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Glaube und psychische Erkrankung

Viel stärker als in Deutschland sind Christen in den USA misstrauisch, wenn es um die ärztliche Behandlung psychischer Erkrankungen geht. Allerdings gibt es die Unsicherheit im Angesicht der manchmal verstörenden Krankheitsbilder auch hier. Durch den Einfluss der sogenannten Biblischen Seelsorge, bei der einige Vertreter lehren, dass es keine psychischen Erkrankungen gebe, sondern nur Fehler im Denken aufgrund von Sünde, gibt es auch in Deutschland eine Diskussion, zu der dieser Beitrag einzelne Aspekte beitragen kann. Michael Horton sieht in der Ablehnung von psychischen Krankheiten ein theologisches Ungleichgewicht und einen zugrunde liegenden Irrtum, dem er entgegentritt.

Laut einer Studie der „LifeWay Research“1 von 2013 stimmen ein Drittel der Amerikaner zu, dass Gebet und Bibelstudium allein psychische Krankheiten überwinden können. Innerhalb der Evangelikalen meinen das sogar fast die Hälfte der Befragten (48%).

Wie ihre Nachbarn teilen auch Christen die Ansicht, dass Menschen, die an Krebs, AIDS, Migräne oder Kinderlähmung leiden, immer noch für ihr Handeln Verant­wortung tragen. Ihr Leiden berechtigt sie nicht zu Gehässigkeit, Selbstverachtung oder schlechter Behandlung anderer. Aber wir zeigen doch Verständnis. Mit ein wenig Sympathie stellen wir fest, dass es ihnen auf eine Weise schlecht geht, die nicht auf ihre körperlichen Krankheiten beschränkt ist. Zuerst wollen wir ihren aktuellen Schmerz lindern und dann, so gut es geht, die Auswirkungen ihrer Erkrankungen. Wir suchen nach jeder Möglichkeit einer medizinischen Behandlung für sie.

Wenn ein Bruder oder eine Schwester Krebs, Diabetes oder einen Schlaganfall hat, beten wir, dass Gott den Ärzten und Krankenschwestern Weisheit und „Befä­hi­­gung“ schenken möge, ihr Leiden zu lindern. Damit haben wir erkannt, dass es einen wichtigen Ort für die Sorge um ihren Körper und ihre Seele gibt, sowohl was die medizinischen Bedürfnisse an­geht, die weit über die Fähigkeiten einer Gemeinde hinaus gehen, als auch für ihre Beziehung mit Gott.

Aber wenn es um psychische Erkran­kungen geht, fällt es einigen schwer zu glauben, dass es sich überhaupt um ein medizinisches Problem handelt. Viele von uns sind mit der Meinung aufgewachsen, dass psychische Krankheiten irgendwie „nur in deinem Kopf“ da sind und damit nicht wirklich real wären, zumindest nicht so wie ein gebrochener Arm. Diese Tendenz spiegelt nicht nur einen Mangel an Anerkennung für den großen Fortschritt in medizinischer Diagnostik und Behandlung von psychischen Störungen wieder, sondern auch eine Ansammlung von theologischen Miss­verständnissen. Ich stelle einige einführende Thesen auf, die bei diesem Thema in Betracht gezogen werden sollten.

These 1: Wir sind keine in Körper gesperrten Seelen, sondern Körper-Seele Geschöpfe

Die aktuelle Gehirnforschung hat den bemerkenswerten Umfang gezeigt, in dem unsere Gedanken, Gefühle, Einstellungen und Handlungen mit unserem Körper verbunden sind. Das gilt besonders für unser Gehirn und die chemischen Interaktionen im Körper. Das geht soweit, dass kein Platz mehr für die Seele bliebe, wenn wir uns selbst auf Objekte solcher Beobachtungen und wiederholbarer Experimente reduzieren lassen wollten. Die Tatsache aber, dass Körper und Geist so verflochten sind, ist auch elementar für die biblische Sicht der Menschheit.

„Verstand über die Materie“ verrät eher einen Heiden als eine biblische Sicht auf den Menschen. Wir kennen Geschichten aus einer sogenannten christlichen Wissen­schaft oder aus dem Raum der charismatischen Bewegung, die, in Erwartung einer wundersamen Heilung, mit fatalen Folgen – eine medizinische Behandlung für eins ihrer Kinder ablehnten. Obwohl wir eher traditionellen Christen über solche Dumm­heit den Kopf schütteln, unter­scheiden sich viele evangelikale Christen (in den USA) nur im Ausmaß. Es ist schon erstaunlich, dass zu einer Zeit, in der viele, auch evangelikale Gemeinden, das Evan­gelium zu einer Form von persönlicher The­ra­pie verdreht haben, Psychiatrie und Psychotherapie selbst als etwas Be­droh­liches angesehen werden.

Nach der Heiligen Schrift ist die Realität nicht unterteilt in Geist und Materie, sondern zwischen Gott und allem anderen. Da ist ein dreieiniger Schöpfer und seine Schöpfung. Engel und menschliche Seelen sind nicht göttlicher als Antilopen oder Fingernägel. In der Ganzheit unserer Existenz sind wir nicht Gott und trotzdem sind wir wie Gott: Geschaffen in seinem Ebenbild – das ist in wahrer Heiligkeit und Gerechtigkeit.

Weil wir psychosomatische Wesen sind, d.h. eine Körper-Seele-Einheit, können körperliche und geistige Bereiche in mancher Hinsicht unterschieden werden, aber sie dürfen nicht einfach getrennt werden. Wer an einer Rückenmarksver­letzung leidet, wird besonders anfällig sein für Phasen von seelischer Nieder­ge­­schla­­gen­heit, Zweifel und Wut. Das gleiche gilt aber auch für seelische Erkrankungen. In einem Extrem reduziert eine naturalistische Perspektive den Menschen auf eine große Anzahl von physisch-chemischen Ereignissen. Auf der anderen Seite will eine übertrieben supranaturalistische Reaktion alle psychisch-chemischen Probleme nur als geistliche Nöte behandeln. Gute Theologie ist nicht genug, aber schlechte Theologie tötet – buchstäblich, körperlich und auch geistlich.

Es ist daher eine biblische Sicht des Menschen, die uns darauf aufmerksam macht, psychische Traumata nicht einfach als Illusion zu werten oder nur die geistliche und moralische Verantwortung anzusehen. Nach einem Skiunfall mögen wir zur Notaufnahme eilen, aber wenn es zu seelischen Krankheiten kommt, sind wir zurückhaltender. Wir fragen uns, ob psychische Krankheiten auf einer Stufe mit Herzleiden und Rückenmarksverletzungen stehen können. Wir sind zu Recht skeptisch aufgrund eines wissenschaftlichen Naturalismus, der als „reduktionistischer Physikalismus“ bekannt ist, und der geistliche und sogar moralische Faktoren aus unserem Handeln ausscheidet. Aber wir sind dadurch in der Gefahr, die zahlreichen wissenschaftlichen Belege dafür zu verwerfen, die zeigen, welch große Rolle die chemischen Vorgänge in unserem Gehirn in unserem Leben spielen. Sie sind aber nur für einen Körper-Geist Dualismus bedrohlich, der mehr mit heidnischer Philosophie als mit dem Apostel Paulus zu tun hat. Das „wahre Du“ ist nicht nur dein Geist, sondern deine Körper-Geist Einheit: Unterscheidung ohne Trennung.

Während der reduktionistische Physika­lismus im glatten Widerspruch zur Hei­ligen Schrift steht und es ihm zudem auch an wissenschaftlichen Beweisen mangelt, kann uns die biblische Sicht des Menschen als Körper – Geist Einheit dazu helfen, zu akzeptieren, dass jedes geistliche Problem eine körperlich-materielle Seite hat und umgekehrt genauso.

These 2: Sünde ist ein Zustand, nicht nur Taten

Pastor zur Herausforderung psychischer Krankheit in der Gemeinde: „Gelegentlich ist die wichtigste Frage bei einem Familienbesuch oder einem Seelsorgegespräch: ‚Nimmst du deine Medikamente noch?‘ Wenn die Person es nicht tut, hilft es, viel von ihrem Verhalten zu verstehen, und es hilft mir zu wissen, wie ich durch die verbleibende Zeit unseres Gesprächs navigiere.“

Laut einer „Baylor Studie“ aus dem Jahr 2008 gaben 36 Prozent der psychisch Kranken in den USA, die regelmäßig eine Gemeinde besuchen, an, dass ihnen von der Gemeindeleitung gesagt wurde, dass ihre Krankheit eine Folge von Sünde sei; 34 Prozent gaben an, dass ihnen gesagt wurde, es wären Dämonen ursächlich; 41 Prozent hörten, dass sie gar keine psychische Krankheit hätten; und 28 Prozent wurden sogar aufgefordert, ihre Medikamente abzusetzen.2 Sogenannte „Befreiungsdienste“ legten sich oft auf diesen Punkt fest. Aber viele glauben auch, dass Dämonen für „generationenübergreifende Flüche“ verantwortlich seien, die dann von Generation zu Generation weitergegeben würden.

Diese erstaunliche Perspektive ist genauso theologisch irrig wie sie medizinisch gefährlich ist. Sie stammt aus einer theologischen Tradition, die Sünde auf bestimmte Dinge reduziert, die du entweder tun darfst oder nicht – oder du hast vielleicht auch eine „Belastung“ durch generationenübergreifende dämonische Aktivitäten geerbt. In solchen Sichtweisen findet sich einfach keine Anerkennung für das Gewicht, das die Bibel unserem sündigen Zustand gibt.

Gute Theologie ist nicht genug, aber schlechte Theologie kann töten – buchstäblich, körperlich und geistlich.

In einer biblischen Perspektive ist Sünde nicht einfach etwas, was wir tun oder nicht tun. Das entspringt vielmehr aus einem sündigen Zustand. So wie das ganze Selbst des Menschen nach Gottes Ebenbild geschaffen ist, so ist auch das ganze Selbst in Adam gefallen. Folglich sind wir Sünder und solche, gegen die gesündigt wird; wir sind Täter und Opfer. Wir sind gefangen im Strudel des Lebens auf dieser Seite des Fluches der Sünde. Viele der Auswirkungen, die wir erleben, beruhen nicht auf einer bestimmten Sünde, einer dämonischen Attacke oder etwas anderem, für das wir persönlich verantwortlich sind. Das soll nicht bedeuten, dass wir selbst nicht für unsere Sünde verantwortlich wären, aber der sündige Zustand ist in seinen Dimensionen viel größer als das.

Doch selbst in konservativen Gemeinden, in welchen extrem pfingstliche Ansichten gemieden werden, gibt es häufig eine Tendenz, körperliches Leid mit bestimmten Sünden zu verbinden. Wir können dann sein, wie die Seelsorger Hiobs, die annahmen, dass er irgendetwas getan hätte, dass er diese Unglücke verdient hat. Wenn er seine Sünden nur aufspüren und bekennen würde, dann würde Gott sein Schicksal zum Guten wenden. Aber weder Hiob noch seine Freunde hatten Zugang zum ersten Kapitel des Buches, in dem Gott dem Satan erlaubt, Hiob zu testen, sodass etwas Größeres als Gesundheit, Wohlstand und Glück zum Vorschein kommen würde. Satan beabsichtigte etwas Böses, aber Gott beabsichtigte es zum Guten. Hiobs Leiden brachte ihm das Bewusstsein, das er in Kapitel 19,25-27 zeigt:

Doch ich weiß, dass mein Er­lö­ser lebt, er steht am Schluss über dem Tod. Nachdem man meine Haut so sehr zerschunden hat,  werde ich auch ohne mein Fleisch Gott schauen. Ihn selbst werde ich sehen, ja, meine Augen schauen ihn an; er wird kein Fremder für mich sein. Ich sehne mich von Herzen danach. (NEÜ)

Pastor zur Herausforderung durch psychische Erkrankung in der Gemeinde: „Ich bin kein Psychiater oder Psychologe. Ich bin ausgebildet zum Pastor, Lehrer und geistlichen Seelsorger. Ich kann dir nur sagen, was die Bibel sagt und hoffentlich etwas Weisheit weitergeben. Dies sind die Beschränkungen meiner Ausbildung und meiner Kompetenz. Das Falsche zu sagen, ist furchterregend.“

Weder seine Freunde noch ein moderner Naturalismus wären in der Lage, den wahren Sinn von Hiobs Leiden nur anhand der sichtbaren Daten zu erklären. Bei unserem eigenen Leid haben wir auch keinen Zugriff auf das „erste Kapitel“. Was wir kennen, sind die natürlichen Ursachen und wir kennen die göttliche Offenbarung, dass Gott mit allen Dingen zu unserem Besten wirkt, weil er schon durch den Tod Jesu Christi über die Sünde und den Tod triumphiert hat.

Die Verbindung von Leid mit speziellen Sünden, die durch ein Mehr an Glauben und Gehorsam beseitigt werden, kombiniert mit einem Geist-Körper Dualismus, der psychische Krankheiten nur einer Seite zuordnet, ist giftig – beides: geistlich und körperlich. Wenn die Psychologie noch mehr als die Psychotherapie als Disziplin offensichtlich Neigungen zu einem reduk­tionistischen Physikalismus widerspiegelt, dann neigen viele konservative Gemeinden zu einem reduktionistischen Spiritualismus oder Moralismus. Das führt uns zum nächsten Punkt.

These 3: Gott wirkt durch Mittler oder göttliche Fügungen (das bezeichnen Theologen als allgemeine Gnade / Heilslehre), nicht einfach durch Wunder (oder errettende Gnade). Wissenschaft ist ein Geschenk Gottes, wenn sie ihre eigenen Grenzen erkennt.

Wir werden zu Menschen mit Krebs nie einfach sagen: „Bete nur mehr und lies mehr in der Bibel.“ Warum glaubt dann die Hälfte der Evangelikalen, dass psychische Krankheiten nur durch mehr Gebet und Bibelstudium geheilt werden können?

Traditionell hat die Christenheit die Bedeutung von Sekundärursachen unterstrichen. Das sind z.B. natürliche Ursachen, durch die Gott jedes Detail der menschlichen Existenz dirigiert. Gott handelt normalerweise nicht sofort und direkt, sondern indirekt durch sekundäre Ursachen. Es ist interessant, dass wir in 1Mose 1 und 2 nicht nur die direkten Anordnungen finden „Es werde …“ gefolgt von dem Bericht „und es ward…“, sondern auch den Befehl, „Die Erde bringe … hervor“. Selbst bei dem mächtigen Handeln der Schöpfung hat Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen (ex nihilo) und auch durch die physischen Elemente und Prozesse gewirkt, die er selbst erschaffen hatte, damit sie dann ihre Fruchtbarkeit hervorbringen. Beides ist Gottes Handeln. Wenn er die Welt in jedem Moment bis jetzt erhält im Sohn und durch den Geist, dann lenkt der Vater normalerweise die natürlichen Prozesse, die er eingerichtet hat, statt dass er als einzige Ursache handelt, so wie er es tat, als er am Anfang alles in die Existenz gerufen hat.

Paradoxerweise teilen viele konservative Christen ein falsches Dilemma mit ihren säkularen Gegnern. Sie meinen, Gott sei entweder offensichtlich und durch Wunder am Werk oder gar nicht.

Paradoxerweise tei­­len viele konser­va­tive Christen mit ihren säkularen Gegnern ein falsches Dilemma: Ent­­weder scheint Gott offensichtlich oder durch Wunder in der Welt aktiv zu sein oder er ist es gar nicht. Als Reaktion gegen eine atheis­tische Pseudo­wis­sen­­schaft riskieren wir eine eigene hyper-supra­na­­tu­­r­a­listische Pseu­­do­­­wissenschaft zu er­schaf­fen. Anstatt die medizinische Wis­­senschaft einfach dem Bereich der natürlichen Ursachen zuzu­ordnen, er­warten beide, Naturalisten und Hyper-Supra­naturalisten, dass ihre Theorien alles erklären könnten. Der Mensch wird entweder auf seinen Körper oder auf seinen Geist reduziert. Dann gibt es entweder natürliche Heilmittel oder übernatürliche Heilmittel. Das ist ein gefährlicher Standpunkt und das Resultat einer falschen theo­lo­gischen Grund­an­nahme.

Was fehlt, ist eine wider­standsfähige Lehre von Gottes erhaltendem Handeln, nach der Gott zu jeder Zeit und in jedem Atom wirkt, auch wenn er es durch untergeordnete Mittel tut. Der Naturalismus behauptet, dass es nichts außer den natürlichen Prozessen gebe; ein Hyper-Supranaturalismus spielt aber die natürlichen Mittel herunter, die Gott nutzt. Dann bleibt nur, Gott allein im übernatürlichen, direkten Eingreifen in der Welt zu erkennen – oder gar nicht.

Es kam uns nicht darauf an, ob Gott durch ein Wunder oder durch exzellente Ärzte und Kranken­schwestern handeln wollte. Er erhörte unser Gebet auf dem zweiten Weg.

Meine Frau und ich beteten, dass Gott unsere Drillinge heilen würde, als sie zu früh mit vielen Komplikationen geboren wurden. Uns kam es nicht darauf an, ob Gott durch ein Wunder oder durch sein erhaltendes Wirken durch exzellente Ärzte und Kranken­schwestern handeln wollte. Wie sich herausstellte, war es letzteres. So oder so: Gott erhört Gebet. Warum kann unser Gebet nicht sein, dass Gott durch Ärzte wirkt, die sich um uns und unsere Lieben kümmern? Ist das weniger Gottes Wirken als das Teilen des Roten Meeres? Unsere Tendenz hier zu zögern – oder sogar zum „Ja“ – verrät eine geringe Meinung über Gottes erhaltendes Wirken, so als wolle man sagen, wenn Gott etwas getan hat, dann bedeutet das notwendig, dass er es nicht durch gewöhnliche Mittel tat, die er selbst geschaffen und geschenkt hat.

Eines der Mittel, die Gott nutzt, um seine Pläne zur Erfüllung zu bringen, ist das Gebet. Und trotzdem ist Gebet keine Magie. Der Reformator Johannes Calvin stellte fest, dass Gott das Resultat unserer Gebete immer auf der Grundlage seiner Liebe und seines weisen Ratschlusses festlegt. Aber wir kennen seine geheimen Pläne nicht und er wirkt gewöhnlich durch natürliche Mittel. So wie Christus selbst in Gethsemane „seinen Blick nicht auf den göttlichen Plan warf, sondern den brennenden Wunsch in die Hände seines Vaters legte, …“ sollten auch wir „durch das Ausschütten unserer Gebete nicht immer versuchen über die Geheimnisse Gottes zu spekulieren“.3 Anstatt zu versuchen Gottes verborgene Absichten zu entschlüsseln, sollten unsere Gebete auf das Gute konzentriert sein, das er über uns offenbart hat. Wir sollten so mutig in unseren Gebeten sein, wie uns die biblischen Vorbilder mehrfach dazu ermutigen. Einmal mehr dominiert das väterliche Bild in Calvins Auslegung: „Wir dürfen die Schwierigkeiten, die uns quälen, an Gottes Brust ausschütten, damit er die Knoten löst, die wir nicht lösen können.“4

These 4: Christus kam, um die Kranken zu heilen, nicht die Gesunden (oder die, die meinen, es zu sein)

„Bete mehr!“ und „Lies mehr in deiner Bibel!“ An sich sind das gute Ratschläge. Aber was jeder leidende Mensch am meisten braucht, sind gute Nachrichten! Wenn du depressiv bist und dir gesagt wird, du solltest einfach mehr auf Gott vertrauen oder du bräuchtest dich nur intensiver mit bestimmten geistlichen Übungen zu befassen, dann wird dich das nur tiefer in dich selbst drängen. Aufgrund deiner Körperchemie bist du – wenn du depressiv bist – aber nicht in der Lage aufzustehen und dich dem Tag zu stellen. Abseits vom Evangelium werden Aufrufe zu mehr Gebet und mehr Bibellesen zu bedrückenden Gesetzen, die uns wegführen vom Sein in Christus. Es ist die Verkündigung des Evangeliums im Wort und im Sakrament, die uns aus uns selbst herausholt, um uns an den Vater aller Gnade zu klammern, die er in seinem Sohn durch seinen Geist offenbart hat. So suchen wir nach dem offenbarten Willen und den offenbarten Absichten Gottes für unser Leben.

Es geht um Folgendes: Gebet und Bibellesen sind keine Therapien, noch weniger Ersatz- oder Alternativlösungen zu einer medizinischen Verordnung. Paradoxerweise zitieren viele Christen die neuesten psychologischen Studien, die die Vorteile des Gebetes hervorheben, während sie zugleich die Not­wendig­keit psychi­a­trischer oder psycho­thera­peu­ti­scher Be­hand­lung herunterspielen wollen. Christliches Gebet bedeutet aber einfach mit Gott, dem Vater, im Sohn und durch den in uns wohnenden Heiligen Geist zu sprechen. Das Lesen der Bibel mag „therapeutisch“ sein, d.h. heilende Wirkung haben, aber nur dann, wenn wir nach etwas darüber hinaus suchen: die Wahrheit über Gott, über uns selbst, unsere Welt, unsere Hoffnungen und Ängste und die Versöhnung mit Gott in seinem Sohn.

Wenn der Fokus auf Christus liegt, der uns im Evangelium verkündigt wird, können wir uns mit ehrlichem Gebet selbst in Gottes Gnade fallen lassen. Wir kommen nicht zu einem Richter oder einem Therapeuten, sondern zu unserem himmlischen Vater, der uns in seinem Sohn angenommen hat. Wir klopfen nicht auf Holz und sprechen dabei einen Wunsch aus. Sondern wir sind Kinder, die zu einem souveränen Gott schreien, der sich um uns sorgt und unseren kraftlosen, halbherzigen und vielleicht unangemessenen Wortschwall mit Liebe, Weisheit und Barmherzigkeit beantwortet.

Johannes Calvin stellte fest:

„Unsere Gebete sind für Gott nur annehmbar, insofern Christus sie mit dem Wohlgeruch seines Opfers besprengt und geheiligt hat.“5

An anderer Stelle sagt er:

„Das rechte und einzige Ziel des Gebetes besteht darin, dass die Verheißungen Gottes an uns wahr werden.“6

So wie das Evangelium der Nährboden des Glaubens ist, so ist der Glaube, „diese unerschütterliche Gewissheit, dass Gott wohlwollend und gütig zu ihnen ist“, die Wurzel aufrichtigen Gebetes.7

These 5: Christus rettet den ganzen Menschen, aber die Heiligung ist ein Prozess, der im jetzigen Leben nicht endet.

Wie die ganze menschliche Person nach Gottes Ebenbild geschaffen ist – weder göttlich noch dämonisch, aber doch vollständig gefallen in Körper und Geist – so wird auch die ganze Person gerechtfertigt und wird jeden Tag nach dem Ebenbild Christi erneuert. Diese Erneuerung ist offensichtlich geistlich. Während der Körper auf dem Weg zum Grab verfällt, wird das „innere Selbst“ Tag für Tag erneuert (2Kor 4,16).

Wir alle würden gerne in einem sicheren Hafen ankern mit einem Optimum an Gesundheit, in dem wir nicht länger mit Sünde kämpfen müssten oder mit den körperlichen und emotionalen Schmerzen des täglichen Sterbens zu tun hätten. Aber unsere Erfahrung zeigt, dass wir einen solchen sicheren Landeplatz weder körperlich noch geistlich erreichen können. Der einzige sichere Hafen ist Christus selbst, der tatsächlich Sünde und Tod überwand, und als unser Mittler für uns an der rechten Seite des Vaters ist, bis er uns körperlich für die ewigen Ruhe auferstehen lässt.

These 6: Der Triumphalismus führt uns zum Absturz; die Theologie des Kreuzes und der Auferstehung gibt uns Glauben, Liebe und Hoffnung.

Hiobs Freunde wurden ebenso sehr von einer Theologie der Herrlichkeit geplagt, wie Hiob an seinen körperlichen Erkrankungen leiden musste. Wie gesagt, der Triumphalismus ignoriert die Realität von Sünde als Zustand. Dann scheint alles einfach erklärt: Gute Menschen leben ein gesundes Leben; wenn du leidest, musst du herausfinden, wo du vor Gott versagt hast.

Aber die Heilige Schrift lehrt uns etwas anderes: Wir sind getauft in Jesus Christus. Was war das Muster seines Lebens? Anstatt den einfachen Ausweg zu wählen – Satans Angebot des sofortigen Ruhmes – wählte er das Kreuz, aber nicht als gleichmütigen Entschluss, sondern aufgrund der „Freude die noch vor ihm lag“. Das ist unsere Rettung (Phil 2,5-8). Durch sein Leiden ist der Stachel des Todes (der Fluch des Gesetzes) entfernt worden (1Kor 15,56-57). Aber wir folgen ihm vom Tod bis zum Sieg. Doch der Sieg über die Schmerzen der Sünde und des Todes liegt nicht auf dieser Seite der Herrlichkeit (Röm 8,18-25).

Pastor zur Herausforderung durch psychische Erkrankung in der Gemeinde: „Ich habe für mein Predigen und die Seelsorge gelernt, von Schmerz und Leiden zu sprechen, die über das hinausgehen, was man sehen, genau benennen und erfolgreich behandeln kann. Manchmal reicht der dunkle Todesschatten weit über die Mitglieder meiner Gemeinde. Ich habe diese Realität anerkannt und sie glauben, dass Jesus sogar dann für sie sorgen kann.“

Eine starke biblische Theologie des Kreuzes und der Auferstehung fixiert unsere Hoffnung auf Christus, der unser Leiden mehr kennt als wir selbst und es tatsächlich überwunden hat. Wir leben in unseren christlichen Familien und in unseren Gemeinden in dieser Zwischenzeit, in der wir warten auf den Tag, an dem wir vollständig – in Körper und Geist – an der Herrlichkeit Christi Sieg teilhaben. Unsere Gemeinden müssen Orte sein, an denen wir darauf zusammen „mit Geduld warten“.

Auf diesem Weg brauchen wir bessere Seelsorge, die in dieser Zwischenzeit das Ausmaß hoch schätzt, in welchem physisches und psychisches Leid tatsächlich erleichtert werden kann. Christen sollen solche Fortschritte als Zeichen von Gottes Vorsehung und mitfühlender Sorge für seine Schöpfung willkommen heißen. Es wird immer einen zentralen Ort für geistliche Seelsorge geben, das ist vor allem der treue Dienst des Predigens, Lehrens, des Feierns der Sakramente, das Gebet und die Jüngerschaft. Aber wie bei einem Kind mit einem gebrochenen Bein kann es sein, dass es zuerst dran ist, einen Menschen in die Notaufnahme zu bringen.

Zuerst erschienen in der Zeitschrift Modern Reformation (Bd.23,4-2014); Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung


  1. http://blog.lifeway.com/newsroom /2013/09/17/half-of-evangelicals-believe-prayer-can-heal-mental-illness 

  2. http://www.baylorisr.org/wp-content/uploads/stanford_perceptions.pdf 

  3. Calvin, Kommentar zu Matthäus 26,39 

  4. Calvin, Kommentar zu Genesis 18,25 

  5. Calvin, Psalmenkommentar zu Ps 20,3 

  6. Calvin, CR 32,231; zitiert nach Wilhelm Niesel, Die Theologie Calvins. 2.Aufl. München 1957: S. 159. 

  7. Calvin, Institutio, 3,20,12.