ThemenGeschichte der Christen

War Luther ein Antisemit?

Dass Martin Luther kein Antisemit war, darüber besteht erst seit ungefähr 1990 in der historischen Forschung Einigkeit. Aber schon die Pietisten Philipp Jacob Spener und Gottfried Arnold hatten im 17. Jhdt. darauf aufmerksam gemacht, dass Luthers anfängliche Hoffnung einer erfolgreichen Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus unter den Juden in Deutschland mehr Beachtung finden sollte, als seine späteren judenfeindlichen Äußerungen. Eine historische Betrachtung darf weder versuchen, Falsches zu entschuldigen, noch darf sie vergangene Zeiten einseitig unter aktuellen gesellschaftlichen Maßstäben betrachten. Außerdem ist zu beachten, dass Luthers Aussagen und Schriften in seiner Zeit keineswegs zu aktiver Verfolgung von Juden motiviert haben. Auch der Antisemitismus der Nazis hatte nicht hier seinen Ausgangspunkt.

Gerade im Jubiläumsjahr der Reformation wird nicht nur an die große Bedeutung Luthers für Glaube und Sprache erinnert. Insbesondere säkular und religionskritisch ausgerichtete Autoren porträtieren Luther gerne als Unterdrücker der Frauen, Hexenverfolger, Säufer und Judenfeind. Schützenhilfe bekommt eine solche Interpretation durch die propagandistische Ausschlachtung von Luthers judenkritischen Schriften durch die Nationalsozialisten. Mit derem systematischen und ideologischen Antisemitismus hat der Reformator aber nie etwas zu tun gehabt. Nie hat Luther jüdische Häuser angezündet oder ist mit körperlicher Gewalt gegen Juden vorgegangen. Soweit das nachprüfbar ist, wurden damals durch seine antijüdischen Schriften auch keine Juden­po­grome aus­­gelöst.

Selbst die aus­­fallenden und hetzeri­schen Äuße­rungen seiner letzten Jahre fielen in der generell judenfeindlichen Atmosphäre jener Zeit nicht sonderlich auf.

Die ganz normale Juden­feindschaft

Im Mittelalter war eine skeptisch bis feindliche Sicht auf das Judentum weit verbreitet. In Kri­sen­­situationen, Hun­­gers­nöten und Seu­chen dienten sie als willkommene Sündenböcke. Reli­giös wurden sie als Christusmörder verachtet. Geschicht­lich erinnerte man sich an jüdisch motivierte Verfolgungen während der ersten Jahrhunderte. Das Elitebewusstsein vieler Juden, ihre Distanzierung von ihrem christlichen Umfeld und die von ihnen gepflegten Traditionen trugen zu einer Vertiefung der bestehenden Vorurteile bei. Gerüchte von Brunnenvergiftungen, vergewaltigten Christenmädchen oder heimlich geschlachteten Christenkindern wurden gerne geglaubt und weiter erzählt.

Viele der aus England (1290), Frankreich (1314), Spanien (1492) und Portugal (1497) vertriebenen Juden flohen ins Deutsche Reich und gründeten neue Gemeinden. Wie zu fast allen Zeiten betrachtete man die als fremd empfundenen Neubürger als wirtschaftliche Konkurrenz und kulturelle Bedrohung. Zudem propagierten führende Theologen den Antijudaismus mit zahlreichen polemischen Schriften.1 Der zu Beginn des 16. Jahrhunderts massenhaft verbreitete Hexenhammer (erschienen 1487) war nicht nur das Handbuch der Hexenverfolgung. Das Buch bildete auch die argumentative Grundlage systematischer Juden­ver­treibungen.

Judenverfolgung und Antisemitismus waren zu Luthers Zeiten sehr verbreitet.

Zwi­schen 1390 und 1520 wurden die Juden aus fast allen Reichsstädten und auch aus vielen landesherrlichen Territorien des Heiligen Römischen Reiches verwiesen. Allein in Luthers Jugend gab es Juden­vertreibungen in Mecklenburg (1492), Magdeburg (1493), Reutlingen (1494), Kärnten (1496), Württemberg (1498), Nürnberg (1499) und Böhmen (1500).2 Auch in den folgenden Jahren waren allerorts und jederzeit von vorgeblich jüdischen Verbrechen zu hören, die ebenso regelmäßig zu Übergriffen gegen Juden führten. Weit verbreitete Flugschriften zum Berliner Hostienschänder- Prozess (1510) hetzten die Menschen gegen Juden auf, während Luther zeitgleich als Professor nach Wittenberg berufen wurde (1511).

Nach dem Raub einer vergoldeten Monstranz und zweier geweihter Hostien aus der Kirche von Knoblauch/Havelland wurde der Kesselflicker Paul Fromm als Verdächtiger festgenommen. Unter Folter gestand er, die Hostien dem Berliner Juden Salomon verkauft zu haben. Nach weiteren Verhaftungen und Folterungen wurden schlussendlich 39 Juden standesrechtlich verbrannt und 60 weitere auf Lebenszeit der Stadt verwiesen.3 Wirkliche Beweise für die mutmaßliche Schändung der Hostien und die heimliche Ermordung von mehreren Christenkindern konnten nie erbracht werden.

Auch Erasmus von Rotterdam, der führende Humanist zur Zeit Luthers, vertrat eine judenfeindliche Position.4 Juden hätten Jesus hingemetzelt und seien bis heute Feinde der Christen geblieben. Juden seien notorische Lügner, war Erasmus überzeugt. Sie raubten die Christen aus und seien die eigentlichen Drahtzieher der blutigen Bauernkriege. Die Vertreibung der Juden aus England, Frankreich und Spanien kommentierte Erasmus positiv.5 Auch wenn die Humanisten sich größtenteils für Toleranz und Meinungsfreiheit einsetzten, sollte das nicht für die Juden gelten. Die weitaus größte Zahl der Gebildeten war von der Wahrheit der judenfeindlichen Klischees überzeugt.6

Luther als Kind seiner Zeit

In dieser von Vorurteilen gegenüber den Juden vergifteten Zeit wuchs Luther auf und wurde von seinen Professoren weiter in diese Richtung hin geprägt. Eigene Begegnungen mit Juden hatte Luther in seiner Jugend- und Studienzeit kaum. In seinen Aussagen kolportierte er lediglich die allgemein verbreiteten Vorurteile.7 Nichts allerdings unternahm er persönlich gegen Juden. In seinen schriftlichen Äußerungen ging es ihm fast immer um theologische Aspekte. Der reformatorisch denkende Professor verurteilte das Judentum als Gesetzesreligion, die Gottes allein rettende Gnade im gekreuzigten Jesus Christus verleugne. Die Bibelexegese der Rabbiner lehnte Luther vehement ab und betrachtete sie als Gotteslästerung, bzw. als Gefahr für die reformatorische Lehre. Immerhin leugneten die Rabbinen, wie auch schon die neutestamentlichen Pharisäer, eine christologische Interpretation des Alten Testamentes. Außerdem stünden die Juden, seit sie die Heilsbotschaft Jesu abgelehnt und den Tod Jesu durchgesetzt hätten, unter dem Gericht Gottes.8

In seiner Römerbrief-Vorlesung (1515/16) identifizierte Luther das neutesta­mentliche Judentum mit seinen katholischen Gegnern. Beide betrachtete er als Re­prä­sentanten toter Werkgerechtigkeit.9 Häufig stand hinter Luthers judenkritischen Äußerungen die Ablehnung der damaligen katholischen Theologie, die er als Parallele pharisäischer und schriftgelehrter Frömmigkeit betrachtete.

Luther der Judenfreund

In den 1520er Jahren vollzog sich bei Luther eine auffällige Wandlung in seiner Beurteilung des Judentums. Zunehmend distanzierte er sich von dem gesellschaftlich gepflegten Antijudaismus.

1520 kritisierte Luther öffentlich die zur Passionszeit üblichen, antijüdischen Hetzpredigten.10 Man solle die Juden nicht verachten oder verspotten, forderte er. Schließlich dienten sie auch als Vorbild und Warnung für eine lasche und werkgerechte Christenheit. Man müsse hingegen sogar Mitleid mit den von Gott gestraften Juden haben. Angesichts der schweren jüdischen Geschichte sollten sich die Christen noch stärker der unverdienten Gnade Gottes bewusst werden, durch die sie gerettet und von verdienter Strafe verschont geblieben sind.11

Luther deutete seine Zeit als kurz vor der Wiederkunft Christi und erwartete deswegen eine um sich greifende Bekehrung von Juden.

Insbesondere Luthers eschatologische Sicht veränderte seine Stellung zum Judentum. Er sah die Menschheit mitten in den weltgeschichtlichen Auseinandersetzungen der biblischen Endzeit. Die Muslime (Türken) und die katholische Kirche unter dem Papst, als dem in der Offenbarung angekündigten Antichristen, kämpften gegen die wahrhaftigen Christen der Reformation. Die leibhaftige Wiederkunft Jesu und das irdische Reich Gottes stünden unmittelbar bevor. Für diese heilsgeschichtliche Zeit hatten die neutestamentlichen Autoren großflächige Bekehrungen der verbleibenden Juden angekündigt (z.B. Röm 11,25f.). Luther ging nun davon aus, dass sich zahlreiche Juden zum christlichen Glauben bekennen würden, wenn sie nur das reine Evangelium der Reformation hören und verstehen würden. Bisher hätten sie das Christentum abgelehnt, weil Gott sie verstockt habe und weil ihnen lediglich die verfälschte Sicht der katholischen Tradition begegnet sei. Die kirchlichen Lehren und Sitten hätten ihnen keinerlei „Funken von Licht oder Wärme“ erwiesen. Da nun aber „das goldene Licht des Evangeliums“ aufleuchte, bestehe Hoffnung, dass viele Juden „von Herzen zu Christus hingerissen“ würden.12

Zukünftig sollte man die Juden nicht mehr verfolgen und verspotten, sondern sie als gleichberechtigte Menschen behandeln, forderte Luther. Man solle ihnen Arbeit in Landwirtschaft und Handwerk geben und ihre Isolation aufheben. Dann erwartete Luther eine Umkehr zahlreicher Juden zum christlich-reformatorischen Glauben.

Im sogenannten Talmud-Streit stellte sich Luther erst einmal ganz hinter Johannes Reuchlin (1455-1522). Gegen die allgemeine Diffamierung des Judentums, die damals insbesondere durch die Publikationen Johannes Pfefferkorns (1469-1523) angeheizt worden war, plädierte Reuchlin für einen freundschaftlichen Umgang mit Juden. Immerhin verdanke die Christenheit ihnen die sorgsame Überlieferung des Alten Testaments. Auch solle man den Talmud erst gründlich studieren, ehe man das Judentum pauschal aburteile. Dieser Sichtweise stimmte Luther voll und ganz zu. Außerdem wies er darauf hin, dass christliche Theologen durch den Kontakt mit Juden wertvolle Kenntnisse der hebräischen Sprache und der alttestamentlichen Bräuche erhalten könnten.13

Luther wandte sich gegen die Hetze seiner Zeit, Juden begingen Ritualmorde.

In seiner vielbeachteten Schrift Dass Christus ein geborener Jude sei (1523) kritisierte er die damals weit verbreiteten Berichte über jüdische Ritualmorde und Hostienschändungen als Legenden und Gerüchte. Nie konnte in einem Prozess eine solche Tat zweifelsfrei nachgewiesen werden. Verurteilungen erfolgten zumeist aufgrund von Zeugenaussagen, die nach langwieriger Folter gemacht wurden. Künftig solle man „nicht das Gesetz des Papstes, sondern christliche Liebe“ an Juden üben.

„Unsere Narren, die Päpste, Bischöfe, Sophisten und Mönche, die groben Eselsköpfe, haben bisher mit den Juden verfahren, daß, wer ein guter Christ wäre gewesen, hätte wohl mögen ein Jude werden. Und wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte solche Tölpel und Grobiane gesehen den Christenglauben regieren und lehren, so wäre ich eher eine Sau geworden als ein Christ. – Denn sie haben mit den Juden gehandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen[…] keine christliche Lehre noch Leben hat man ihnen bewiesen, sondern sie nur der Päpsterei und Möncherei unterworfen […] die Juden [sind] von dem Geblüt Christi, wir [Christen] sind Schwäger und Fremdlinge, sie sind Blutsfreunde, Vettern und Brüder unseres Herrn […] man muß […] christliche Liebe an ihnen üben und sie freundlich annehmen, mit lassen erwerben und arbeiten, damit sie Gelegenheit und Raum gewinnen, bei und um uns zu sein, unsere christliche Lehre und Leben zu hören und zu sehen.“14

In seiner genannten Ausarbeitung Dass Christus ein geborener Jude sei (1523) zeichnete Luther das irdische, von jüdischer Kultur geprägte Leben Jesu nach. Damit wollte er gleichermaßen die historische Glaubwürdigkeit der biblischen Berichte hervorheben, als auch Juden für Jesus Christus gewinnen.15 Mit zahlreichen Hinweisen auf die Erfüllung alttestamentlicher Prophetie in den Evangelien wollte Luther den Juden nachweisen, dass Jesus Christus der von ihnen erwartete Messias sein müsse. Diese Sicht begründet er beispielsweise mit der Deutung von Gen 3,15; Gen 22,18; 2Sam 7,12 und Jes 7,14 als Weissagungen auf den Gottessohn und die Jungfrauengeburt. Außerdem seien die Juden als Volk besonders von Gott gesegnet und erwählt, schreibt Luther. Sie seien mit der Bewahrung und Überlieferung des Wortes Gottes betraut. Darum müssten ihnen auch die Christen dankbar sein, wenn sie das Alte Testament heranzögen. Juden, die die Aussagen ihrer Propheten ernstnehmen und den Anspruch des Neuen Testamentes prüfen, müssten Jesus Christus als ihren verheißenen Messias erkennen.16

Viele Juden waren für Luthers frühe Schriften dankbar.

Von den meisten Juden wurde Luthers Dass Christus ein geborener Jude sei begeistert aufgenommen. Holländische Juden übersandten ein Dankschreiben nach Wittenberg.17 Verfolgte spanische Juden schöpften neue Hoffnung. Der italienische Jude Abraham ben Mordechai Farissol (1451-1525) hielt Luther für einen von Gott angekündigten Vorläufer des Messias.18 Aufgrund seiner hebräischen Studien und seiner massiven Kritik an der katholischen Kirche verbreitete sich sogar das Gerücht, Luther sei im Geheimen bereits Jude geworden. Allgemein war man der Überzeugung, dass sich durch Luther das Verhältnis zwischen Juden und Christen deutlich verbessert habe.19

Luthers katholische Gegner hingegen warfen ihm seine Judenfreundschaft vor. Er ermutige Muslime und Juden, über die Christen herzufallen. Weil er das Judentum verharmlose, sei Luther mitverantwortlich für die mutmaßlich von Juden verübten Morde, Kirchenschändungen und Überfälle auf Christen. Wenn man dem Judenvater Luther nicht Einhalt gebiete, so die absurden Spekulationen Johannes Ecks (1486-1543), würden die Juden schon bald alle Christen in Europa unterjochen.

Der verbitterte Luther

Durchaus gab es auch vereinzelte Bekehrung von Juden, die mit der reformatorischen Lehre in Berührung kamen. Beispielsweise ließ sich 1519 der Rabbiner Jakob Gipher taufen, nachdem er Luthers Predigten gehört hatte. Später lehrte er dann Hebräisch in Wittenberg.20 Die von Luther erwartete, große Erweckungswelle unter der jüdischen Bevölkerung aber blieb aus. Das enttäuschte und verbitterte den Reformator zunehmend.

Die größere Freiheit der Juden in evangelisch geprägten Gegenden führte unter anderem dazu, dass einige Christen mit jüdischen Ideen zu sympathisieren begannen. In katholischen Regionen hingegen war die jüdische Missionierung von Christen bei hoher Strafe streng verboten. Durch die neuen Entwicklungen kamen Luther immer stärkere Zweifel, ob seine Offenheit doch der falsche Weg wäre.

Anfang der 1530er Jahre entstand in Mähren eine Gruppe von Sabbatern, die ihre Gottesdienste am Sabbat und nicht mehr am Sonntag halten wollten. Außerdem kam es durch jüdische Argumente in einigen Gemeinden zu Diskussionen über die Trinität. Ungewollt stärkte die Reformation auch die messianische Erwartung und das Selbstbewusstsein vieler Juden.

In seiner 1538 veröffentlichten Schrift Wider die Sabbather warnte Luther vehement davor, zu den Geboten des Alten Testaments zurückzukehren. Den mährischen Juden unterstellte er einen Missbrauch ihrer Freiheit und forderte bei jüdischen Missionsversuchen eine bedingungslose Ausweisung.

Drei Jahre vor seinem Tod war Luther zu den schlimmsten Vorurteilen über die Juden zurückgekehrt.

Drei Jahre vor seinem Tod war Luther zu den schlimmsten Vorurteilen über die Juden zurückgekehrt. In seiner Schrift Von den Juden und ihren Lügen (1543) wirft er ihnen vor, Christen töten und beherrschen zu wollen. Juden seien „1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen“; sie seien „rechte Teufel“, die er am liebsten eigenhändig umbrächte.21 Durch ihre Kreditgeschäfte seien sie verantwortlich für die Verarmung vieler Christen.22 Wahrscheinlich sei doch etwas dran an den Gerüchten über jüdische Brunnenvergifter, Kindermörder und Kirchenschänder, äußerte Luther nach seiner weltanschaulichen 180-Grad-Wende.23

Privatleute sollten sich trotzdem friedlich den Juden gegenüber verhalten. Im Alltag sollten Christen den Kontakt mit Juden allerdings weitest möglich vermeiden. Die Herrscher aber forderte Luther auf, massiv gegen die Juden vorzugehen. Sie sollten Synagogen und Judenschulen verbrennen, ihre Häuser zerstören und ihnen die Gebetbücher und Talmudschriften wegnehmen. Außerdem sollte man ihnen ihren zu Unrecht erworbenen Reichtum wieder wegnehmen und sie zu harter körperlicher Arbeit zwingen. Wenn nötig, könne man sie auch vertreiben.24 Es sei allerdings falsch, sie zu töten oder ins Gefängnis zu sperren.

In seiner Argumentation stützte sich Luther wesentlich auf die zweifelhaften Angaben aus Antonius Margarithas (1492-1542) damals verbreitetem Buch Der ganze jüdische Glaube (1531).25 Mit seiner Aufforderung, Juden die bürgerlichen Rechte zu entziehen und sie nötigenfalls zu vertreiben, orientierte er sich an den Forderungen des einflussreichen katholischen Juristen Ulrich Zasius (1461-1535).26

Melanchthon distanzierte sich öffentlich von Luthers polemischen Angriffen gegen die Juden.

In seiner letzten Predigt am 15. Februar 1546 widerholte Luther noch einmal seine judenfeindlichen Forderungen. Nur wenige evangelische Fürsten orientierten sich allerdings in ihren politischen Entscheidungen an Luthers Ausführungen. Auch von den anderen Reformatoren wurde Luthers judenfeindliche Kehrtwende nicht einhellig mitgetragen. Auf dem Ständetag in Frankfurt am Main 1539 kritisierte Philipp Melanchthon (1497-1560) beispielsweise die Hinrichtung von 38 Juden wegen eines vorgeblichen Hostiendiebstahls. 1544 distanzierte er sich öffentlich von Luthers polemischen Angriffen auf die Juden. Urbanus Rhegius (1489-1541) setzte sich für eine gewaltlose Mission unter Juden ein.27 Im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts berief man sich für die friedliche Judenmission vor allem auf Luthers Dass Christus ein geborener Jude sei.28

Andere evangelische Theologen der Reformationszeit teilten Luthers judenkritische Perspektive. In seiner Kurzen Unterrichtung (1536) diffamierte Paul Staffelsteiner die Juden als „Heuchler und Blender“. Wolfgang Rus veröffentlichte 1536 ein judenfeindliches Buch mit dem Titel Altväter / des israelitischen Volks / nämlich woher die Synagoge, das Volk Gottes / oder die Kirche ihren Ursprung habe. Martin Bucer (1491-1551) und Ambrosius Blarer (1492-1564) forderten gewisse Benachteiligungen und Beschränkungen der Juden statt ihrer völligen Vertreibung.

Nationalsozialistischer Luther-Missbrauch

Erst die kirchlichen Antisemiten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beriefen sich wieder auf Luthers judenfeindliche Schriften aus dessen letzter Lebensphase. Vereinzelt beriefen sich nationalistische Protestanten wie Heinrich von Treitschke (1834-1896) und Theodor Fritsch (1852-1933) zur Begründung ihrer antisemitischen Thesen („Die Juden sind unser Unglück“) auf Luthers Aussagen.29 Die meisten evangelischen Theologen aber betrachteten Luthers judenkritische Spätschriften als untypisch für den Reformator. Sie widersprächen dem Grundanliegen lutherischen Glaubens. Selbst viele jüdische Gelehrte wie Leopold Zunz (1794-1886) und Hermann Cohen (1842-1918) betrachteten Luther als „Überwinder des Mittelalters“ und Anwalt für die Anerkennung der Juden.30

Unter der Herrschaft des National­sozialismus wurden Luthers judenfeindliche Aussagen ideologisch ausgeschlachtet und missbraucht.

Bis in die 1930er Jahre berief man sich in nationalistischen Kreisen nur sehr selten auf Luther. Zu den wenigen diesbezüglichen Publikationen gehörte Karl-Otto von der Bachs Luther als Judenfeind (1931). Das NSDAP-Blatt Der Stürmer vereinnahmte ab 1923 isolierte Zitate Luthers für seine antisemitische Hetze.31 Erst unter der Herrschaft des Nationalsozialismus ab 1933 wurden die judenfeindlichen Aussagen aus Luthers letzten Lebensjahren ideologisch ausgeschlachtet und unhistorisch für die eigene Stimmungsmache gegen das Judentum missbraucht.32 Auch die rassistischen Deutschen Christen beriefen sich nun auf den Reformator. Der nationalsozialistische Stürmer unterstellte, evangelische Theologen hätten bisher Luthers „geradezu fanatischen Kampf gegen das Judentum“ bewusst „totgeschwiegen“. In anderen Artikeln wurden evangelische Pastoren aufgefordert, mehr über Luthers Verurteilung des Judentums sprechen. Der Reformator müsse als „unerbittlicher und rücksichtsloser Antisemit“ betrachtet werden. Er habe erkannt, dass Christus nichts mit dem „jüdischen Mördervolk“ zu tun haben könne.33

Das Geschichtsbuch für höhere Schulen (1941) kommentierte Lutherzitate von 1543: „Keiner vor und nach ihm hat die Juden, diese ‚leibhaftigen Teufel‘, mit solcher elementaren Wucht bekämpft wie er…“34 Bischof Martin Sasse interpretierte in seinem weit verbreiteten Pamphlet Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen! (1938) die nationalsozialistische Judenverfolgung als direkte Erfüllung von Luthers Ideen. Zwischenzeitlich hatten viele evangelische Theologen die staatlich verordnete Luther-Interpretation übernommen. Die von elf evangelischen Landeskirchen unterzeichneten Leitlinien (1939) behaupteten, der „artgemäße“ Nationalsozialismus setze Luthers Reformation politisch fort.35

Im Grunde genommen bezogen sich die Nationalsozialisten mit ihrem ideologisch- militanten Antisemitismus vollkommen zu Unrecht auf Luther. Sie waren nie wirklich an seiner Theologie interessiert, sondern instrumentalisierten diesen weltbekannten Deutschen lediglich für ihre eigene Propaganda. Mit den wesentlich theologischen Überlegungen Luthers zum Judentum wollten sie nichts zu tun haben.36

Viele Theologen der Bekennenden Kirche wehrten sich gegen die einseitige und unhistorische Vereinnahmung und Uminterpretation Luthers. Nach dem Ende des Nationalsozialismus distanzierte sich die Evangelische Kirche vehement vom Missbrauch der Lutherzitate zur Unter­mauerung anti­semitischer und na­tio­nalistischer Ideologe während des Dritten Reiches.37

Das Haar in der Suppe

Natürlich kann man Luther ganz begründet seine unakzeptablen judenfeindlichen Äuße­rungen vorwerfen. Diese Aussagen sind im Lebenswerk Luther aber eher Rand­erscheinungen. Seine nachhaltige Be­deutung liegt in seiner berechtigten Kritik an katholischen Traditionen, an kirchlichem Amtsmissbrauch und an der neuen Betonung von Gnade, Glauben, Bibel und Christus als absolute Zentren christlichen Glaubens. Zu Recht in Erinnerung bleibt er als Christ, der bereit war, trotz massiven politischen Drucks Gott gehorsam zu sein und seinem Gewissen zu folgen. Außerdem eröffnete Luthers Bibelübersetzung erstmals einem großen deutschsprachigen Publikum einen Zugang zum Wort Gottes.

In seinen Ausführungen ging es Luther nicht so sehr um die konkret im Deutschen Reich lebenden Juden, mit denen er fast nichts zu tun hatte. Er beschäftigte sich vielmehr mit den Juden als theologische Größe; Juden, die im Neuen Testament als Feinde Jesu Christi (z.B. Joh 5, 16.18; 7,1) und Verfolger der ersten Gemeinde beschrieben werden (z.B. Apg 9, 23.29; 13,50). Auch identifizierte er Juden wie Katholiken als typische Repräsentanten einer ungeistlichen Werksgerechtigkeit und als Feinde des wahren Evangeliums, die darauf aus wären, evangelische Christen vom wahren Glauben abzubringen.

So tragisch das in 500 Jahren historischem Abstand auch erscheint, war Luthers Judenfeindschaft damals der gesellschaftlich anerkannte Normal­­fall. Eher erstaunt, dass sich der Reformator über längere Zeit für die Rechte der europäischen Juden einsetzte und die verbreiteten Gräuelgeschichten mutig zurückwies.


  1. Vgl. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, S. 357f. 

  2. Vgl. Markus J. Wenninger: Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert, Böhlau Verlag, Wien / Köln 1981, S. 159 f

  3. Vgl. Fritz Backhaus: Die Hostien­schän­dungs­prozesse von Sternberg (1492) und Berlin (1510) und die Ausweisung der Juden aus Mecklenburg und der Mark Brandenburg, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte Bd. 39 (1988), S.7-26. 

  4. Vgl. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, V&R, Göttingen 1995, S. 357f. 

  5. Vgl. Guido Kisch: Erasmus‘ Stellung zu Juden und Judentum, Mohr/Siebeck Verlag, Tübingen 1969, S. 9–12 

  6. Vgl. Michael Ley: Holokaust als Menschenopfer. Vom Christentum zur politischen Religion des Nationalsozialismus, Lit Verlag, Münster 2002, S. 38. 

  7. Vgl. Stefan Schreiner: Was Luther vom Judentum wissen konnte, in: Kremers Hrsg: Die Juden und Martin Luther. Martin Luther und die Juden. Geschichte, Wirkungsgeschichte, Herausforderung. 2. Aufl., Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1987, S. 71f. 

  8. Vgl. Thomas Kaufmann: Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer his­to­rischen Kontextualisierung, 2. durchg. Aufl., Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2013, S. 34-36. 

  9. Vgl. Klaus Wengst: „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Kohlhammer, Stuttgart 2008, S. 25–31. 

  10. WA V, S. 427ff.;Hans-Martin Barth: Die Theologie Martin Luthers: eine kritische Würdigung. Gütersloher Verlagshaus, 2009, S. 419. 

  11. Vgl. Karl Heinrich Rengstorff / Siegfried von Kortzfleisch Hrsg.: Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen, Bd 1, Klett Verlag, Stuttgart 1968, S. 383. 

  12. Vgl. Ernst L. Ehrlich: Luther und die Juden, in: Kremers Hrsg: Die Juden und Martin Luther. Martin Luther und die Juden. Geschichte, Wirkungsgeschichte, Herausforderung. 2. Aufl., Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1987, S. 93. 

  13. Vgl. Reinhold Mayer: Zeit ist’s. Erneuerung des Christseins durch Israel-Erfahrung, Bleicher Verlag, Gerlingen 1996, S. 202; 212f. 

  14. Martin Luther: Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei (WA 11,336,22-36). 

  15. Vgl. Peter von Osten-Sacken: Martin Luther und die Juden – neu untersucht anhand von Anton Margarithas ‚Der gantz Jüdisch glaub‘ (1530/31), Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2002, S. 93–97. 

  16. Vgl. WA 11, S. 315,14ff.  

  17. Vgl. Martin Stöhr: Martin Luther und die Juden, in: Kremers Hrsg: Die Juden und Martin Luther. Martin Luther und die Juden. Geschichte, Wirkungsgeschichte, Herausforderung. 2. Aufl., Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1987, S. 93 

  18. Vgl. H. H. Ben-Sasson: The Reformation in Contemporary Jewish Eyes, Ahva Press, Jerusalem 1970 S.26. 

  19. Vgl. Andreas Pangritz: Zeitgenössische jüdische Reaktionen auf Luther und die Wittenberger Reformation, http://www.imdialog.org/bp2011/04/luther_pangritz.pdf. 

  20. Vgl. Thomas Kaufmann: Luthers „Judenschriften“. a.a.O. S. 37ff. 

  21. Vgl. Peter von Osten-Sacken: Martin Luther und die Juden – neu untersucht anhand von Anton Margarithas ‚Der gantz Jüdisch glaub‘ (1530/31), Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2002, S. 131–134. 

  22. Vgl. Wanda Kampmann: Deutsche und Juden. Die Geschichte der Juden in Deutschland vom Mittelalter bis zum Beginn des ersten Weltkrieges, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 46. 

  23. Vgl. Reinhold Mayer: Zeit ist’s. Erneuerung des Christseins durch Israel-Erfahrung, Bleicher Verlag, Gerlingen 1996, S. 208f. 

  24. Vgl. WA 53, S. 520–526. 

  25. Vgl. Thomas Kaufmann: Konfession und Kultur: Lutherischer Protes­tan­tismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2006, S. 123–127; 133. 

  26. Vgl. Guido Kisch: Zäsius und Reuchlin: eine rechtsgeschichtlich-vergleichende Studie zum Toleranzproblem im 16. Jahrhundert, Jan Thorbecke Verlag, Pforzheim 1961, S. 12f. 

  27. Vgl. Paul Gerhard Aring: Judenmission, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 17, Walter de Gruyter Verlag, Berlin / New York 1988, S. 325f. 

  28. Vgl. Paul Gerhard Aring: Christen und Juden heute – und die „Judenmission“? Judenmission in Deutschland, dargestellt und untersucht am Beispiel des Protestantismus im mittleren Deutschland, Haag und Herchen Verlag, Frankfurt a.M. 1987, S. 51-154. 

  29. Vgl. Peter von der Osten-Sacken: Martin Luther und die Juden – neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31). Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2002, S. 134. 

  30. Vgl. Christian Wiese: Gegenläufige Wirkungsgeschichten: Jüdische und antisemitische Lutherlektüren im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Harry Oelke / Wolfgang Kraus / Gury Schneider-Ludorff / Axel Töllner / Anselm Schubert Hrsg.: Martin Luthers „Judenschriften“. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2016, S. 107–137. 

  31. Vgl. Johannes Brosseder: Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten, Hueber Verlag, München 1972, S. 182–192. 

  32. Vgl. Peter von der Osten-Sacken: Martin Luther und die Juden – neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31). Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2002, S. 275. 

  33. Vgl. Johannes Brosseder: Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten, Hueber Verlag, München 1972, S. 182–192. 

  34. Zitiert bei: Thomas Kaufmann: Luthers „Judenschriften“. a.a.O. S. 144. 

  35. Vgl. Peter von der Osten-Sacken: Martin Luther und die Juden – neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31). Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2002, S. 280f. 

  36. Vgl. Uwe Siemon-Netto: Luther als Wegbereiter Hitlers? Zur Geschichte eines Vorurteils. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1993. 

  37. Vgl. Wolfgang Kraus: „Luther und die Juden“ in den kirchenpolitischen Entwicklungen, in: Harry Oelke / Wolfgang Kraus / Gury Schneider-Ludorff / Axel Töllner / Anselm Schubert Hrsg.: Martin Luthers „Judenschriften“. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2016, S. 289–306.