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ThemenZeitgeist und Bibel

Christliche Einheit – aber wie?

Angesichts einer stark empfundenen Spaltung der Gesellschaft gibt es auch viele Klagen über die mangelnde christliche Einheit. Die Ansätze zur Überwindung des Problems sind allerdings oft fern von der Bibel. Leider bringt das ausführliche Gesprächsinterview zwischen Stephanus Schäl und Thorsten Dietz in der Zeitschrift „Aufatmen“ keine hilfreichen Vorschläge. Es zeigt aber, wohin die Diskussion führt, wenn man zwar sagt, man wolle sich von der Bibel leiten lassen, aber es tatsächlich nicht tut. Der biblische Weg zeigt einerseits, dass christliche Einheit vor allem ein Ergebnis von Gottes Handeln ist. Andererseits kann sie nicht ohne Buße und Abkehr vom Stolz bewahrt werden.

Die Klagen über die Polarisierung in der Gesellschaft, Spaltung und Uneinigkeit reißen nicht ab. Man wünscht sich eine harmonische Einheit, die – auch zur eigenen Vergewisserung – ein paar kleine Splittergruppen am Rande gut ertragen kann, aber keinen „Riss durch die Mitte der Gesellschaft“, so dass es Streit über wesentliche Grundfragen gibt. Da verwundert es einerseits nicht, dass solche Uneinigkeit auch in der christlichen Gemeinde und speziell in der evangelikalen Bewegung immer schmerzhafter wahrgenommen werden. Andererseits erscheinen die meisten Christen noch harmoniebedürftiger: Sie „träumen von einer Kirche, die christliche Einheit lebt“ und nehmen eine schmerzhaft „andere Realität“ wahr.

„Wir leben in einer Art Albtraum. Einerseits driftet die Christenheit immer weiter auseinander. Es entstehen mehr und mehr christliche Splittergruppen, die verschiedenen Lager bekämpfen sich unentwegt und die Debatten um das ‚wahre Christsein‘ werden immer verbitterter. Die Kirche Jesu ist nur noch selten als Einheit erkennbar.“

So lautet die Fest­stel­lung von Stephanus Schäl, der in zwei Ausgaben der Zeitschrift „Auf­atmen“ zusammen mit Thorsten Dietz einen Beitrag zur Förderung der „echten“ Einheit unter den Christen leisten will.1 Obwohl die Redaktion der Zeitschrift mit Absicht dem Dozen­ten der konservativen Bibelschule Brake, Stephanus Schäl, den theologischen Kopf der post-evangelikalen Bewegung, Prof. Thorsten Dietz, gegenübergestellt hat, wirkt das Ganze bei den beiden recht harmonisch und hat nichts vom beklagten Albtraum. Beide bieten in je einem kurzen Grundsatzartikel ihre Analyse der Lage und einen Vorschlag zur Verbesserung der Einheit. Dem folgt ein Gesprächsinterview, in dem die beiden zuerst herausstellen, was ihnen am Entwurf des anderen gefällt, dann wenigstens andeutungsweise auch auf Unterschiede ihrer beider Positionen zu sprechen kommen. Aber die Notwendigkeit zu Kritik sehen sie nicht. Die Redaktion hat die Absicht, damit zu zeigen, „wie wir da einen Schritt weiter(kommen)“ zur Einheit, und „Grundregeln für den gegenseitigen Respekt“ herauszustellen.

Nun ist das Ganze m.E. weder besonders gehaltvoll noch wirklich hilfreich. Der genauere Blick darauf lohnt aber trotz­dem. Erstens spiegelt das Unternehmen repräsentativ, wie heute zumeist nach Einheit gesucht wird. Zweitens wird recht deutlich, wie sehr sich diese Bemühungen von den Ermahnungen der Bibel zur „Bewahrung“ der christlichen Einheit unterscheiden.

1. Wasch mich, aber mach mich nicht nass!

Wenn mein Dachdecker mir zwar eine hohe Rechnung präsentiert, aber es weiter durchs Dach tropft, dann ist es sicher hilfreich, dass wir versuchen, den Konflikt mit guten Umgangsformen zu lösen. Wer nur schimpft, diffamiert, mit dem Anwalt droht, statt zuerst einmal einen ruhigen und sachlichen Austausch zu suchen, der wird den Streit wahrscheinlich auf lange Zeit nicht lösen und hat einen Schaden, selbst wenn er nach vielen Gutachten und einem Gerichtsprozess recht bekommt. Die guten Umgangsformen selbst sind aber nicht die Lösung des Problems. Wenn am Ende eines netten Gesprächs bei Kaffee und Kuchen, Scherzen und Hände­schütteln das Dach weiter undicht ist und die Rechnung nicht bezahlt, ist nichts gelöst. Es ist sicher besser, wenn wir nicht in gegenseitigen Vorwürfen steckenbleiben, das Handwerk nicht zu beherrschen bzw. keine Ahnung davon zu haben. Aber der gegenseitige menschliche Res­pekt ist nicht das letzte Ziel.

Bessere Umgangs­formen im Gespräch mit Menschen, die anderer Meinung sind, betreffen das Problem der gefährdeten Einheit wohl, aber dürfen nicht über echte Differenzen hinwegtäuschen.

Insofern erscheint mir das Projekt in der Zeitschrift „Aufatmen“ schon in der Anlage wenig für die „echte“ christliche Einheit leisten zu können. Dass beide Interviewpartner gute Umgangsformen haben und einem Menschen mit anderen An­sichten höflich begegnen können, kommt mir ziemlich wenig vor. Die biblischen Maßstäbe für das Problem verletzter Einheit liegen weit darüber. Nun mag zwar ein ruhiges Gespräch über das Wetter und die Familie helfen auf dem Weg zur Debatte über die eigentlichen Probleme, aber es muss auch dazu kommen. Beide Grundsatzartikel und auch das „Stuhlkreis“-Interview, in dem man sich sagt, was einem am anderen gefällt, vermeiden es fast vollständig, die Prob­leme anzusprechen, die den Konflikt zwischen Postevangelikalen und „konservativ“ Evangelikalen ausmachen und wodurch die Einheit m.E. nicht nur gefährdet, sondern vielleicht schon verloren ist. Erst im zweiten Teil werden zwei Hauptstreitpunkte (Bibelhaltung und Sexual­ethik) wenigstens erwähnt. Wer keine Ahnung hat und nur das liest, der muss denken, dass es keinen wesentlichen Dissens gibt und dass der Streit sich nur um Kleinigkeiten des Zungenschlags dreht. Deutlich wird das an dieser Antwort von Stephanus Schäl auf die Frage „Stephanus, gab es Formulierungen von Thorsten, bei denen du gezuckt hast?“ Antwort:

„Es gibt keinen Satz, wo ich sage: Damit habe ich extrem Mühe. Aber es gibt zwei Dinge, die ich anders ausgedrückt hätte.“

Mit solch einem Geplänkel wird ein wesentlicher Teil des Problems zugedeckt: Eine Seite behauptet nämlich dauernd, dass die Streitpunkte eigentlich nur Randfragen sind, in denen man die unterschiedlichen Mei­nun­gen schiedlich friedlich aushalten solle, während andere denken, dass sie zwar nicht die Mitte des Glaubens sind, aber diese Mitte doch so wesentlich betreffen, dass Klärung notwendig ist. Mein Dachdecker mag mir vielleicht sagen, ich solle mich nicht so aufregen; immerhin sei das Dach, das er gedeckt hat, doch an den meisten Stellen dicht. Es ist nur keine Lösung, wenn ich dieser Feststellung zustimmen kann und mir trotzdem das Wasser auf den Kopf tropft.

Wir müssten also unbedingt klären, ob die Streitpunkte, die uns trennen, nebensächlich sind oder ob es um entscheidende Glau­bensfragen geht. Das ist aber nur möglich, wenn sie auch kon­kret angesprochen werden und man sie nicht pietätvoll umgeht. Es sei nur daran erinnert, dass es genauso um die Frage geht, inwieweit die Bibel Gottes offenbartes Wort ist, wie um das Wesen der christlichen Ehe und ob sie auch gleichgeschlechtliche Beziehungen umfassen kann. Der Streit dreht sich um das Verständnis des Todes von Jesus Christus: War er zuerst Startpunkt für den Bau einer besseren Welt durch die Christen oder Sühnetod für die Sünden der Menschen? Es geht um die Jungfrauengeburt Jesu genauso wie um seine Auferstehung. Und damit ist die Liste längst nicht vollständig.

Martin Luther fand, dass die Ausarbeitung eines theologischen Kompromisses, mit dem beide Seiten leben konnten, keinen Sinn macht, wenn die tatsächlichen Unterschiede nicht überwunden werden.

Martin Luther ließ sich nur mit Mühe dazu überreden, an den Marburger Religions­ge­sprä­chen teilzunehmen. Das ausgearbeitete theologische Kompromisspapier hat auch in der Folge keine einende Wirkung zwischen der lutherischen und reformierten Reformation gehabt, obwohl man sich nur in einem von vielen Punkten, dem Abend­mahlsverständnis, nicht einig wurde. Das hatte aber auch etwas damit zu tun, dass Martin Luther, anders als Martin Bucer oder auch Philipp Melanchthon, von solchen Eini­gungs­verhandlungen wenig hielt. Dabei war er einer ordentlichen theologischen Diskussion keines­wegs abgeneigt. Er fand nur, dass die Aus­arbeitung eines theologischen Kom­promisses, mit dem beide Seiten leben konnten, keinen Sinn macht, wenn die tatsächlichen Unterschiede nicht überwunden werden. Was nützen – um die Sache auf die gegenwärtige Diskussion anzuwenden – Formeln wie „Wir bleiben die Gemeinschaft aller Jesusliebhaber“ oder in der Bibelfrage „Die Bibel ist Gotteswort in Menschenwort“? Alle Seiten stimmen zu, aber bleiben bei ihrer jeweils völlig anderen Deutung des Todes Jesu am Kreuz. Jeder nickt, aber der eine betrachtet die Bibel als kultur- und zeitgebundene religiöse Botschaft, die uns auch heute noch irgendwie anspricht und der andere erkennt in der Bibel Gottes irrtumsloses Reden, durch das er sich offenbart hat und das so Autorität beansprucht, dass es unsere Aufgabe ist, gehorsam Schlussfolgerungen für unser Denken und Handeln daraus zu erkennen.

Gut formulierte Kom­promisse haben für die Christen nur einen Wert, wenn die Sätze mit den gleichen Inhalten gefüllt werden und auch vor der Wahrheit Gottes bestehen können.

Aber selbst wenn wir einen Formel­kom­promiss mit den gleichen Inhalten füllen würden, wäre er nur dann von Wert, wenn er auch vor der Wahrheit Gottes bestehen kann. Luther hielt es zurecht für menschlichen Hochmut, wenn sich Theologen zusammensetzen, um eine Lösung im Streit zu finden, mit der alle gut leben können, statt zu fragen, was Gottes Wahrheit ist, unter die wir uns gemeinsam beugen müssen. Was soll es also bringen, wenn sich Thorsten Dietz und Stephanus Schäl über irgendetwas einigen? Geht es um ihr persönliches Verhältnis, mögen wir uns freuen, dass zwei Brüder nicht streiten. Geht es aber um die Kirche des Herrn Jesus Christus und um die Wahrheit des Evangeliums, für das diese Kirche als Säule und Zeuge der Wahrheit steht, dann ist die Einigkeit zweier Brüder oder auch größerer Gruppen oder Gemeindeverbände nur dann Grund zur Freude, wenn sie eins werden in der Wahrheit und der Liebe.

2. Von Diagnosen und Hoffnungen

(Der konservative) Stephanus Schäl sieht die Ursachen für den „Albtraum“ der fehlenden Einheit erstens darin, dass Christen die Einheit dadurch gefährden, dass sie ihre persönliche Erkenntnis, ihre „Biografie“ und ihren „Frömmigkeitsstil“ zum Maßstab machen. Weil eben der persönliche Glaube regiere, seien „Vorurteile und Lagerdenken“ Hindernis für „echte“ Einheit. Außerdem habe jeder „blinde Flecken“ und seine „Art zu denken“. Schäl erkennt ein weiteres Problem in einem „unterirdischen Ton“ in den Debatten um Streitpunkte. Sind es diese ziemlich gewöhnlichen Sünden, die die Einheit in der Dimension des Albtraums verhindern? All das sind Probleme, die die christliche Gemeinde immer begleitet haben und die auch in der Bibel in vielfältiger Weise angesprochen werden. Haben sie so überhandgenommen? Oder wird diesen Sünden nicht mehr mit Ermahnung begegnet?

Aber Schäl will den Sünden nicht auf biblische Weise mit Ermahnung und dem Ruf zur Demütigung und zur Umkehr begegnen, sondern mit Lösungsvorschlägen, deren Spitze darin besteht, die Einheit der Bibel als „Modell“ für christliche Einheit zu nehmen. Gedacht ist daran, dass die Verschiedenheit der biblischen Bücher als „verschiedene Stimmen“ verstanden werden, die „miteinander im Dialog“ sind.

„Einheit ist dort möglich, wo man sich auf die Vielfalt der Stimmen einlässt und diese Pluralität für die Gesamtbotschaft des christlichen Glaubens fruchtbar macht – ohne dadurch die zentralen Botschafen des christlichen Glaubens zu negieren.“

Stephanus Schäl will auf keinen Fall die Bibel zur Disposition stellen, um Einheit zu erreichen. Er erkennt verschiedene Sünden als Problem, aber will das Problem nicht mit dem Ruf zur Umkehr angehen, sondern progressiv, indem er die Idee der Ergänzung der Verschiedenheiten zum Modell macht. In der Bibel sind es allerdings nicht verschiedene Missverständnisse über biblische Aussagen, mangelhafte Gotteserkenntnis an unterschiedlichen Stellen, sektenhafte Übertreibungen oder gar Irrlehren, die sich gegenseitig zum großen Ganzen ergänzen. Die Ergänzung der verschiedenen Glieder zu einem Leib, dessen Haupt Christus ist, ist eine biblische Beschreibung der Einheit, aber eben auf einer anderen Grundlage. Schäls Hoffnung repräsentiert eher Hegelsche Geschichtsphilosophie2, die um eine Kom­po­nente „Dialog“ nach Jürgen Habermas erweitert ist.

Es erscheint mir als seltsame Vorstellung, dass wir einfach die Irrtümer zur Rechten mit denen zur Linken verbinden und ausgleichen und daraus die Einheit der Christen werden kann.

Wir können der Botschaft der Heiligen Schrift nicht nebenbei gehorsam werden. Sie steht in einem Streit mit unseren Gedanken und Irrwegen, die von der Sünde bestimmt sind. Bibeltreu zu sein ist ohne Umkehr von falschen Gedanken und Wegen gar nicht möglich. Wir werden von Gottes Wort nicht dauernd bestätigt, wie gut wir sind und dass unsere Wege schon irgendwie zu einem guten Ziel kommen. Auch die Briefe des NT, die sich alle an Christen richten, enthalten einen großen Anteil Ermahnung, Zurechtweisung, Aufklärung von Irrtümern. Vor diesem Hinter­grund ist es eine seltsame Vorstellung, dass wir einfach die Irrtümer zur Rechten mit denen zur Linken verbinden und ausgleichen und daraus die Einheit der Christen werden kann. Alle müssen sich unter die gewaltige Hand Gottes beugen und sich vor ihm demütigen. Ohne Buße gibt es keine christliche Einheit.

(Der progressive) Thorsten Dietz erkennt die Hauptursache für das Ringen um Einheit darin, „dass die Christenheit sich grundsätzlich in einer Zeitenwende befindet“. Es sind gewissermaßen Anpassungsschwierigkeiten, die sich im Streit unter den Christen äußern. Vor allem die Säkularisierung habe das hervorgerufen, die sich aktuell darin zeigt, dass sich viele Menschen von der Kirche und den christlichen Prägungen distanzieren wollen. Auch durch eigene Skandale haben die Kirchen ihren Ruf geschädigt und so viel Macht zum Einfluss auf die Gesellschaft verloren: „Die Kirche hat nicht mehr das Sagen“.

Die Lösung sieht Thorsten Dietz in einer „neuen Beschei­denheit“ als „Wesens­merkmal des Glau­bens“. Was er damit meint, wird in der Entfaltung klar. Es geht darum, die tatsächliche Ver­schie­denheit im Glauben und in den Kirchen anzuerkennen. Die vorhandenen Kirchen sollen nicht in Frage gestellt werden. Auch der Glaube anderer soll nicht bezweifelt werden:

„Gemeinsamkeit kann nur dort entstehen, wo man einander den Glauben glaubt.“

Es soll wohl besser nicht danach gefragt werden, ob die Bibel wirklich Grundlage für den Glauben bei anderen ist, die sich Christen nennen, wie sie die Dreieinigkeit Gottes oder die Gebote Gottes verstehen. In Bescheidenheit sollen wir „einander zugestehen“, dass das schon alles irgendwie in Ordnung ist. Selbst „hochengagierte Gläubige“ seien sowieso nicht in der Lage, die strittigen Fragen zu verstehen. Man soll sie deswegen einfach offenlassen. Dietz hat keine Angst, dass das zu einer „grenzenlosen Ökumene“ führt. Vielmehr könne man sogar besser das „Wunder des Glaubens und das Geschenk der Verbundenheit“ staunend erfahren, wenn man christliche Lehrentscheidungen nur als je persönliche Bibelauslegung ansieht und nicht als Lehren der Bibel. In klaren Lehraussagen, die sich auf die Bibel berufen, erkennt Dietz dann auch hauptsächlich falsches Machtstreben.

Stattdessen solle man sich auf den Auftrag Gottes besinnen. Christen sollen das „unbedingte Ja Gottes“ in kreativen Formen weitererzählen. Mit guten Taten werden sie zu „Welt­verbesserern“. Sie sollen alle Menschen in die „Zugehörigkeit“ zu der wunderbaren Gemeinschaft aus gleichberechtigten Brüdern und Schwestern einladen. Die Kirche solle als feiernde Kirche die Schönheit der Schöpfung, das Wunder der Zuwendung Gottes und die Erneuerung durch Gottes kreativen Geist feiern und so attraktiv für die „Zeitgenossen“ werden.

Wovon Thorsten Dietz spricht, ist deswegen überhaupt keine christliche Einheit. Es ist eine freundliche Akzeptanz unter­schiedlicher Meinungen.

Was Thorsten Dietz darstellt, klingt auf den ersten Blick demütig und hoffnungsvoll, positiv und motivierend. Dabei ist er allerdings erstaunlich weit weg von dem Wort Gottes der Bibel. Tatsächlich klingt das Ganze mehr nach Friedrich Nietzsche und seinem Konzept vom „Willen zur Macht“ in einer Form, wie sie von Michel Foucault zu „Der Wille zum Wissen“ weitergeführt wurde. Foucault deutete das Streben nach Wissen und Erkenntnis als Willen, Macht zu erlangen und über andere auszuüben. Wer also „bescheiden“ lieber nichts Genaues über Gott weiß, der versucht auch nicht andere mit seiner Erkenntnis zu unterdrücken. Genauso deutet Thorsten Dietz dann 2. Korinther 1,24 als „Schlüsselvers für die Zukunft der Kirche“. Niemand soll sagen, dass irgendetwas so oder so geglaubt werden muss, um Christ zu sein und gerettet zu werden. Das bedeute nämlich sich zu „Herren über den Glauben“ Anderer aufzuschwingen. Die Kirche verzichtet so auf diese „Disziplinarmacht über die Herzen und Wege der Menschen“ und wird „ein Ort zwangloser Einladung“.

Der biblische Weg ist offenbar ein anderer: Der Glau­bende will Gott und seinen Willen erkennen. Er hält diesen dann nicht nur für einen „Beitrag zur Debatte“, sondern für die absolute Wegweisung der Autorität Gottes. Diese Erkenntnis ist dann nicht reine Privatmeinung, es sei denn, es handelte sich tatsächlich um eine private Spekulation und nicht um die offenbarte Wahrheit Gottes. Nicht anders ist Paulus den Korinthern gegenüber aufgetreten. Was das Evangelium ist und wie man zur Auferstehung steht, ist keine Ansichtssache, die Menschen am „Ort zwangloser Einladung“ miteinander erwägen, sondern Gottes Wahrheit (1Kor 15). An dieser vorbeizugehen, würde den ganzen Glauben leer und sinnlos werden lassen. Christen verkünden die absolute Wahrheit Gottes, aber sie tun das eben trotzdem nicht als Herren über den Glauben anderer, weil es Herrschaft über echten Glauben nicht geben kann. Zwang bringt nämlich keinen Glauben hervor. Deswegen ermahnt Gott die Menschen, indem Christen als Botschafter an der Stelle von Christus bitten: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20). Aber der Glaube kommt doch aus der Verkündigung des Wortes der Wahrheit (Röm 10,17).

Wovon Thorsten Dietz spricht, ist deswegen überhaupt keine christliche Einheit. Es ist eine freundliche Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen, die ganz allgemein dem heutigen Verständnis eines (christlichen) Umgangs mit dem Nächsten entspricht. Dass es sich dabei nicht um echte christliche Toleranz handelt – also das Ertragen von abweichenden Meinungen aus Liebe –, sieht man daran, dass er mit der „neuen Bescheidenheit“ letztlich fordert, den Wahrheitsanspruch der eigenen Überzeugungen zu relativieren und Glaubensaussagen unter Vorbehalt zu stellen. Das klingt zwar bescheiden, ist aber kaum durchzuhalten. Die modernen Toleranten sind gegenüber abweichenden Meinungen dann auch meist sehr intolerant.

Christliche Einheit findet sich dort, wo Gläubige entdecken, dass sie durch Gottes Wort und Geist zum gleichen Glauben, an den gleichen Gott und Christus geführt wurden. Sie finden sich als eins in Christus wieder.

Christliche Einheit findet sich dort, wo Gläubige entdecken, dass sie durch Gottes Wort und Geist zum gleichen Glauben, an den gleichen Gott und Christus geführt wurden. Sie finden sich als eins in Christus wieder. Das ist allerdings keine reine Gefühlssache, sondern auch eine Sache der Inhalte des Glaubens. Einheit besteht nicht zwischen denen, die Jesus für einen antiken Guru halten, und denen, die an ihn als Sohn Gottes und Opfer für unsere Sünden glauben. Ist aber Einheit in Christus da, dann lehnten sie Christus selbst ab, wenn sie einen anderen Jünger von Jesus ablehnen, der doch durch Christus gerettet ist. Die geschenkte Einheit wollen Christen deswegen nicht durch die Sünde des Stolzes oder der Herrschsucht oder der Streitsucht gefährden. Sie können aber nicht irgendeine Übereinkunft mit einem anderen Menschen zum Maßstab machen und dazu die erkannte und geglaubte Wahrheit über Christus relativieren. Auch so verlören sie die geschenkte Einheit. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, ihren sündigen Neigungen, die die Einheit gefährden, keinen Raum zu geben. In Thorsten Dietz‘ System gibt es allerdings solche Wahrheit wohl gar nicht. Bei ihm scheint eine Schleiermacher-Dogmatik zugrunde zu liegen. In dieser gibt es nämlich keine göttliche Wahrheit, sondern nur menschlich-relative Überzeugungen, während die Wahrheit Gottes für alle unzugänglich bleibt. Da wäre es natürlich auch nicht richtig, seine persönliche Erkenntnis gegenüber anderen für absolut zu erklären. Allerdings hat Gott in diesem System auch keine Chance mehr, uns seine Wahrheit zu übermitteln. Wir bleiben immer bei uns und werden höchstens ergänzt durch andere menschlich-persönlich-religiöse Meinungen.

3. Hoffnung auf Einheit?

Während also Stephanus Schäl noch eine Hoffnung auf „echte“ biblische Einheit hat, scheint mir Thorsten Dietz diese Hoffnung verloren zu haben. Er ersetzt nämlich die christliche Einheit durch ein anderes Konzept, das zwar Ähnlichkeit haben mag, aber etwas völlig anderes ist. Das zeigt sich auch im zweiten Teil des Gesprächsinterviews, das darauf hinausläuft, dass die „neue Bescheidenheit“ zur Wahrung oder Erreichung der Einheit sich widersprechende Lehren stehen lässt und darauf wartet, welche von ihnen sich in 40 bis 70 Jahren durchsetzt. Thorsten Dietz sagt das so:

„Ich wünsche mir, dass man biblisch vielleicht mal mit Gamaliel sagt: Wenn das von Gott kommt, dass sich eine neue Einsicht durchsetzt, werden wir es nicht stoppen können. Wenn es nicht von Gott kommt, wird das Ganze irgendwann scheitern, wird zusammenbrechen. Jetzt gucken wir Tag für Tag und bleiben im Gespräch.“3

Der Zusammenhang macht deutlich, dass er hier auch die Streitthemen Sexualethik und Offenbarungsverständnis im Blick hat. Man solle zur Wahrung christlicher Einheit einfach miteinander im Gespräch bleiben, aber ansonsten abwarten, welche Lehre sich in Hinsicht auf Homosexualität oder „Ehe für alle“, aber wohl auch im Bibelverständnis einmal durchsetzt. So entscheiden scheinbar nicht Menschen, sondern Gott durch die Leitung der Geschichte seiner Gemeinde.

Was wie Demut klingt und scheinbar die geforderte Bereitschaft zur Buße und Erneu­erung unseres Denkens enthält, ist eher das Gegenteil. Man will sich gerade nicht klaren Aussagen der Bibel als Gottes Wort beugen. Vielmehr steht der Entschluss fest, sich den Erkenntnissen des Zeit­geistes zu beugen und die biblischen Aussagen dem irgendwie anzupassen. Anschließend schiebt der Mensch die Verantwortung für seine selbstgewählten Wege zurück zu Gott: Er kann sie ja untergehen lassen, wenn er etwas nicht will. Damit verneint der Mensch klare Aussagen Gottes, die ihm nicht passen und missbraucht die Güte und Geduld Gottes. Dann macht er Gott verantwortlich: Er hätte uns doch auf unserem falschen Weg aufhalten können. Außerdem wird unterstellt, dass Gott mit dem Gang der Geschichte – bzw. unserer freien Interpretation der geschichtlichen Entwicklungen – sein eigenes Wort revidiert. Das entspricht moderner Hermeneutik, wo z.T. behauptet wird, der Zeitgeist sei die Schwester des Heiligen Geistes. Wenn sich also das Denken über Homosexualität allgemein geändert hat, dann sei das unter der Leitung des Heiligen Geistes geschehen, der damit die biblischen Aussagen weiterentwickelt. Diese Art von „Demut“ und „Bescheidenheit“ riecht mir nach Hochmut und Bes­ser­wisserei gegenüber Gott. Mit dem genannten hermeneutischen Kniff lässt sich dem Heiligen Geist so ziemlich alles unterstellen.

Auch Erasmus von Rotterdam hatte in seiner Aus­ein­an­der­setzung mit Martin Luther um den freien Willen eine bestimmte Form der Unentschiedenheit als Demut dargestellt und gemeint, er wolle lieber nicht mit „festen Behauptungen“ auftreten. Luther hat darauf in seiner Schrift „Vom unfreien Willen“ geantwortet: Für ihn sei der christliche Glaube am Ende, wenn er in den klaren Dingen nicht mehr mit festen Behauptungen aufträte und seine Botschaft mit Gewissheit verkündete.

„Eine ,feste Meinung‘ (assertio) aber nenne ich (damit wir nicht mit Worten spielen): einer Lehre beständig anhängen, sie bekräftigen, bekennen, verteidigen und unerschüttert bei ihr ausharren; nichts anderes, glaube ich, bedeutet dieses Wort (asserere) im Lateinischen, sei es nach unserem Brauch oder dem unseres Jahrhunderts. Weiter: ich spreche davon, dass man eine feste Meinung haben muss in jenen Dingen, die uns durch Gott in den heiligen Schriften überliefert sind.“

Martin Luther: „Welcher Christ könnte den Satz ertragen, dass feste Meinungen nicht zu ertragen seien? Das würde nichts anderes bedeuten, als ein für alle Mal alle Religion und Frömmigkeit zu verleugnen.“

„Aber ich bin mehr als töricht, wenn ich mit einer Sache, die klarer ist als die Sonne, Worte und Zeit verliere. Welcher Christ könnte den Satz ertragen, dass feste Meinungen nicht zu ertragen seien? Das würde nichts anderes bedeuten, als ein für alle Mal alle Religion und Frömmigkeit verleugnet, oder fest behauptet zu haben, dass Religion oder Frömmigkeit oder irgendeine Lehre nichts sei. Was also versicherst Du bestimmt: Du hättest keine Freude an festen Meinungen, und: diese Sinnesart sei Dir lieber als die entgegengesetzte?“4

Wer die notwendige Toleranz in unklaren Lehrfragen oder bei Mitteldingen auf den gesamten Glauben ausweitet, der verleugnet ihn letztlich. In dem genannten Interview wird wieder einmal die Tauffrage als Paradebeispiel hervorgeholt, um zu zeigen, dass Christen doch Einheit bewahren können, indem sie darüber nicht streiten, sondern es jeder so macht, wie er es für richtig hält. Das ist allerdings in mehrfacher Hinsicht irreführend. Die Lehre von der Taufe ist nämlich nicht im Ganzen weder unklar noch eine Nebenfrage. Sie begründet sogar die Einheit der Christenheit mit (Eph 4,1-6). Tolerabel erscheint mir die unterschiedliche Praxis, die aber jeweils aus dem an sich klaren biblischen Verständnis der Taufe abgeleitet werden muss.

In seiner Auslegung des Galaterbriefes von 1531 fordert Luther seine Zuhörer recht offen zu einem gewissen Hochmut auf. Er erklärt:

„Ich weiß es, dass unter Frommen Demut walten muss, aber gegen den Papst muss und will ich einen heiligen Hochmut anwenden.“

Der Obrigkeit des Papstes will sich Luther nicht unterwerfen, „weil ich gewiss weiß, dass meine Lehre wahr und göttlich ist“. Er würde den Papst auf Händen tragen und ihm die Füße küssen, aber nur wenn der anerkennen könnte, dass „Gott allein aus lauter Gnade rechtfertigt durch Christus“.

„Da sei ferne alle Demut, wenn sie uns unseren Ruhm rauben wollen, Gott selbst, der uns geschaffen und alles gegeben hat, Jesus Christus, der uns durch sein Blut erkauft hat. Wir wollen uns gern alle Güter, den Namen, das Leben und alles, was wir haben, rauben lassen, das Evangelium, den Glauben, Christus und was weiter wollen wir uns nicht wegnehmen lassen. Damit punctum.“

Luther unterscheidet klar, ob es sich bei der „Demut“ oder „Bescheidenheit“ um Fragen des Glaubens handelt oder um die Liebe zum Nächsten. In dem, was die Bibel klar lehrt, können wir nicht keine Kompromisse machen, um den lieben Frieden zu bewahren und das dann Einheit nennen. Lieben sollen wir aber auch Menschen im Irrtum und auf Irrwegen weiterhin. Sogar die offenen Feinde der Wahrheit Christi erfahren Liebe, ohne dass wir ihren Lügen und Irrtümern zustimmen.

Beim Ringen um die Einheit geht es offenbar weitgehend um andere Dinge, als sie uns durch die Beiträge und das Interview in „Aufatmen“ nahegebracht wurden. Das ist auch anderen aufgefallen, die sich nicht von einem freundlichen Gespräch zwischen einem konservativen und einem post-evangelikalen Theologen täuschen lassen, das so keine christliche Einheit widerspiegelt.

Genannt sei Markus Till, der in seinem Blog5 auch darauf aufmerksam macht, dass die Frage nach richtiger und falscher Lehre in dem ganzen Interview umgangen wird. Er zeigt aber auch anhand verschiedener Beispiele, dass selbst eine Art praktischer Einheit unter Aussparung aller Streitpunkte nicht realistisch ist. Das liegt nach seiner Beobachtung vor allem daran, dass die progressiven Postevangelikalen gar nicht willens sind, z.B. die Frage nach der „Ehe für alle“ offenzuhalten, sondern Tatsachen schaffen und andere Ansichten als Diskriminierung Homosexueller brandmarken.

Peter Bruderer hat in seinem Blog auf die nur scheinbar christliche „Gamaliel-Strategie“ aufmerksam gemacht. Die Exegese des Rates aus Apostelgeschichte 5,38-39 lege näher,

„dass der Rat des Gamaliel vielleicht einfach der schlaue strategische Schachzug eines sehr intelligenten aber von eigenen Interessen geleiteten Machtmenschen war. Dieser Schachzug setzt darauf, dass niemand gerne mit dem Stigma des Moralisten, des Intoleranten oder des Fundamentalisten behaftet sein will. Dieser Schachzug liefert auch gleich das theologische Argument, mit dem man sich aus der Affäre ziehen könnte: Man soll sich dem Wirken Gottes nicht in den Weg stellen. Es wird sowieso passieren, was Gott will. Nicht zuletzt vermag dieser Schachzug die eigenen Ambitionen mit einem Kleid von angeblicher Bescheidenheit und Toleranz zu kaschieren.“6

Wir haben gesehen, dass die „Gamaliel-Strategie“ von Thorsten Dietz genau in diese Richtung zeigt: sich aus der Affäre ziehen und dabei als tolerant erscheinen, während die postevangelikale Agenda mit Hochdruck vorangetrieben wird. Ist das wirklich Förderung und Bewahrung der christlichen Einheit?

Was aber sind biblische Wege zur Stärkung und zum Schutz der Einheit? Wir müssen in der Gefährdung der Einheit erstens immer klären, inwiefern die Liebe und die Wahrheit verletzt wurden. Die Verletzung der Liebe darf sich nicht hinter einem Streit um die Wahrheit des Glaubens verstecken. Die Verletzung der Wahrheit kann aber auch nicht mit anscheinenden Zeichen der Liebe überdeckt werden, wie es hier mit einem freundlichen Gespräch geschieht. Wenn es um klare Lehrfragen geht, wie die Sexualethik oder das Offenbarungs- und Bibelverständnis, dann müssen wir darüber reden. Haben wir einander mit Streitsucht oder Herrschsucht, unfreundlichen Worten oder übler Nachrede verletzt, sollte das beim Namen genannt werden. Ist beides der Fall, muss auch beides ohne falsche Vermischung auf den Tisch. Wir tappen in diesen Dingen durch Gottes Wort doch nicht im Dunkeln.

Zweitens kann das alles nur fruchtbar werden, wenn es mit einer Haltung der Bereitschaft zur Umkehr von falschem Denken und von falschen Wegen angefangen wird. Stolz und Selbstverliebtheit sind zwar verbreitet und scheinen zum modernen „gesunden“ Selbstbewusstsein zu gehören. Sie sind aber nicht christlich. Bereitschaft zur Beugung ist dabei bei allen notwendig. Sie kann nicht nur immer von der anderen Seite gefordert werden. Das heißt aber gerade nicht, dass die Wahrheit des Wortes Gottes dabei geopfert wird. Wir können nicht Buße dafür tun, dass z.B. die biblische Sexualethik durchweg mit der Kontrolle unseres sexuellen Begehrens verbunden ist, die dazu führen kann, dass zeitweise oder sogar ganz auf bestimmte Formen der Befriedigung verzichtet werden muss. Wir können aber Buße tun, wo wir die Gebote Gottes ohne Mitgefühl und Barmherzigkeit, aber mit Selbstgerechtigkeit auf andere angewandt haben.

Drittens gibt uns die Bibel mit ihren Er­mah­nungen genug klare Hinweise, wie Ein­heit gefährdet wird und wie sie bewahrt werden kann. Christliche Einheit können wir nie selbst erschaffen, sie bleibt ein Geschenk des Glaubens. Wir gefährden oder zerstören sie durch falsche Lehre, Unglauben und alle Formen der Lieblosigkeit. Deswegen ist es so wichtig, dass wir die Wahrheit in Liebe festhalten, aber die Wahrheit nicht einer vermeintlichen Liebe opfern. Zu erleben, dass ich mit Geschwistern aus völlig anderen Traditionen, Kulturen und Sprachen durch den gleichen Glauben verbunden bin, gehört allerdings für mich zu den Highlights gelebten Christseins.


  1. „Einheit oder Einheitlichkeit?“ in Aufatmen 2/2023: 52-58. Zweiter Teil unter dem Titel „Spannung halten – im Gespräch bleiben“ in 3/2023. 

  2. Hegel vertrat die Ansicht, dass im Ringen des „Weltgeistes“ These und Antithese sich auf einer höheren Ebene zur Synthese vereinen. 

  3. „Spannung halten – im Gespräch bleiben“, Aufatmen 3/2023. 

  4. Martin Luther, Vom unfreien Willen (WA 18,603). 

  5. https://blog.aigg.de/?p=7114 

  6. https://danieloption.ch/featured/die-gamaliel-strategie/ (15.10.2023)