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Der Siegeszug des modernen Selbst

Carl R. Trueman, Historiker und Theologe, hat mit diesem Werk, welches im Jahr 2020 zunächst in Englisch veröffentlicht wurde, eine bedeutende Analyse des modernen Selbst vorgelegt. Das Werk fand weite Verbreitung (vgl. z.B. die ungewöhnlich hohe Bewertungsanzahl bei Amazon) und traf offenbar den Nerv der Zeit. Die Übersetzung ins Deutsche ist aber nicht nur deshalb, sondern gerade wegen der starken Analyse sehr zu begrüßen.

Grundlegend für Truemans Darstellung sind die Forschungserträge des Philosophen Charles Taylor, des Soziologen Philip Rieff und des Ehtikers Alasdair MacIntyre. Von Charles Taylor übernimmt er u.a. die Erkenntnis, dass die westliche Weltsicht die Welt nunmehr als Rohmaterial begreift, „aus dem sich das Individuum Sinn und Bedeutung erschaffen kann“ (S. 47), ganz im Gegensatz zur früheren Sichtweise, wonach die Welt eine Ordnung und einen Sinn habe, die es zu ergründen gelte (sog. Übergang von der mimetischen zur poietischen Sichtweise).

Rieff dagegen beschreibt die Kultur des Menschen mit verschiedenen Typen. Der momentan vorherrschende Menschentyp sei der des „psychologischen Menschen“, der seine Identität „durch die nach innen gerichtete Suche nach persönlichem Glück“ (S. 54) finde. Die (moderne) Sinnstiftung, eigenen Gefühlen und Wünschen Ausdruck zu verleihen, bezeichnet Taylor als expressiven Individualismus. Die therapeutischen Bedürfnisse des Menschen stehen bei dieser Weltsicht im Mittelpunkt.

Diese Weltsicht hat weitreichende und ernstzunehmende Folgen für die Gesellschaft. Traditionelle Moralvorstellungen werden als problematisch angesehen, weil sie den inneren Wünschen im Wege stehen. Auch Meinungs- und Redefreiheit werden als Unterdrückungsmittel verstanden (so z.B. bei Herbert Marcuse), wie sich in der Diskussion um die Wortneuschöpfung „Hassrede“ zeigt. Rieff beschreibt deshalb die aktuelle Situation nicht als Kultur, sondern als Antikultur, die darauf ausgerichtet ist, traditionelle Ordnungen bewusst zu destabilisieren bzw. zu zerstören. Später bezeichnet Trueman sie auch als antihistorisch, weil sie auf verschiedene Art und Weise Gegebenheiten zu vergessen machen sucht (S. 114ff.).

Von MacIntyre greift der Autor den sog. Emotivismus als Gesellschaftstheorie auf. Dieser lehrt, dass „alle wertenden Urteile oder genauer alle moralischen Urteile nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen sind, soweit sie ihrem Wesen nach moralisch oder wertend sind“ (S. 98). Trueman kommt, kurzgefasst, zu dem folgerichtigen Ergebnis, dass diese Gesellschaftstheorie erklärt, warum wir heute nicht mehr in der Lage sind, sinnvolle ethische Diskussionen zu führen. Jede Seite neige dazu, den Emotivismus als Gesellschaftstheorie polemisch gegen ihre Gegner einzusetzen (S. 101).

Trueman, Carl R.: Der Siegeszug des modernen Selbst. Kulturelle Amnesie, expressiver Individualismus und der Weg zur sexuellen Revolution. Bad Oeynhausen: Verbum Medien 2022 524 S. Hardcover: 26,90 € ISBN: 978-3-98665-022-3

Nach der wichtigen Grundlegung analysiert Trueman einzelne Puzzlestücke der Geschichte, die zum Gesamtbild des modernen Selbst beigetragen haben. Er beginnt mit Rousseau, der den Menschen im Gegensatz zur augustinischen Sicht als von Natur aus gut begreift und der lediglich durch die Kräfte der Gesellschaft korrumpiert werde. Seine Sichtweise, dass der Einzelne am besten sei, wenn er in Übereinstimmung mit seiner Natur handelt, wurde prägend und von weiteren Philosophen verfeinert. Die Romantik verbinde Poesie, Ethik und Ästhetik und befürworte eine Rückkehr zu den natürlichen Reizen, während gleichzeitig das Christentum als Freiheitszerstörer verstanden werde.

Konsequent dachten Denker wie Nietzsche, Marx oder Feuerbach das Sein ohne Gott weiter. Im Ergebnis sei die Abschaffung der Religion die Voraussetzung für wahres Glück, da sie in einer unglücklichen Welt ein falsches Glücksgefühl biete (S. 214).

Von Sigmund Freud kommt der Gedanke, dass der Mensch durch sein sexuelles Begehren definiert wird. Sex bestimmt danach, wer wir sind, als Individuen, als Gesellschaften und als Gattung (S. 263).

Nach der Sexualisierung des Selbst beschreibt der Autor die Politisierung von Sexualität. Das Konzept verschiedener Ansätze der sog. Kritischen Theorie versteht die vorherrschende westliche Darstellung von Wahrheit als ideologisches Konstrukt, das die Machtstruktur des Status quo bewahren soll. Ziel der Anhänger der Kritischen Theorie ist es, diese Machtstrukturen zu destabilisieren. Die traditionelle patriarchalische Familie wird als eine Einrichtung verstanden, die der Unterdrückung dient, weswegen sie als Institution von linken bzw. marxistischen Kreisen als problematisch betrachtet wird. Nach Wilhelm Reich soll der Staat eingesetzt werden, um Familien zu zwingen und, wo nötig, diejenigen zu bestrafen, die mit der geplanten sexuellen Befreiung nicht einverstanden sind (S. 282). Auch die biologischen Komponenten des Menschen werden als Tyrannei begriffen. Simone de Beauvoir, die zwischen gender und sex trennt, versteht den Körper als etwas, das es zu überwinden gilt. Seine Autorität sei abzulehnen.

Im vierten Teil des Werkes zeigt der Autor weitere erschreckende Entwicklungen auf. Mit dem Siegeszug der Pornographie wurde Sexualität von der realen körperlichen Begegnung gelöst und der Mensch als Mittel zum Zweck reduziert. Moderne Denker wie Peter Singer sehen den Menschen nicht mehr als besondere Spezies. Kennzeichnend für das Personsein seien Bewusstsein und Autonomie, was bei Kindern im Mutterleib nicht der Fall sei. Interessant ist in diesem Teil die Analyse Truemans, wonach die LGBTQ+-Bewegung keinesfalls eine homogene Gemeinschaft sei. Während die Lesbenbewegung einerseits und die Schwulenbewegung andererseits, die sich ebenfalls in den Anfängen deutlich ablehnend gegenüberstanden, noch durch die Denkkategorien „männlich“ und „weiblich“ geprägt waren, basieren Transgenderismus und Queer-Theorie auf der grundsätzlichen Leugnung des festen Charakters des Geschlechts. Die Auflösung sämtlicher Geschlechtskategorien wird z.B. bei Judith Butler deutlich, für die Geschlecht ein Tun und kein Sein ist, kein ontologischer Status, sondern eine Performance.

In einem „unwissenschaftlichen Prolog zum Ausgang“ gibt Trueman erste Ansätze, wie Christen diesem neuen säkularen Zeitalter begegnen können.

Das Werk ist wegen seiner sorgsamen und fairen Art der Darstellung nicht nur für Christen sehr zu empfehlen. Sowohl der Umfang als auch die wissenschaftliche Sprache und die erschreckenden Analysen werden einige Leser sicherlich stark beanspruchen. Ergänzend zu dem Werk wird der Leser die aktuellen Geschehnisse wie z.B. die Corona-Jahre und die Klimabewegung einordnen müssen. Die Sehnsucht nach einem starken Staat, der vor allem die Gesundheit des Menschen schützen soll, fällt ebenso unzweifelhaft auf wie die Sehnsucht nach einer allumfassenden Moral, die in der Klimabewegung gewisse transzendente Züge erkennen lässt. Es bleibt mit dem Autor zu wünschen, dass das Werk als eine Art Vorrede zu den Diskussionen, die Christen und andere über die dringendsten Fragen unserer Zeit führen sollten (S. 37), begriffen wird. Hilfreich wäre es, die roten Linien des Werkes in vereinfachter Weise zu verbreiten.