Mit den als „Studium Integrale“ klassifizierten Monographien legt die bekannte Studiengemeinschaft Wort und Wissen fachbezogene Forschungsergebnisse zu unterschiedlichen Themen vor. Johannes Gonser hat in dieser aktuellen Veröffentlichung die Debatte um den Schwangerschaftsabbruch aufgegriffen und sie aus philosophischer und speziell ethischer Perspektive analysiert.
Nach einigen Grundlegungen und Vorbemerkungen formuliert der Autor die Begründung seiner traditionell von gläubigen Christen vertretenen These, dass ein Schwangerschaftsabbruch ausnahmslos moralisch falsch und unzulässig ist. Unter den Prämissen, dass es ausnahmslos moralisch falsch und unzulässig ist, einen unschuldigen oder schuldunfähigen Menschen direkt oder indirekt zu töten (Prämisse 1), und dass ein ungeborener Mensch ein unschuldiger bzw. schuldunfähiger Mensch ist (Prämisse 2), kommt er zu der o.g. These. Anschließend geht er der Frage nach, wann ein Mensch zu existieren beginnt. Er zeigt auf, dass es nach aktuellem Kenntnisstand „aus naturwissenschaftlicher Sicht (…) keinen Grund [gibt], daran zu zweifeln, dass die Existenz und Entwicklung eines individuellen menschlichen Wesens mit der Empfängnis im hier definierten Sinne beginnt“ (S. 26).
Auf mehr als 40 Seiten befasst sich der Autor ausführlich mit der populären These, wonach sich Personsein durch erworbene mentale, kognitive und psychische Befähigungen konstituiert. Gonser lässt hier wie in dem gesamten Werk die von ihm nicht geteilten Positionen von Abtreibungsbefürwortern ausdrücklich zu Wort kommen und formuliert dann entsprechende Erwiderungen. Hervorzuheben und dem wissenschaftlichen Anspruch angemessen ist, dass der Autor in sachlich-nüchterner Weise analysiert und auf Emotionalitäten und Polemik gänzlich verzichtet. Am Ende dieses Kapitels kommt er zu dem Urteil, dass alle diskutierten Konzepte zur Legitimierung eines Schwangerschaftsabbruchs zwangsläufig auch zur Zulässigkeit von Infantizid (die absichtliche Verursachung des Todes eines sehr jungen Kindes) führen.
Im Anschluss daran stellt Gonser die „substanzbasierte Konzeption“ vor. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass Personsein sich dadurch begründet, dass ein Wesen eine rationale Natur aufweist. Es gehört in diesem Fall „zu einer Art und Spezies (…), deren gesunde Mitglieder das intrinsische Vermögen aufweisen, unter lebensfreundlichen Bedingungen die für die speziesspezifische Natur konstitutive Veranlagung zur Ausbildung von rationalen und moralischen Befähigungen zur Entfaltung zu bringen“ (S. 115f.). Auch hier geht der Autor auf Einwände wie z.B. auf die des bekannten Philosophen Peter Singer ein.
Vor der Zusammenfassung beschäftigt sich Gonser mit der populären Frage, ob es Umstände gibt, die das absichtliche Töten einer unschuldigen Person (juristisch) rechtfertigen können. U.a. mit der Unterscheidung von positiven und negativen Rechten und Pflichten kann er folgern, dass ein Schwangerschaftsabbruch auch unter den zugestandenen Grundannahmen nicht gerechtfertigt werden kann.
Wort und Wissen (Studium Integrale) (Hrsg.): Gonser, Johannes: Abtreibung – Ein Menschenrecht? Argumentationshilfen zur Debatte um den Schwangerschaftsabbruch. Holzgerlingen: SCM Hänssler 2023. 128 S. Hardcover: 15,- €. ISBN: 9783775161879
Der Autor hat mit seinem Werk einen exzellenten Beitrag für die Debatte geleistet. Der Leser erfährt den aktuellen Stand der Diskussion und bekommt darüber hinaus auch einen spannenden Einblick in die Art der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Gerade die vielen konstruierten Fallbeispiele, Analogieversuche und Schlussfolgerungen zeigen dies treffend. Leider muss davon ausgegangen werden, dass den Thesen des Autors in der Fachwelt und breiten Öffentlichkeit keine große Bedeutung beigemessen wird, da die Diskussion m.E. zu einseitig geführt wird. Wenn Gonser im Rahmen der Diskussion um die funktionalen Konzepte folgert, dass „die exakt selben Schutzrechte auch einem Großteil der Tiere zugesprochen werden [müssten]“, damit die Konzepte schlüssig sind, so scheint meiner Beobachtung nach der Weg zu einem immer größeren Tierschutz mit Schutzrechten bei gleichzeitiger Verneinung des Rechts auf Leben des ungeborenen Kindes vorgezeichnet.
Im Ergebnis bekommen Christen eine wertvolle und schlüssige Argumentationshilfe an die Hand. Wegen der wissenschaftlichen Vorgehensweise und Sprache fordert das Buch bei Nicht-Akademikern eine erhöhte Konzentration und gedankliche Arbeit ein – eine Arbeit, die sich lohnt!