ThemenKultur und Gesellschaft, Orientierung

Die verzimmerte Moderne

Der Theologieprofessor Siegfried Zimmer will konservative Christen über die Moderne aufklären. Dabei zeigt er allerdings, dass er selbst das Wesen der Moderne kaum verstanden hat. Ankommen in der Moderne hieße für ihn, sich nur noch von Vernunft und Erfahrung leiten zu lassen. Zeitübergreifende biblische Normen sollen keine Geltung mehr haben, sondern kategorisch untergeordnet werden. Dieser Weg ist aber weder sinnvoll noch von der Moderne wirklich gefordert.

Was ist die Moderne? Was ist das Moderne an der Moderne? Wann entstand die moderne Zeit? „Wie soll ich mich als Christ zur modernen Zeit stellen?“ Mit diesen Fragen beschäftigt sich Prof. Siegfried Zimmer in einem Vortrag zum Thema „Das Verständnis der Moderne als ein Schlüssel zum angemessenen Verständnis von biblischen Texten“.1 Die Zuhörer würden in der guten Stunde, so Zimmer, „viele gesunde Erkenntnisse“ gewinnen, ja einen „Bildungsschub bekommen“.

Gleich in der ersten Viertelstunde mangelt es nicht an Kritik der „konservativen“ theologischen Blickrichtung – das ist Zimmers Ausdruck für den evan­ge­likalen Hauptstrom. „Die moderne Bibelwissenschaft ist nicht konservativ“, stellt Zimmer recht kategorisch fest, um gleich darauf irgendwie zu präzisieren: nur eine Minderheit der theologischen Gelehrten ist konservativ und will Dinge „zurückdrehen“. Er selbst habe sich zum Glück aus diesem „Korsett“ des konservativen Denkens herausentwickelt.

Siegfried Zimmer meint, den einzig wahren Standpunkt zur Moderne zu vertreten, aber er scheint sie gar nicht recht begriffen zu haben.

Im Hinblick auf das Thema Moderne lässt Zimmer kein gutes Haar an den Kon­servativen. Die von ihnen verfassten Bücher, die er gelesen hat, sprechen für ihn allesamt „inkompetent“ von der Moderne. Diese wird dort zu schnell abgewertet und als verkopft, rationalistisch und atheistisch dargestellt. Abfall von Gott und Überlegenheitsgefühl des Menschen seien aber nur gewisse Begleiterscheinungen der Moderne, nicht ihr Wesen.

Dieses Bild der Konservativen „stimmt nicht“; es führe zu „einseitigen Stereotypen und Klischees“. Die Moderne sei gekennzeichnet durch ein ganz bestimmtes Phänomen, und dies müsse man genau treffen, andernfalls könne man nicht qualifiziert zur Moderne Stellung nehmen. Zimmer kritisiert vor allem, dass Konservative sich zu schnell auf die Postmoderne, also die Nach-Moderne, stürzen, ohne dass sie die Moderne bewältigt hätten. „Bibelschullehrer reden dauernd von der Postmoderne“, und die „halbgebildeten Bücher im christlichen Bereich“ springen gleich in die Postmoderne. Was wollt ihr da, fragt Zimmer, wenn ihr die Moderne nicht mal verstanden habt?

Konservative Christen beschäftigen sich liebend gerne mit der Postmoderne, drücken sich damit aber um die ernsthafte Beschäftigung mit der Moderne herum, so die These. Zimmer geht aber noch weiter: Keine (deutsche) konservative Ausbildungssstätte habe die Moderne verstanden. Dort werden die Schlachten von gestern um die Postmoderne gefochten, doch an den Unis gäbe es um sie keine Diskussion mehr. Wir haben die Moderne nicht hinter uns; aber die Postmoderne ist eine „Sackgasse“ und „Kokolores“ (mit Habermas?), in Wahrheit eine weiterfortgeschrittene Moderne.

Natürlich finden sich in Zimmers Aus­­führungen Wahr­heits­elemente.2 Nur zu gerne pflegen Evangelikale Lieblings­themen; anderes wird dagegen eher links liegen gelassen. Man macht nichts falsch, wenn man den Konservativen das eine oder andere Wahrnehmungsdefizit vorwirft. Doch ist die Schwarz-Weiß-Malerei3 bei diesem Thema angebracht? Zimmer nennt keinen Autoren mit Namen, zitiert aus keinem Buch und wird auch bei den Ausbildungsstätten nirgends konkreter. Sicherlich lassen sich in der evangelikalen Welt genug Dummheiten zur Moderne und Postmoderne finden. An der von ihm gepriesenen Hochschulwelt aber auch! Zimmer sagt jedoch nicht, dass es irgendwo Inkompetenz bei den Konservativen gibt; das ist schließlich nicht zu leugnen. Bei ihm sind so gut wie alle, die sich zur (Post)Moderne geäußert haben, inkompetent. Allerdings liefert Zimmer noch nicht einmal einen Ansatz einer Begründung dieser These. Mit Vehemenz hämmert er seine Behauptung ein – was daran wissenschaftlich sein soll, erschließt sich mir nicht.

Hat Zimmer vielleicht Trends 2000 – Der Zeitgeist und die Christen aus der Feder von Stephan Holthaus gelesen? Der heutige Rektor der FTH setzt dort gleich auf der ersten Seite eine negative Note: „Die klassischen Werte der Moderne wie Pluralismus, Individualismus und Materialismus stehen in krassem Gegensatz zu christlichen Überzeugungen […].“ Ich würde dies anders formulieren und sehe viele im Buch angeschnittenen Themen positiver als Holthaus. Dennoch würde ich nie wagen zu behaupten, der Theologe hätte gar nichts verstanden. Denn auch seine ‚dunklere’ Sichtweise auf die Moderne hat ihr Recht.4 Zimmer kommt dagegen wie einer daher, der den einzig wahren Standpunkt zur Moderne vertritt. Hat er selbst vielleicht die Moderne noch nicht so recht begriffen?

Zimmer hätte besser daran getan, entweder seine Aussagen im Ton klar zu relativieren und vorsichtiger zu formulieren oder zu belegen. Er hätte einzelne konkrete Aspekte herausgreifen können, etwa die Darstellung der Geschichte der Moderne in evangelikalen Texten oder die Lehre der jüngeren Philosophie- und Geistesgeschichte an den Seminaren. Bliebe dann aber wirklich so ein Schwarz-Weiß-Bild? Sind die FTH in Gießen, die STH in Basel oder das Martin Bucer-Seminar in Bonn tatsächlich so inkompetent?

Nicht dumm, hält sich Zimmer ein Hintertürchen offen: tatsächlich alles aus frommer Feder zum Thema habe er eben auch nicht gelesen; möglicherweise gibt es da doch einen kompetenten Konservativen. Kann es vielleicht sein, dass er Rolf Hilles zahlreiche Bücher und Beiträge nicht studiert hat, in denen Moderne und Postmoderne oft genug behandelt werden? Oder nehmen wir Heinzpeter Hempelmann, der sich selbst dem bibeltreuen Lager zurechnet: Gibt es unter den Christen Deutschlands jemanden, der kompetenter zu Moderne und Postmoderne schreibt? Bisher sind drei Bände seiner Reihe „Wie die wahre Welt zur Fabel wurde“ erschienen – tiefer in das Thema einsteigen kann man kaum! Beide sind in der konservativ-christlichen Welt so prominent, dass Zimmer sie eigentlich nicht hätte übersehen können.

Die Beschleunigung des historischen Wandels

Was ist nun der Kern der Moderne?  Zimmer: Die Moderne entstand zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert, und „der Clou des Modernisierungsprozesses […] ist die Beschleunigung des historischen Wandels.“ Diese Ursache der modernen Zeit müsse man „glasklar“ begreifen.

Die zwei tiefsten Veränderungen in der Weltgeschichte waren die Sesshaft­wer­dung der Menschen und der Moderni­sie­rungs­schub. Zimmer unterscheidet dabei zwei Ebenen des Moderni­sierungsprozesses: die immer schneller auftretenden Erfindungen und Ent­dec­kungen und die daraus folgenden wirt­schafts- und gesellschaftspolitischen Veränderungen.

Zimmer nennt und erläutert nun einige der bahnbrechenden Erfindungen der frühen Neuzeit5. Anschließend erläutert er einige der gesellschaftlichen Veränderungen. Eine realistische Ethik und Bibelwissenschaft sei nur möglich, wenn wir diese tiefen Veränderungen des Modernisierungsprozesses sachgemäß, angemessen einschätzten. Damit aber hätten – laut Zimmer wieder ohne Zwischentöne – die Konservativen „noch nicht einmal angefangen“. In seinen Augen lehnen diese den Wandel in und durch die Moderne ab, was den Vortragenden in Fahrt bringt: „Der sich beschleunigende Wandel ist doch keine Sünde!“ Konservative hätten den Wandel einfach nicht verkraftet. Er behauptet, die konservative Theologie habe die Wandlungsfaktoren bis heute noch nicht „angstfrei, unbelastet, fair analysiert“. Immer würde der historische Wandel „gleich mit Bedenken“ gesehen werden.

Wieder kritisiert Zimmer, dass viele Fromme an einzelnen Phänomenen der Moderne,  wie der Überschätzung der Vernunft oder ratio, herumnörgeln. Der Rationalismus sei heute aber gründlich überholt, auch der Kritische Rationalismus. O-Ton Zimmer:

„Der Kampf der Frommen gegen den Rationalismus ist so was von überholt, das zieht einem die Socken aus.“

Das Wesen der Moderne sei die immer weiter zunehmende Beschleunigung des geschichtlichen Wandels.

Zimmers Kennzeichen der Moderne enthalten so viele Ungereimtheiten, dass sein Entwurf das Wesen der Moderne offenbar nicht trifft.

Was ist von dieser Aussage nun zu halten? Zimmer beschreibt das Phänomen im Grunde richtig. Es wäre allerdings einiges Wichtige zu ergänzen. Der Wandel, wie er ihn meint, ein subjektiv deutlich erlebter Wandel innerhalb eines Generationwechsels oder während eines Lebensalters, setzte eigentlich erst mit der Industrialisierung ein. Die Industrialisierung, nicht die Moderne allgemein, verdient den Namen „Revolution“  als die zweite große Umwälzung nach der neolithischen Revolution (Sesshaftwerdung, Ackerbau). Erst durch sie – ab etwa 1800 – wurde das Leben zuerst vieler Europäer auf den Kopf gestellt. Vorher in der Neuzeit lebten gerade die Ärmeren und bäuerlich Wirtschaftenden nicht sehr viel anders als im Mittelalter und davor. Erst Kohle, Fabriken, Eisenbahn, Elektrik usw. gaben auch dem Leben der Massen ab dem 19. Jahrhundert eine umfassend neue Gestalt. Wenn immer schnellerer Wandel durch Technologien das Anfangskennzeichen der Moderne sein soll, dann ist sie viel jünger als Zimmer behauptet.

Oder doch älter? Er nennt das Beispiel der Brille, deren Erfindung tatsächlich viel veränderte. Aber sie wurde im 13. Jahrhundert gemacht, im hohen Mittelalter, das ja im Übrigen gar nicht so arm an technologischem Fortschritt war. Warum also dann den Beginn der Moderne nicht früher ansetzen?

Diese Ungereimtheiten bekräftigen nur, dass Zimmers erster Schritt in seinem Narrativ der Moderne ihr Wesen doch nicht trifft. Denn die Frage drängt sich schließlich sofort auf, warum es denn in der Neuzeit zu diesem beschleunigten Wandel gekommen ist. Auf einmal kam es zu diesen immer zahlreicher werdenden Erfindungen und Entdeckungen. Warum? Sicher spielt der Zufall auch eine Rolle (wie bei den Entdeckungen). Aber der erklärt sicher nicht, warum ein regelrechter ‚Entdeckungsmotor’ ansprang und immer weiterlief. Zimmer interessiert diese Frage in über einer Stunde überhaupt nicht. Für ihn ging es anscheinend auf einmal mit dem Wandel los.

„Die Essenz der Moderne“

Warum ging es in Europa los? Waren die Europäer erfindungsreicher und schlauer? Keineswegs. Bis in die frühe Neuzeit waren die Chinesen das Erfinder-Volk Nr. 1, und das mit Abstand. So gut wie alles, was es zu erfinden gab, hatten sie schon und kam von dort. Aber China machte sich damals nicht in die Moderne auf, im Gegenteil. Warum hat sich China nicht gewandelt und Europa und der Westen umfassend?

Immer schneller auftretende Erfin­dun­gen und Entdeckungen sind Kennzeichen der Moderne, machen aber nicht ihren Wesenskern aus. Gerade das, was Zimmer den konservativen Christen vorwirft, nämlich Folgeerscheinungen wie Rationalismus und Atheismus mit dem Wesen verwechseln, demonstriert er selbst.

Was ist nun das Wesen der Moderne? Darüber wurde und wird intensiv diskutiert und viele dicke Wälzer wurden geschrieben. Auch setzt jede Fachrichtung, ob nun Philosophie, Soziologie oder Kunst, ihre eigenen Akzente.6 Es geht aber kaum ein Weg am Buch Ein säkulares Zeitalter des kanadischen Philosophen Charles Taylor vorbei. Der Buchtitel sagt es schon: Die moderne Welt ist vor allem von Säkularisierung gekennzeichnet.

Damit werden heute bei Christen vor allem negative Erscheinungen verknüpft. Aber ursprünglich ist Säkularisierung eine sehr wichtige Errungenschaft. Vereinfacht gesagt: Könige und Kaiser sind nicht göttlich und haben keine religiöse, heilsbringende Funktion; alle politischen Machthaber üben Herrschaft nur in diesem irdischen saeculum oder Zeitalter aus. Das Ewige, das Heil im zukünftig vollendeten Zeitalter, die Rettung der Menschen, fällt nicht in ihren Aufgabenbereich. Kirche und Staat müssen daher deutlich unterschiedliche Funktionen haben und ausüben.

Zum Wesen der Moderne gehört, dass sie ein säkulares Zeitalter ist. Säkularisierung ist auch eine Errungenschaft, weil Herrschaft entgöttert wurde und Wissenschaft gefördert.

Max Weber prägte den Begriff der „entzauberten Welt“, was für die Moderne in starkem Maße zutrifft: die Welt ist nicht einfach Teil des Göttlichen, hat nicht als Ganzes den Zauber des Magischen, sondern funktioniert nach eigenständigen Regeln und Gesetzen, die untersucht werden können. Moderne Wis­senschaft und moderne Wirtschaft ruhen auf dieser „Entzauberung“.

Diesen Gedanken aber haben Judentum und Christentum gesät. Das gesamte politische und staatliche Handeln, das in der Antike ganz und gar von Religion durchsetzt war, wurde nach und nach verändert. Nur in Europa konnte auch dank des Christentums die Entgötterung der Herrschaft langfristig Fuß fassen. Hier entstand im Mittelalter die Spannung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Selbst die Mächtigsten erreichten hier nicht mehr die Allmacht der Kaiser wie in China. Es wurden eine rationale Theologie und Lehrsysteme entwickelt, die der antiken Religion noch ganz fremd waren. Damit war ein weiterer Dualismus verbunden: der zwischen rechtem und falschem Glauben, zwischen Orthodoxie und Heterodoxie. Dynamik und Spannungen, Dualismen und Ambivalenz pflastern den Weg zur Moderne.

Europa machte sich auf den holprigen Weg der Beschränkung der irdischen (Staats-)Gewalt, und dies schuf immer mehr Freiräume. Denn man mache sich nichts vor: die ‚normale’ Herrschaftsform war (und ist) immer Despotie. Die Idee der Herrschaft des Rechts über den Machthabern etablierte sich erst Schritt für Schritt. Insofern könnte man ein erstes Aufblinken der Moderne schon in der englischen Magna Charta von 1215 finden.

Zum Wesen der Moderne gehört die Entdeckung des Menschen als Individuum. Das machte auch die Bildung eines Bürgertums und parlamen­tarischer Verfassungen möglich.

Parallel dazu wurde das Individuum ‚erfunden’.7 Dass der einzelne Mensch etwas zählt und Würde besitzt, war auch so ein Gedanke, der der biblischen Religion entstammt. Es dauerte grob ein Jahrtausend, bis diese Erfindung des Individuums halbwegs abgeschlossen war. Die Befreiung des Individuums von feudalen sozialen Hierarchien führte dann erst zur Geburt der Moderne.

Im religiösen Bereich wurden individuelle Erfahrung, die innere Welt, die persönliche Überzeugung und das Gewissen sowie individuelle Verantwortung immer wichtiger und kamen in der Reformation zum Durchbruch. In einigen Ländern entstand um 1600 erstmals ein echter religiöser Pluralismus. In der Politik gewann das Bürgertum immer mehr Freiraum und Mitbestimmung, so dass sich Schritt für Schritt parlamentarische Verfassungen herausbildeten. In der Wirtschaft erlangte die bürgerliche Mittelschicht Würde und soziale Gleichheit, konnte Eigentum frei erwerben und mehren, was zur modernen kapitalistischen Wirtschaftsweise führte.8

Auf welchen Punkt ist die Moderne nun zu bringen? Wolfgang Welsch schreibt in Unsere postmoderne Moderne, indem er den französischen Denker Paul Valéry (1871–1945) zitiert:

„Unsere Epoche ist modern, sofern ‚in allen kultivierten Köpfen die verschiedensten Ideen und die gegensätzlichsten Lebens- und Erkenntnisprinzipien frei nebeneinander bestehen’. Eben diese Pluralität macht ‚die Essenz der Moderne’ aus.“

Zur Moderne gehört eine Pluralität der Meinungen und Sichtweisen. Hier können die kritischen Ansichten konservativer Christen durchaus ihren Platz haben.

Pluralität, d.h. Vielfalt und Verschie­denheit, – aber noch nicht Pluralismus, im Sinne eines relativistischen „alle haben Recht“! – ist ein guter Kandidat für eine Art Gesamtmotto. Dahinter steht, so glaube ich, persönliche Freiheit als die große Überschrift unserer westlichen Zivilisation und auch der Moderne, in der sie zum Durchbruch kam.

Gewiss sind westliche Zivilisation mit ihren Werten und die Moderne nicht in eins zu setzen. Meist wird Moderne weiter und neutraler und vor allem als Epoche gefasst. Modern waren auch der Kommunismus und Faschismus als antifreiheitliche Ideologien. Heute gibt es einen auch modern geprägten Islamismus. Letztlich bestätigt das aber das vorher Gesagte, weil Freiheit, Demokratie, Pluralität usw. auch radikalen Gegenströmungen einen gewissen Raum geben.

Die westliche Kultur hat sich in der Moderne ausgebreitet und eine gewisse Normativität verschafft. Dies wird auch daran erkennbar, dass selbst Staaten und Völker, die sich nicht dem Westen im engeren Sinne zurechnen, fast alle Parlamente und oberste Gerichte besitzen, Verfassungen formuliert haben und sich zu den Menschen- und Bürgerrechten bekennen. Fast die ganze Welt ist modernisiert und damit auch in vielerlei Hinsicht westlich geprägt. Selbst Länder wie der Iran, der offiziell die Feindschaft zum Westen pflegt, hat eine erstaunlich moderne Bevölkerung.

Die Moderne gestaltet sich plural und deswegen muss auch das Verständnis der Moderne plural sein. Die breite Diskussion über ihre Kennzeichen und ihr Wesen zeigt dies ja. Gewisse Dinge haben sich herauskristallisiert, aber vieles bleibt skizzenhaft und unvollendet.

Pluralität  kommt auch bei Siegfried Zimmer vor. Paradoxerweise lässt er jedoch keinerlei Raum für eine plurale Sicht zu, wenn er kategorisch bestimmt: Wer dies nicht glasklar sieht, und zwar so wie ich, der hat noch nicht einmal angefangen zu verstehen. Könnte es nicht sein, dass unter konservativen Christen und in ihren Ausbildungsstätten eine bestimmte kritische Perspektive auf die Moderne betont wird, die aber ebenfalls zum Verständnis beiträgt? Für viele wegweisend war sicher Francis Schaeffers Wie können wir denn leben?, ein zugegeben kritischer Abriss unserer Geschichte und der modernen Zeit. Aber was soll daran unzulässig sein? Wollte Zimmer wirklich sagen, Schaeffer hätte mit seiner Kritik an der Moderne von nichts eine Ahnung gehabt? Könnte es nicht vielmehr so sein, dass der Professor aus Ludwigsburg sich zu weit aus dem Fenster gelehnt hat, da ihm das Wesen der Moderne erst langsam zu dämmern scheint?

Augustinus und das historische Denken

Zimmer geht zu einem „zweiten Schritt“ seiner groß angelegten Deutung der Entwicklung zur Moderne über. Durch die Modernisierungsprozesse habe sich das Verhältnis der Menschen zur Vergangenheit grundsätzlich geändert. Bisher galt: In Kraft des Bewährten bewältige ich die Gegenwart. Doch nun, in der Moderne, kann die Vergangenheit, die Tradition, nicht mehr genauso Hilfe sein wie zuvor in einer Zeit des langsamen Wandels. Die Menschen haben sich nun stärker aus der Vergangenheit gelöst, Alternativen werden denkbar, das Leben verläuft nicht mehr in durch Konventionen genau vorgeschriebenen Bahnen. Tradition ist nun nicht mehr selbstverständliche Hilfe. Sie besitzt keine unhinterfragte Autorität.

Diese Darstellung ist in mancher Hinsicht richtig. Durch die Zunahme der persönlichen Freiheit haben sich die Menschen aus vielen sozialen Zwängen und festgefügten Rollen gelöst, gestalten ihr Leben nicht einfach mehr so, wie es die Vorfahren „schon immer“ getan haben. Insofern hat die Dynamisierung des modernen Lebens tatsächlich zu einer gewissen Loslösung von der Vergangenheit geführt. Zimmer definiert „Tradition“ in seinem Vortrag aber nirgends und differenziert auch nicht. Bei ihm wird alles aus der Vergangenheit nun relativ. Die Sicht auf das Überkommene wurde zunehmend kritisch, aber bedeutet das, dass der moderne Mensch gar nicht mehr „in Kraft des Bewährten“ lebt? Ich wage zu behaupten, dass er dies vielfach immer noch tut; Tradition hilft weiterhin und  durchaus sehr oft.

Die Moral wurde persönlicher und durchdachter, aber deswegen ist die Tradition nicht einfach überholt.

Es hat vor allem eine Verinnerlichung der Moral stattgefunden; sie wurde persönlicher und dabei auch durchdachter. Nehmen wir das Beispiel der Ehe: Es ist modern, den Ehepartner selbst auszusuchen und zu heiraten, wann und wie man will; Grenzen von Stand und Schicht gelten kaum noch etwas. Wählten früher die Eltern oder die Sippe den Partner aus, so muss man sich heute selbst viele Gedanken machen und ist innerlich gefordert. Doch noch immer ist die letztlich mo­ra­lische Grund­forderung der Ehe von einem Mann und einer Frau eine sehr wichtige, Orientierung gebende Norm, die natürlich aus der Vergangenheit übernommen wird.

Die grundlegenden Normen schöpfen wir immer noch aus der Tradition. Manche moralischen Traditionen sind immer noch so stark, dass sie beinahe unhinterfragbar erscheinen. Zum Beispiel darf man keinen anderen Menschen willkürlich töten. Genauso ist es falsch, Mitmenschen zu quälen und sich daran zu freuen.

Das Bewährte hat sich gewandelt. Vor allem Gebräuche, also eher auf das äußerliche Handeln abzielende Kon­ventionen, haben tatsächlich an normierender Kraft verloren. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Vergangenheit uns nicht mehr Orientierung geben kann und soll. Sie tut es nur auf andere Art, auf moderne Weise eben.

Christen haben Traditionen immer kritisch gesehen, weil Gott und seine Offenbarung über jeder Tradition stehen muss.

Traditionen wurden im Übrigen im Christen­tum schon immer kritisch gesehen – weil es eine Instanz über dem Prozess der Geschichte gibt, nämlich Gott und seine Offenbarung. Im Mittelalter war die Theologie keineswegs traditionshörig. Mit der Moderne wurde die Traditionskritik mitunter deutlich schärfer. Aber das von Siegfried Zimmer skizzierte Bild „vorher an Traditionen gebunden, nachher nicht mehr“ verzerrt die historischen Zusammenhänge.

Zimmer sieht einen „dritten Schritt“ zur Moderne: Es entsteht in Europa das historische Denken. „Das hat‘s nie in der Welt vorher gegeben!“ Platon und Augustinus waren zwar Genies, aber sie konnten wie andere in der Antike (und im Mittelalter?) „nicht historisch denken, weil sie den Modernisie­rungs­prozess nicht erlebt haben“. Nur dadurch lerne man, wie tief sich alles wandelt. „Das historische Denken erkennt die historische Bedingtheit der gesamten menschlichen Lebenswelt.“ Vor der Moderne konnte es dies nicht geben, denn man musste die Veränderung am eigenen Leib spüren.

Ich halte dies in dieser Art der Darstellung für baren Unsinn. Wieder einmal ist die Krux, dass Zimmer „historisches Denken“ nicht näher definiert. Wenn er damit „die Art und Weise, wie seit der Moderne Geschichte betrieben wird“ meint, wird es banal. Denn damit setzte Zimmer modernes und historisches Denken einfach in eins. Das Ergebnis wären banale „Erkenntnisse“ wie: „Augustinus hat nicht modern gedacht, weil er nicht in der Moderne lebte.“

Historisches Denken erkennt historischen Wandel und damit die Bedingtheit des Lebens: alles kann auch anders sein. Bis hierher kann man Zimmer zustimmen. Konnte aber Platon nicht historisch denken? Weil er keine Veränderungen „am eigenen Leib“ erlebt hat? Gewiss, es ging im vierten Jahrhundert v.Chr. nicht so dynamisch zu wie zweitausend Jahre später. Doch warum schrieb der große Grieche dann sein Hauptwerk, die Politeia?

Veränderung gab es immer, aber die Idee der Veränderung hatte als erster wohl Heraklit (geb. um 540) entdeckt.

„Bis zu seiner Zeit hatten die griechischen Philosophen […] die Welt als ein riesiges Gebäude angesehen […], die Welt war die Totalität der Dinge – der Kosmos.“9

Die Erkenntnis der historischen Bedingtheit der menschlichen Lebenswelt gab es bereits lange vor der Moderne.

Nach Heraklits Meinung ist die Welt aber kein stabiles Gebäude, sondern eher ein riesiger Prozess, „ein planlos aufgeschütteter Misthaufen“, wie einer seiner Aussprüche lautete. Heraklit sah die Welt nicht mehr als die Ge­samtheit der Din­ge, sondern der Erei­g­nisse und Ver­änderungen an. Der berühmte Leitspruch seiner Philo­so­phie heißt entsprechend:

„Alles ist im Fluss und nichts in Ruhe“.

Und als Urstoff aller Dinge betrachtete er daher – auch ganz konsequent – das bewegliche Feuer. Heraklit hatte damit das wichtigste intellektuelle und soziale Problem seiner Zeit entdeckt und formuliert: Die Welt ändert sich ständig.

Die alten Stammes­aristo­kratien hatten sich in Demokratien verwandelt, die traditionellen Mythen wurden durch die kritische Philosophie ersetzt. Nichts hatte mehr seinen einzigen und festen Platz, nichts verlief mehr mit absoluter Notwendigkeit, das alles regierende Schicksal war entthront. Auf diese Herausforderung reagierte dann Platon mit seinem beachtlichen Werk, auf das hier aber nicht eingegangen werden soll.

Ähnliches ist zu Augustinus ein gutes halbes Jahrtausend später zu sagen. Auch er stand an einer Epochenwende, die noch viel dramatischer und folgenreicher war. Die antike Ordnung brach unter dem Ansturm der germanischen Stämme zusammen, Rom war im Niedergang, der Siegeszug des Christentums setzte sich aber fort. 410 plünderten die Ostgoten unter Alarich Rom. Hat nicht die Abkehr von den alten Göttern diese Schmach verursacht?, so dachten viele dort. In dieser Situation schrieb der Bischof aus Nordafrika sein gewaltiges Werk Der Gottesstaat – eine breit angelegte Apologie des Christentums, die Augustinus in die gesamte Geschichte der Welt einbettete; diese wiederum ruht in seiner letztlich übergeschichtlichen Schau der Welt und der Geschichte.

In vielerlei Hinsicht ist Augustinus‘ Werk natürlich nicht modern; er betrieb Historie anders als später oder als in der Moderne. Doch er erlebte wahrlich massive Verän­derungen am eigenen Leib und während der eigenen Lebensdauer. Er verarbeitete sie denkerisch, theologisch und auch historisch. „Was geschichtlich gewachsen ist, kann auch abgeändert werden“, so Zimmer über das historische Denken. Genau das gleiche hat Augustinus bezogen auf seine Zeit gesagt: Die Heiden Roms behaupten, dass der geschichtlich gewachsene Kult beibehalten werden muss; ich dagegen will, dass Veränderung geschieht.

„Granatendoof“

Zimmers Ausführungen zum historischen Denken enttäuschen daher auf ganzer Linie. Er wendet sich in einem modernen Beispiel wieder den konservativen Christen zu, denjenigen unter ihnen, die sagen, Frauen dürfen in der Gemeinde nicht leiten.

„Jetzt gibt es tatsächlich fromme Leute, die meinen, man könne die Genderrolle der Frauen im Neuen Testament auch heute anwenden.“ Das sei ja wohl „granatendoof“. „Berücksichtigt den historischen Wandel! Der Fundamentalismus kann des net.“

Die Überredungskunst à la Zimmer unterstellt also tatsächlich, die konservativen Christen könnten nicht historisch denken, weil sie die historische Bedingtheit des Lebens in Bezug auf die Veränderung der Geschlechterrollen nicht mitmachen wollen.

Christen ging es immer darum, biblische Normen und Prinzipien auf ihre jeweilige Zeit und ihre Heraus­forderungen anzuwenden. Sie wollten nie die antike Welt biblischer Zeiten wiederher­stellen.

Zimmer tut so, als wollten diese Frommen das erste Jahrhundert 1:1 kopieren. Was Christen schon immer taten und bis heute tun, ist die Anwendung der biblischen Normen, Prinzipien, Vorgaben usw. in ihre Zeit. Zimmer reißt Gräben auf, die so gar nicht existieren. Auch evangelikale Theologie berücksichtigt natürlich den historischen Wandel! So ist das Verhältnis von Mann und Frau heute zweifellos ein anderes als in der Antike. Der Knackpunkt ist dabei einfach dieser: Gibt es in der Bibel Normen, die mit Autorität an uns herantreten? Hier einfach den historischen Wandel aus dem Zylinder zu ziehen, hilft nicht weiter. Das Eheleben hat sich so gewandelt, dass in vielen modernen Gesellschaften jede zweite Ehe geschieden wird. Dies ist in Theologie und Ethik, Predigt und Seelsorge natürlich zu berücksichtigen. Aber noch immer lehren und verkündigen die Christen, dass Gott – laut Bibel – will, dass Mann und Frau ein Leben lang zusammenbleiben. Will Zimmer diesen Christen nun „Das ist wohl granatendoof!“ entgegenschleudern?

Gibt es Ordnungen und Normen, die zeitlos gültig sind, die aber natürlich in unterschiedlichen Kulturen und Epochen unterschiedlich anzuwenden sind? Zimmer begrenzt diese Wahrheiten aber auf einen engen Bereich: „Natürlich gibt es Wahrheiten über den Menschen, die werden immer gelten.“ Jeder Mensch will geliebt sein; er hat Ängste Sorgen, Sehnsüchte – „das stimmt immer“, dies sind „tiefe Existenzwahrheiten“.

Aber kann das alles sein? Gibt es so etwas wie Offenbarungswahrheiten, die mehr sind als reine Existenz­wahrheiten? Wie steht es mit der Norm, dass ein Herrscher einen Untertanen nicht nach Belieben töten darf, weil auch der König unter dem Recht steht? Hier ist an Davids Auftragsmord (2Sam 11) zu denken. Ist das etwa keine Wahrheit, die immer gilt?

In der nachaufklärerischen Theologie haben die Offenbarungswahrheiten einen schweren Stand. Aber ich kann nicht erkennen, dass es unvernünftig sein sollte, dass ein personaler Gott sich personalen Wesen in Worten und Handlungen mitgeteilt hat, auch autoritativ. Das geht über Existenzwahrheiten, die der Mensch in sich selbst finden kann, hinaus. Jeder Mensch will nicht nur geliebt sein. Die viel wichtigere Frage ist: Ist da ‚oben’ jemand, der mich liebt? Und was hat dieses Wesen für einen Charakter? Hier gibt die Bibel eine definitive, ‚zeitlose’ Antwort.

Die Vernunft als Autorität

Zimmer erkennt noch einen vierten Schritt: Es entsteht eine neue Art von Wissenschaft. Nicht mehr die Tradition ist die oberste Autorität, „sie kann nicht mehr diese absolute, ständige Hilfe sein wie vorher“, wie im Mittelalter, wie bei Jesus. In der modernen Wissenschaft gebe es vor allem zwei Autoritäten. Neben sie kann die Tradition noch als drittes hinzutreten.

Zimmer will als zeitüber­greifende Wahrheiten nur die existenziellen Ängste, Wünsche und Sehnsüchte gelten lassen. Offenbarte Wahrheit eines Gottes, der sich mitteilt, scheint es für ihn nicht zu geben.

Diese Autoritäten sind „erstens Vernunft, zweitens Erfahrung“. Die Vernunft ist „ein Friedensband, ein Verständigungsmittel“. Es bleibt uns heute „nur die Vernunft als Autorität, die jeder Mensch anerkennen kann“. Daneben steht außerdem die empirische Erfahrung. Die „moderne Erfahrung wird zum Kriterium des Wandels“. Nun muss sich alles an dieser Erfahrung messen, wohingegen früher die Erfahrung zur Tradition passen musste.

Zimmer spricht hier allgemein von Wissenschaft, schließt aber Theologie ein. Und an einer Stelle, fast nebenbei, bekennt er klar Farbe: „Die Bibel würde da auch zur Tradition gehören.“ Vernunft und Erfahrungen sind für ihn die beiden leitenden Autoritäten, Tradition nur unter Umständen. Auch im Hinblick auf die Bibelwissenschaft gibt es für ihn also zwei Leitsterne, Vernunft und Erfahrung, und darunter kommt alles andere: Lehrtraditionen, Bekenntnisse und die Aussagen der Bibel selbst.

Das ist Theologie im tiefen Schatten der Aufklärung. Theologie des Modernismus und trotz allem Abstreiten seitens Siegfried Zimmer offensichtlich rationalistisch. Genau das ist, was Evangelikale häufig kritisch an der „Moderne“ sehen!

Wenn die Bibel den Leitsternen Vernunft und Erfahrung untergeordnet wird, dann kann es keine Einwände gegen Ehen homosexueller Paare geben.

Die heißen Probleme der heutigen Zeiten lösen sich mit Zimmers Leitsternen schnell auf. Ehe von homosexuellen Paaren? Kein Problem. Die Erfahrung zeigt uns doch, dass Mann und Mann und Frau und Frau sich auch lieben und zu Treue fähig sind. Und die Vernunft erhebt auch keine Einwände (mehr). Die Tradition – die hat sich zu fügen. Die widerspenstige Bibel natürlich auch. Und wer trotzdem den Mund aufmacht, dem schallt es entgegen: Beachte den historischen Wandel!

Der Slogan „Beachte den historischen Wandel!“, gepaart mit Vernunft und Erfahrung, kann ganz gefährlich werden und jede überkommene Norm niederwalzen. Im totalitären Kontext kommen dann diejenigen, die an diese veralteten Werte glauben, schnell mit unter die Räder. Wenn sich der Mensch auf den Thron erhebt, sich der angeblichen Last der Vergangenheit entledigt und objektive ethische Normen – damals, heute, morgen gültige – zur Seite schiebt, dann muss man sich auf das Schlimmste gefasst machen.

In der griechischen und römischen Antike konnte man ungewünschte Neugeborene lange auf dem Müllhaufen entsorgen oder im Wald aussetzen. Eine damals gängige Praxis, die keinerlei Entrüstung auslöste. Die Vernunft hatte keine Einwände, als Methode der Begrenzung des Nach­wuchses war es durchaus rational. Und die Erfahrung? Tja, man wird sich irgendwie daran gewöhnt haben. Nun haben sich die Zeiten gewandelt, wir praktizieren so etwas nicht mehr. Warum sollten wir aber auch in Zukunft Neugeborene nicht töten? Warum ist und bleibt das objektiv falsch und böse? Zimmer kann das auf Grundlage seiner Voraussetzungen nicht ausschließen. Und womöglich wird sich unser Denken und Empfinden ja wandeln.

Zimmer setzt also auf dem Höhepunkt seines Vortrags Vernunft und Erfahrung über alle Tradition mitsamt der Bibel und damit über alle autoritative Offenbarung. Die Autoritätsfrage ist damit für ihn letztlich geklärt. In seinem Schema ist es nicht mehr möglich, dass sich klare biblische Normen über die Vernunft und die moderne Erfahrung hinwegsetzen und diese korrigieren. Es ist vielsagend, dass Zimmer den Rationalismus zu einem Phänomen der Vergangenheit erklärt. So kann er um so leichter seine Version der Überschätzung der Vernunft unters Volk bringen.

Die Bibel sprechen lassen

Schließlich macht Zimmer Ausführungen zum Begriff der Kritik, „der Leitbegriff der modernen Wissenschaft“. Er betont den neutralen Wortgebrauch im Sinn des sorgfältigen Unterscheidens. Kritisch sein heißt, dass man die unterschiedlichen Zeiten berücksichtigt, die Dokumente in ihrer historischen Eigenart würdigt. Wenn man das versteht, so Zimmer, „öffnet sich die Tür zur modernen Bibelwissenschaft, sonst nicht“.

Auch die biblischen Dokumente muss man „aus ihrer Zeit heraus verstehen“, und zwar unter der Leitfrage „Was wollte der Autor ursprünglich seinen Leser sagen?“ Zimmer betont: „Die Bibel muss erst mal ihr Wort sagen dürfen.“ Ähnlich heißt es auch im Begleittext:

„Eine 1:1-Übertragung biblischer Texte in die Gegenwart greift nicht nur zu kurz, sie ist nicht nur zu leichtfertig, sie stellt ganz klar einen gravierenden Missbrauch dar. Stattdessen muss genau berücksichtigt werden, in welcher Zeit, in welcher Kultur und mit welcher Intention ein Text ursprünglich entstanden ist. Alles andere führt in Sackgassen und mitunter zu schweren Missverständnissen.“

Ist man im Vortrag soweit gekommen, ist völlig klar, wer diesen „gravierenden Missbrauch“ betreibt – die dummen konservativen Christen natürlich.

Dabei sind auch die bibeltreusten und beinhart konservativen Theologen hier ganz bei Zimmer: Auch sie wollen genau berücksichtigen, in welcher Zeit, in welcher Kultur und mit welcher Intention ein Text ursprünglich entstanden ist. Aber wo ist dann der Missbrauch?! Auch die „fundamentalistischen“ Chicago-Erklärungen betonen klar die Notwendigkeit einer grammatisch-historischen Schriftauslegung.

Man kann die Bibel nicht ihr Wort sagen lassen wollen, aber ihr zugleich die Autorität absprechen normativ zu sagen, was richtig und falsch ist.

Was heißt es aber, die Bibel erst mal ihr Wort sagen zu lassen? Es geht letztlich um die Autoritätsfrage. Zimmer kommt zu dem Schluss, dass dies und jenes in der Bibel damals so und so gesehen wurde. Er würde wohl eingestehen: In der Bibel stellte man sich damals das Zusammenleben einzig zwischen Mann und Frau vor. Die Geister scheiden sich nun an der Frage, ob Gott in und durch sein damaliges Wort immer noch mit bindender normativer Kraft zu uns heute spricht. Die nachaufklärerische Theologie verneint dies tendenziell, und ihr ist Zimmer offenbar verpflichtet. Die traditionelle Theologie aber bekräftigt die bindende Autorität der Bibel über die Konfessionsgrenzen hinweg.

Krebsvorsorge

In dem „Basis-Vortrag“ wurde „thematisiert, warum Worthaus entstanden ist“. Wenn dieser Vortrag gleichsam das Fundament der ganzen Reihe sein soll, dann steht „Worthaus“ m.E. auf tönernen Füßen. Die durchaus professionelle Machart und die Selbstdarstellung voller Eigenlob müssen die Baumängel übertünchen.

Die richtige Krebsvorsorge für die konservativ evangelikale Bewegung hätte zu untersuchen, wie viel bibelfremde Theologie eingedrungen ist, deren Folgen so fatal wie Krebs sein können.

Offensichtlich geht es darum, konservativ und evangelikal geprägte Christen subtil mit der historischen Kritik an der Bibel zu infizieren. „Viele gesunde Erkenntnisse“ – so das Eigenlob – sind für den Glauben in solchen Vorträgen nicht zu finden. Wer sich um Bildung bemüht, sollte m.E. einen großen Bogen um das „Worthaus“ machen! Wenigstens englischsprachige Alternativen gibt es in den Weiten der Internet-Welt allemal.

Die Sache ist aber noch ernster. Im Begleittext in der Mediathek wird der Vortrag mit „eine[r] Art Prostatakrebsvorsorge-Untersuchung für den christlichen Glauben“ verglichen. Vor dieser Untersuchung „haben viele Männer Scheu. Dabei tut sie nicht wirklich weh, ist aber unangenehm.“

Nach Abschluss der Untersuchung könne man seinen Gesundheits­zustand „klarer einschätzen und muss nicht im Vagen verbleiben. Ganz ähnlich wird es der konservativen Christenheit mit diesem Vortrag gehen.“

Der Krebs ist eine Theologie, die die Autorität der Bibel der Vernunft und der Erfahrung kategorisch unterordnet. Gute Heilungschancen bestehen durch Entfernen und einer Dosis alter Theologie.

Das Bild der Krebsvorsorge ist gar nicht schlecht. Ich würde es nur anders anwenden. Die konservative, evangelikale Christenheit, die sich u.a. durch ihre Treue zum biblischen Wort und dessen Autorität definiert, sollte sich wirklich ab und an abtasten lassen: Ist eine fremde Theologie eingedrungen, deren Folgen so fatal wie Krebs sein können?

Wer sich auf die „Worthaus“-Theologie einlässt, der wird an der göttlichen Inspiration und der Unfehlbarkeit der ganzen Heiligen Schrift kaum festhalten können. Die Evangelikalen müssen tatsächlich die Kritik lernen, allerdings nicht die Bibelkritik, sondern die Kunst der sorgfältigen Unterscheidung!

Der Vergleich im Begleittext von „Worthaus“ gibt zu verstehen, dass die kon­servative Christenheit krankt. Das mag sein, doch der Diagnose aus der Praxis von Dr. Zimmer und Kollegen kann man gewiss nicht zustimmen. Die liefe darauf hinaus (um in der Medizin zu bleiben), einen Homöopathen zu Antibiotika Stellung nehmen zu lassen.

Folgt der konservative Patient dem Rezept Zimmers, wird er einen siechenden Tod erleiden. Es ist anders herum: Der Krebs ist eine Theologie, die die Autorität der Bibel der Vernunft und der Erfahrung kategorisch unterordnet – und die Moderne diktiert dies ganz und gar nicht. Diesen Krebs muss man beobachten, behandeln, unter Umständen heraus­schneiden. Dann bestehen gute Heilungs­chancen. Das wohl beste Gegenmittel ist eine gute Dosis traditioneller und alter Theologie. Und das kommt noch nicht einmal einer unangenehmen Chemotherapie nahe, dies ist vielmehr „der frische Wind der Jahrhunderte“ (C.S. Lewis), den wir durch unsere Köpfe wehen lassen sollten. Und nicht zu selten sollte man auch auf „Laiengeblök“ hören, um mit C.S. Lewis‘ genialem Essay zu den Verfehlungen der liberalen Theologie zu reden – ein Muss für jeden Theologiestudierenden! Fenster auf und den Gegenwartsmuff von „Worthaus“ raus! Der Bildung wird‘s nicht schaden, im Gegenteil.


  1. Siegfried Zimmer hielt den Vortrag beim „Freakstock“-Festival 2015. Ein etwas sperriger Titel, aber inhaltlich wird die Nr. 5.7.2 laut Begleittext in der Mediathek von „Worthaus“ oder auf Facebook als ein „absoluter Basis-Vortrag“ bezeichnet. Denn „hier wird thematisiert, warum Worthaus entstanden ist.“ 

  2. Über den engen Zusammenhang  der Epochen schreibt sehr gut Wolfgang Welsch in Unsere postmoderne Moderne

  3. Interessanterweise distanziert sich Zimmer häufig davon – vielleicht gerade deshalb, weil er selbst sie so gerne betreibt? „Kein Buch, keine Ausbildungsstätte, kein Theologe…“ Auf die Dauer gewöhnt man sich an dieses Spiel bei Zimmer: er als Vertreter der wahren Universitätstheologie – die einzig echte Bibelwissenschaft – , und alle anderen scheinen Dummerle zu sein. 

  4. Eher kritisch zur Moderne äußern sich auch angesehene Theologen wie J. Milbank, S. Hauerwas, W. Cavanaugh, O. O‘Donovan. 

  5. Leider vertut er sich hier auch schon einmal, wenn er behauptet, dass das Schießpulver in dieser Zeit in Europa erfunden worden sei. Bekanntlich kommt es aus dem fernen Asien und war schon im späten Mittelalter (13. Jhdt.) in Europa bekannt. Auch das Geschützrohr erfand man keineswegs zuerst in Europa, auch wenn es hier weiterentwickelt wurde. 

  6. Viel – und viel Kritisches – ist bei Zygmunt Bauman zu finden (Flüchtige Moderne). 

  7. Siehe Larry Siedentop Inventing the Individual, der ein faszinierendes Gemälde der Geistesgeschichte von der Antike bis zum Beginn der Moderne zeichnet. 

  8. Siehe die beiden Bücher von Deidre McCloskey Bourgeois Dignity: Why Economics can‘t explain the Modern World und Bourgeois Equality: How Ideas, not Capital oder Instituitions, enriched the World. 

  9. Karl R. Popper in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde