen das Markusevangelium mit Mk 16,8 ab („kurzer Schluss“), und Mk 16,9-20 fehlt auch u. a. in einigen alten Übersetzungen. Eusebius (gest. um 339/340 n. Chr.) und Hieronymus (um 400 n. Chr.) weisen auf das Fehlen dieses Abschnittes in manchen Handschriften hin.

Die altlateinische Handschrift k hat den „langen Markusschluss“ zwar nicht, aber zusätzlich einen kürzeren Schluss: „Sie aber verkündeten denen um Petrus in Kürze alles, was ihnen aufgetragen war, danach aber entsandte Jesus durch sie die heilige und unvergängliche Botschaft vom ewigen Heil vom Osten bis zum Westen.“ Den „langen Schluss“ ohne den „mittleren Schluss“ haben u. a. der Kodex Alexandrinus (5. Jh.) und der Mehrheitstext.

Dabei sind auch folgende Aspekte zu beachten:

– Tatian hat den langen Schluss um 170 n. Chr. in seine Evangelienharmonie (Diatessaron) aufgenommen.

– Mk 16,19 wird von Irenäus (um 180 n. Chr.) zitiert (Adv haer 3,10,6).

– Möglicherweise war der lange Schluss schon Justin bekannt (gest. 165 n. Chr.).5

Auffallend ist zudem, dass im Kodex Vaticanus nach Mk 16,8 ungefähr 1,5 Kolumnen leer bleiben, während jede andere Schrift des Neuen Testament auf der je nächsten Kolumne nach Abschluss der vorangehenden Schrift beginnt.

Der „kurze Schluss“ endet mit „denn sie fürchteten sich“ (Mk 16,8; vgl. Mk 10,32). Man kann wohl kaum davon ausgehen, dass es die Absicht des Verfassers war, das Evangelium mit diesem Satz abzuschließen. Allerdings gehen trotzdem einige Neutestamentler davon aus, dass Mk 16,8 das von Markus beabsichtigte Ende seines Evangeliums darstellt. Oft wird der lange Schluss als sekundär betrachtet. Dabei wird jedoch zu wenig beachtet, dass der lange Markusschluss bereits im 2. Jh. n.Chr. offensichtlich selbstverständlich zum Markusevangelium gehörte.

Es ist gut vorstellbar, dass Markus aus irgend­welchen Gründen (vielleicht wegen Christenverfolgung) vorläufig verhindert wurde, das Evangelium abzuschließen. In­zwischen ist Petrus möglicherweise hingerichtet worden. Daraufhin hat Markus wohl das Evangelium nach dem Tod des Petrus abgeschlossen. Das würde bedeuten, dass er den Schluss ohne Petrus formulieren musste. Es gibt m. E. auf jeden Fall keinen wirklich schwerwiegenden Grund dafür, den „langen Markusschluss“ nicht als ursprünglich zu betrachten.

Beispiele aus der Apostelgeschichte

Dass die Herausgeber des Novum Testa­mentum Graece nicht immer den „großen Kodizes“ Sinaiticus und Vaticanus (bei Anfang 4. Jh. n. Chr.) folgen, zeigt u. a. das Beispiel aus Apg 7,38. Dabei stellt sich die Frage, ob Mose „lebendige Aussprüche empfing“, um sie „uns“ oder „euch zu überliefern“. Mit anderen Worten: Distanziert sich Stephanus als Christ von dieser Sinai-Überlieferung? So u. a. die Kodizes Sinaiticus und Vaticanus, die „euch“ bezeugen, während u. a. der Kodex Alexandrinus (5. Jh. n. Chr.) und die Handschriften des Mehrheitstextes von „uns“ sprechen. Die Herausgeber des Novum Testamentum Graece entscheiden sich zu Recht für „uns“, da Stephanus in der ganzen Rede zur alttestamentlichen Überlieferung steht. Andererseits beachten dieselben Herausgeber jedoch offenbar nicht, dass es grundsätzlich die gleichen Handschriften sind, die in Apg 7,38 „euch“ statt „uns“ lesen, welche in Apg 7,46 „ein Zelt für das Haus Jakob“ statt „ein Zelt für den Gott Jakobs“ bezeugen. Beide Varianten scheinen aus judentumskritischen Ansichten entstanden zu sein. Folglich sollte man in Apg 7,46 der Variante „ein Zelt für den Gott Jakobs“ den Vorzug geben.

Die Aussage in Apg 8,37 fehlt in manchen Bibelübersetzungen. Es handelt sich dabei um folgenden Text:

„Und er [Philippus] sagte zu ihm [dem Eunuchen]: Wenn du von ganzem Herzen glaubst, ist es erlaubt [dass du getauft wirst]. Er antwortete und sagte: Ich glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist.“

Wenn dieses Bekenntnis nicht ursprünglich Teil des Textes sei, könne sich jeder taufen lassen, wird argumentiert. Doch ist dabei zu beachten, dass Lukas nicht alle Einzelheiten des Gesprächs aufschreibt und dass als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass die Taufe die Hinwendung zu Jesus Christus im Glauben voraussetzt. Es ist kaum anzunehmen, dass das Bekenntnis später beim Abschreiben gestrichen wurde. Zu beachten ist auch, dass nur wenige und späte Handschriften des Mehrheitstextes diesen Zusatz haben.

In Apg 13,19f. lesen wir nach den älteren Textzeugen: „Und nachdem er sieben Nationen im Land Kanaan vertilgt hatte, ließ er sie deren Land erben. Etwa 450 Jahre [dauert das]. Und danach gab er Richter bis zu Samuel, dem Propheten.“ In den Handschriften des Mehrheitstextes u. a. wird der Ausdruck „und danach“ (καὶ μετὰ ταῦτα) vorverlegt, und so lautet Apg 13,20 demnach: „Und danach – für etwa 450 Jahre – gab er ihnen Richter bis zum Propheten Samuel.“ Wenn der Beginn der Wirksamkeit des Propheten Samuel um 1080/70 v. Chr. anzusetzen ist, würde das bedeuten, dass Paulus an der Stelle den Auszug aus Ägypten entsprechend um 1530/20 v. Chr. datiert. Das würde aber anderen Ausgaben der Bibel diesbezüglich widersprechen (vgl. z. B. Ri 11,26; 1. Kön 6,1). Gemeint ist in Apg 13,20 im Kontext offensichtlich, dass es von dem Zeitpunkt, als Jakob mit seiner Familie nach Ägypten auswanderte, bis zur Landnahme etwa 450 Jahre dauerte (nach Ex 12,40f. waren die Israeliten 430 Jahre in Ägypten). Entsprechend formuliert die Israelische Bibelgesellschaft in ihrer Übersetzung treffend: „Dies alles dauerte etwa 450 Jahre, und danach gab er ihnen Richter bis Samuel, dem Propheten.“

Beispiele aus den Paulusbriefen

In Röm 5,1 lesen u. a. die Kodizes Sinaiticus und Vaticanus und auch viele Handschriften vom Mehrheitstext statt „wir haben“ (ἔχομεν) den Konjunktiv „lasst uns haben“ bzw. „sollten wir haben?“ (ἔχωμεν). Demnach werden die Gläubigen ermutigt, den „Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ zu haben, nachdem sie durch den Glauben rechtfertigt worden sind. Dabei handelt es sich möglicherweise um einen Hörfehler, zumal die zwei Formen sich nur dadurch unterscheiden, dass die Indikativform mit einem „kleinen/kurzen O“ und die Konjunktivform mit einem „großen/langen O“ geschrieben wird. Nach Eph 2,14 ist Jesus Christus „unser Friede“, und diese Tatsache soll offensichtlich auch in Röm 5,1 zum Ausdruck gebracht werden. Die Einfügung der Konjunktivform statt der Indikativform kann aber auch damit zusammenhängen, dass man die Christen auffordern wollte, den Frieden nun auch tatsächlich im Alltag zu leben.

In Röm 7,14 erscheint u. a. in den Handschriften des Mehrheitstextes für „fleischlich“ das griechische Adjektiv sarkikos (σάρκικος) statt sarkinos (σάρκινος). Das erste Adjektiv, das Paulus allgemein verwendet, bedeutet so viel wie „durch das Fleisch geprägt“ und das zweite Adjektiv so viel wie „vom Stoff Fleisch“. In Röm 7,14 geht es dem Kontext nach um den Menschen „in Adam“, der „vom Stoff Fleisch“ und darum von Natur aus „unter die Sünde verkauft“ ist. Es geht also nicht um wiedergeborene Christen, die sich wieder durch das „Fleisch“ prägen lassen.

Ähnlich erscheint u. a. in den Hand­schriften des Mehrheitstextes auch in 1Kor 3,1 das griechische Adjektiv sarkikos (σάρκικος) statt sarkinos (σάρκινος). In 1. Kor 3,3 verwendet Paulus auch nach den älteren Handschriften das Adjektiv sarkikos, wodurch eine Steigerung zum Ausdruck kommt. Bei der Hinwendung zum Glauben an Jesus Christus waren die Korinther „vom Stoff Fleisch“, und jetzt, wo sie im Glaubens und Heiligungsleben gewachsen sein sollten, sind sie „durch das Fleisch [d. h. die Sünde] geprägt“. Das ist kein Zeichen für einen „gesunden Glauben“.

In 1Kor 10,28 erscheint in den alten Handschriften der Ausdruck „dem Heiligtum geopfert“ (ἱερόθυτον). Es handelt sich dabei um ein Zitat von einem Nichtchristen, das Paulus an der Stelle wörtlich wiedergibt. Er selbst verwendet seinerseits sonst das Wort „Götzenopfer“ (εἰδωλόθυτον). Damit ist eine deutliche Wertung der Praxis vonseiten des Apostels verbunden. Die Handschriften des Mehrheitstextes u. a. fügen dieses Wort nun auch in 1. Kor 10,28 ein.

In Gal 5,19-21 finden wir nach dem Nestle-Aland-Text fünfzehn „Werke des Fleisches“, das sind fünf mal drei „Laster“. Anschließend folgen in Gal 5,22f. drei mal drei „Tugenden“ als „Frucht des Geistes“. Eine solche oder ähnliche Systematik in den „Laster- und Tugendkatalogen“ ist für die Paulusbriefe sehr typisch. Die Handschriften des Mehrheitstextes u. a. ergänzen in Gal 5,19 am Anfang „Ehebruch“ (μοιχεία) und nach dem ersten Wort in Gal 5,21 „Morde“ (φόνοι). Es ist davon auszugehen, dass diese zwei Begriffe nicht aus der Feder des Apostels Paulus stammen, da damit die Dreierkette durchbrochen wird.

In Eph 4,24 lesen u. a. der Kodex Alexan­drinus aus dem 5. Jh. n. Chr. sowie die Handschriften des Mehrheitstextes den Infinitiv Aorist „angezogen habend“ (ἐνδύσασθαι). Der Papyrus 46 sowie die Kodizes Sinaiticus und Vaticanus u. a. haben stattdessen die Befehlsform „zieht an“. Demnach haben die Gläubigen den „neuen Menschen“ noch nicht „angezogen“, sondern werden dazu aufgefordert, das zu tun. Einheitlich bezeugen diese Textzeugen aber in Eph 4,22, dass die Gläubigen den „alten Menschen abgelegt“ haben. Und die Parallelstelle aus Kol 3,9f. bezeugt nicht nur, dass die Gläubigen durch die Hinwendung zu Jesus Christus „den alten Men­schen ausgezogen haben“, sondern auch, dass sie „den neuen Menschen angezogen haben“. Es ist also davon auszugehen, dass auch der ursprüngliche Text von Eph 4,24 bezeugt, dass der „neue Mensch“ durch die Hinwendung zu Jesus Christus „angezogen“ worden ist.

In 1Tim 3,16 lesen u.a nach den Kodizes Sinaiticus und Alexanderinus:

„Und anerkannt groß ist das Ge­heim­nis der Gott­selig­keit: Er ist im Fleisch offenbart worden …“

Die Handschriften des Mehrheitstextes u. a. schreiben stattdessen: „… Gott ist im Fleisch offenbart worden …“

Selbst wenn im ursprünglichen Text „Er“ und nicht „Gott“ gestanden hat, wie es am wahrschein­lichsten ist, so ist doch im Text­zusammen­hang die Gottheit von Jesus klar bezeugt.

Dabei ist zu beachten, dass das griechische Wort für „Gott“ oft abgekürzt wurde, indem nur der erste und der letzte Buchstabe geschrieben wurden. Andererseits sind die frühen Handschriften in Großbuchstaben geschrieben. Das Wort für „er“ (ὃς) unterscheidet sich in der Schreibweise kaum vom Wort für „Gott“ (θεός). Dass der Mensch gewordene Sohn Gottes 1Tim 3,16 als „Gott“ bezeichnet wird, soll wohl die göttliche Trinität untermauern. Aber auch wenn Paulus ursprünglich „er“ schrieb – was anzunehmen ist –, setzt der Textzusammenhang deutlich die Präexistenz und auch die Gott­heit Jesu voraus.

Schlussfolgerungen und Schlussbemerkung

Die verschiedenen Handschriften des Mehrheitstextes u. a. zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie kleine Ergänzungen zur zusätzlichen Erläuterung des Textes einfügen – auf die im Einzelnen hier nicht eingegangen werden kann. So ist z. B. in Mt 26,28 und parallel dazu in Mk 14,24 nicht nur vom „Blut meines Bundes“ die Rede, sondern vom „Blut meines neuen Bundes“. In der Parallelstelle in Lk 22,20 erscheint der Ausdruck „der neue Bund in meinem Blut“ auch in den älteren Textzeugen (vgl. 1. Kor 11,25). In Lk 2,5 wird Maria als die dem Joseph „Anverlobte“ bezeichnet, wobei in späteren Handschriften „Frau“ ergänzt wird („anverlobte Frau“), was bei Lukas eingeschlossen ist.

Als Argument zugunsten des Textus Receptus wird betont, dass der „ägyptische Text“ – zu dem manche der älteren Handschriften gezählt werden – das „Herrsein“ Jesus Christus an manchen Stellen abgeändert hätten, um ihn nicht als Gottessohn darzustellen. Liest man jedoch Übersetzungen, die von diesen Handschriften ausgehen (wie die Lutherbibel 1984 und 2017 oder die Elberfelder-Übersetzung), so wird deutlich, dass auch dabei absolut klar wird, dass Jesus „der Herr“ ist. Es ist eher wahrscheinlich, dass an weiteren Stellen, an denen der Begriff „Herr“ (κύριος) ursprünglich nicht erschien, er später ergänzt wurde. Hätten die Abschreiber das „Herrsein“ Jesu tatsächlich abändern wollen, so hätten sie das konsequent machen müssen.

Zum Teil wird mit dem Hinweis auf die Verbalinspiration der Bibel argumentiert, warum der Textus Receptus bzw. der Mehrheitstext der ursprüngliche inspirierte Text sein „muss“. Diese Begründung ist jedoch sehr willkürlich. Innerhalb der einzelnen Hand­schriften des Mehrheitstextes gibt es ebenfalls viele Abweichungen. Man müsste also entscheiden, dass eine der vielen Handschriften den Urtext darstellt. Die Entscheidung darüber ist eine menschliche Entscheidung, keine göttliche. Andererseits geht der Textus Receptus auf einzelne späte Handschriften des Mehrheitstextes zurück. Auch diesbezüglich ist es willkürlich zu behaupten, dass es sich dabei um „den inspirierten Urtext“ handele. Weiter wird betont, dass die Reformation aufgrund des Textus Receptus vollzogen worden sei. Die Reformation ist der Bibel an und für sich zu verdanken, nicht gewissen Handschriften mit ihren Textvarianten.

Im Theologiestudium (zumindest an der STH Basel) lernen die Studierenden, mit dem textkritischen Apparat des Novum Testamentum Graece umzugehen. Sie lernen, die verschiedenen Textzeugen in ihrer Qualität einzuordnen und zu verstehen, wie es zu den verschiedenen Textvarianten gekommen ist. So kann man unabhängig davon, ob man jeweils mit dem Nestle-Aland-Text einverstanden ist oder nicht, sich selbst ein Urteil über die Entstehung der Textvarianten bilden.

Wichtig ist auch in dieser Hinsicht, nicht die eigene Erkenntnis als göttlichen Maßstab zu betrachten. Die Bibel ist nach eigenem Zeugnis Gottes Wort und Gottes Wahrheit, menschliche Erkenntnis ist hingegen relativ. Und Gott hat zugelassen, dass unterschiedliche Textvarianten überliefert worden sind. Gleichzeitig ist es für uns eine besondere Gabe Gottes, dass der Bibeltext absolut zuverlässig überliefert ist, so dass wir ein wahres, standhaftes Fundament für den Glauben und für die biblische Lehre haben.


  1. K. Aland/B. Aland, Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben und in Theorie wie Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2. Aufl. 1989, S. 38. 

  2. Vgl. dazu ausführliche J. Thiessen, Auf Jesu Spuren im Heiligen Land. Ein historischer und theologischer Reisebegleiter, Ansbach: Logos Editions, 4. Aufl. 2023, S. 83ff. 

  3. Wenige späte Handschriften bezeugen „Betharaba“ (Βηθάραβα; hebr. בֵּית עֲרָבָה = „Haus der Araba“) als Taufort in Joh 1,28. Ein Ort mit diesem Namen (בֵּית הָעֲרָבָה) wird in Jos 15,61 genannt. Bei der Araba handelt es sich um die Ebene des Toten Meeres, das auch „Araba-Meer“ genannt wird (vgl. z. B. Deut 3,17; 4,49). 

  4. Vgl. dazu Thiessen, Auf Jesu Spuren, S. 170ff. 

  5. Vgl. Justin, Apol 1,45,5 mit Mk 16,20.