ThemenOrientierung, Zeitgeist und Bibel

Die große Geschichte des Neuen Testaments – … und die kleinen Geschichten des säkularen Westens

Die gegenwärtige säkulare Kultur ist ganz auf das irdische Glück und Wohlbefinden ausgerichtet. Man könnte geradezu von einer Diesseits-Versessenheit sprechen. Verwundern kann das aber nicht, weil der gegenwärtigen westlichen Kultur eine große Erzählung vom Woher?, Wozu? und Wohin? fehlt. Es sind viele kleine, eher individualistische Erzählungen, die Ziel und Orientierung geben sollen. Angesichts dessen ist es lohnend, wesentliche Eckpunkte der biblischen „Großen Geschichte“ nachzuzeichnen, die in der Weltgeschichte verankert ist und doch ewige Antworten geben kann.

Meine Frau zeigte mir vor kurzem eine Liedstrophe, die sie mit unseren beiden jüngsten Söhnen auswendig lernte. Sie stammt von Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769)1:

Ist nicht ein ungestörtes Glück

Weit schwerer oft zu tragen,

Als selbst das widrige Geschick,

Bei dessen Last wir klagen?

Die größte Not

Hebt doch der Tod;

Und Ehre, Glück und Habe

Verläßt mich doch im Grabe.

Als Europäer des 21. Jahrhunderts stutzen wir bei dieser Komposition. Wonach streben wir nämlich? Doch gerade nach ungestörtem Glück! Unser Ideal ist ein von äußerer Belästigung befreiter Raum des ungestörten Wohlbefindens. Hier wird jedoch das „widrige Geschick“ als leichter tragbar beschrieben. Wie kommt dies? Handelt es sich nicht um falsche Todessehnsucht? Solche Kompositionen aus anderen Jahr­hunderten können uns gelegentlich vom „Nebel der Gegenwart“ befreien. Die Diagnose für die heutige Zeit, die sich aus dem schroffen Gegensatz dieses Liedes ergibt, könnte man mit „Diesseits-Versessenheit“ zu­sam­menfassen.

In den folgenden Zeilen folge ich der Grundmelodie des Neuen Testaments und suche sie der säkularen Beschallung gegenüberzustellen. Als „säkular“ bezeichne ich verbreitete Denk- und Lebensgewohnheiten, die ohne den persönlich-unendlichen Gott auszukommen meinen.

Drei Beobachtungen zum Neuen Testament

1. Der christliche Glaube basiert auf einer «Großen Erzählung». Diese Ausdrucksweise spielt auf den Denker Jean-François Lyotard (1924-1998) an, der behauptete, dass die Zeit der großen Erzählungen vorbei sei. An der Stelle dieser einenden Geschichte gebe es bloss noch die kleinen Geschichten unserer eigenen Lebensverläufe. Das Neue Testament stellt uns in die „Große Geschichte“ von Gottes Heilsplan hinein. Diese ist kein seelen-tröstender Mythos, sondern Offenbarung Gottes in Zeit und Raum. Um es konkreter werden zu lassen: Jesus starb an einem wirklichen Kreuz aus Holz in Palästina! Wir müssen aufpassen, dass wir nicht vor lauter Gewöhnung an virtuelle Welten eine ähnliche Anschauung von der Bibel zu konstruieren beginnen.

Die „Große Erzählung“ des Neuen Testaments ist eine einheitliche, Jahrhunderte umfassende Botschaft, die in der Weltgeschichte verankert ist.

2. Diese „Große Erzählung“ enthält eine einheitliche Botschaft, die sich über beide Testamente hinzieht. Altes und Neues Testa­ment sind eng aufeinander bezogen. Das Neue Testament wimmelt von Bezügen auf das Alte. Das beginnt schon mit dem ersten Evangelium von Matthäus, der wiederholt mit der Formulierung „damit erfüllt würde…“ arbeitet. Oder denken wir an das letzte Buch der Bibel, das zahlreiche Bilder der alttestamentlichen Propheten Hesekiel, Sacharja oder Daniel aufgreift. Wenn die NT-Autoren auf die „heiligen Schriften“ referenzieren, dann meinten sie das Alte Testament (vgl. Johannes 5,39; Römer 15,4; 2. Timotheus 3,15; 1. Korinther 10,6+11). Aber auch das Neue Testament enthält gegenseitige Bezugnahmen. So erwähnt Petrus den Mitapostel Paulus und spricht a) von dessen von Gott zugeteilter Weisheit, b) schwer verständlichen Inhalten und c) der Verderben bringenden Wirkung dieser Inhalte auf Unbefestigte (2. Petrus 3,15-16). Vergessen wir dabei nicht, dass er von Paulus öffentlich zurechtgewiesen worden war (Galater 2,11-14), als er aus Menschenfurcht das Evangelium verleugnete. Trotzdem nennt er ihn einen „geliebten Bruder“ und erkennt seine Schriften an.

3. Diese „Große Erzählung“ ist in der Weltgeschichte verankert. Als nämlich Kaiser Augustus, Alleinherrscher des Römischen Reiches und selbsternannter göttlicher Imperator, auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt war, sandte Gott der Vater seinen einzigen Sohn (Lukas 2,1; Galater 4,4), der als Kind in einer Krippe zur Welt kam (Lukas 2,6). Der Gegensatz könnte nicht größer gewesen sein: Der Herr der Welt (kyrios – Herr war auch der Titel für die römischen Kaiser) entäußerte sich selbst, um die Gestalt eines Knechtes anzunehmen (Phil 2,7). Wenden wir uns jetzt der melodischen Linie des zweiten Testaments zu.

Endlich! Der Brennpunkt.

Es gibt einen einzigen Brennpunkt der gesamten Heilsgeschichte. Alles läuft darauf hin (das gesamte Alte Testament und seine Verheißungen), und alles geht von ihm aus (das gesamte Neue Testament und die Erfüllung). Petrus sprach davon, dass die alttestamentlichen Propheten sich wunderten, von welcher Zeit sie voraussagten (1. Petrus 1,10-11).

Der Brennpunkt der gesamten Heilsgeschichte im Alten und Neuen Testament liegt im Sterben des Sohnes Gottes für das Heil der Welt. Sein Schrei verdeutlicht seine totale Hingabe, die um der zukünftigen Freude willen Schreckliches erleidet.

Um das Jahr 30 erging der schrecklichste Schrei der Weltgeschichte. Der Gottessohn hing an einem römischen Kreuz, schwer atmend, und schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46). Er zitierte dabei wörtlich eine Verszeile aus Psalm 22. Von dieser Not, der Verlassenheit von Gott-Vater, hatte er gehofft, verschont zu bleiben. Der furchtbare Schrei verdeutlicht die Total-Hingabe des Sohnes, der um der vor Ihm liegenden Freude willen nicht nur den schändlichen Tod, sondern die Trennung von seinem Vater erduldete (Hebräer 12,3).

Ich verbinde diesen Schrei mit einem anderen. Esau, der sein Erst­geburts­recht für ein Linsengericht verscherbelt hatte, schrie laut auf, als er realisierte, welcher Segen ihm entgangen war (1. Mose 27,34). Das Neue Testament nimmt darauf Bezug und erwähnt den Schrei des Geprellten. Es war kein Ruf der Buße. Die Tränen galten dem entgangenen Vorteil (Hebräer 12,17). Er gleicht dem Schrei vieler, die sich einen optimalen Lebensverlauf einbilden und mit dem tatsächlichen hadern. Paulus spricht von Tränen wegen entgangenem Vorteil – im Gegensatz zur wahren Buße (2. Korinther 7,10). Die säkulare Musik lädt uns ein, alles für das Ich einzufordern.

Der schrecklichste Schrei der Weltgeschichte – Jesus am Kreuz

Der Schrei des Geprellten: Tränen für den entgangenen Vorteil.

Matthäus 27,46 vs. Hebräer 12,17

Die „Große Erzählung“ des Neuen Testaments ist eine einheitliche, Jahrhunderte umfassende Botschaft, die in der Weltgeschichte verankert ist.

Wir wenden uns einem zweiten melodischen Muster zu, das uns das letzte Buch der Bibel vermittelt. Als es um die Frage geht, wer befähigt und befugt sei, das Buch von Gottes Gericht aus der Hand des Vaters entgegen zu nehmen, lautete die Antwort: Es ist der Löwe aus dem Stamm Juda. Er trägt die Gestalt eines geschlachteten Lammes (Offenbarung 5,6). Durch dieses Blut ist ein unzählbares weltweites Volk erkauft worden (Offenbarung 5,9). Wer nicht bei diesem Lamm Zuflucht genommen hat (vgl. Offb 14,4), steht unter dem Zorn dieses Lammes (Offb 6,16).

Stellen wir diesen Zorn, der über dem Sünder schwebt, dem Zorn des selbstgerechten älteren Bruders aus dem Gleichnis des verlorenen Sohnes gegenüber. Der jüngere Sohn, der das Erbe verprasst hatte und umgekehrt war, ist gefunden worden (Lukas 15,32). Doch der ältere fühlt sich zu kurz gekommen. Er ist zornig und bleibt draußen (V. 28). Lasst mich diesen Zorn in ein Statement fassen: Niemand und nichts kann dem Zu-kurz-Gekommenen dieses sein Gefühl rauben! Die säkulare Musik lädt uns ein, in dieses Gejammer des Zu-Kurz-Gekommenen einzustimmen.

Das Blut des Lammes und der Zorn des Lammes. Das erste bewahrt vor dem zweiten.

Der Zorn des Selbstgerechten: Er fühlt sich zu kurz gekommen – und niemand kann ihm dieses Gefühl rauben.

Offenbarung 5,6 + 6,16 vs. Lukas 15,28

Jetzt schon. Die Zwischenzeit.

Mit der Auferstehung und Himmelfahrt ist die letzte Zeit angebrochen (vgl. Römer 13,11-14). Die Menschen, die gerettet werden, sind die „Erstlingsfrucht“ der neuen Schöpfung (2. Korinther 5,17). Diese Periode trägt den Charakter einer Zwischenzeit. Satan ist durch den Tod Christi bereits besiegt (Hebräer 2,14-15), doch die Wiederkunft und öffentliche Übernahme der Herrschaft des Gottessohnes steht noch aus.

Für diese Zeit hat Jesus seinen Jüngern Instruktionen gegeben. Wir nennen diese Rede die „Bergpredigt“. Jesus forderte seine Nachfolger zum radikalen Herzensgehorsam auf. Sie sollten vollkommen sein, wie der himmlische Vater vollkommen ist (Matthäus 5,48). Dies hat jedoch entscheidend damit zu tun, welches sie als ihre „Schatzkiste“ bestimmen würden. Gilt die Besorgnis den diesseitigen Gütern oder schicken sie den Schatz voraus in die zukünftige Welt? Die säkulare Musik lädt uns ein, unsere Schatzkiste im Hier und Heute anzusiedeln.

Radikaler Herzensgehorsam – für Jünger.

Die Vorläufigkeit der Schatzkiste: Die ständige Besorgnis gilt den Gütern.

Matthäus 5,48 vs. Matthäus 6,19-21

Das neue Leben ist ein Leben in Gemeinschaft. Wir gehören dem Haupt im Himmel, Christus, an (Kolosser 1,18). In Ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen (2,3). Deshalb werden wir aufgefordert, unser Streben auf „droben“ auszurichten. Was es bedeutet, nach etwas zu streben, zeigt uns anschaulich ein kleines Kind, das etwas unbedingt erreichen möchte. Alle Strebungen sind dann nur noch auf diesen Gegenstand ausgerichtet. Für uns Christen lauern zwei falsche Strebungen gleichzeitig: Einerseits droht die Anpassung an das Denksystem Satans. Auf der anderen Seite stehen wir in Gefahr, vor der Wirklichkeit zu fliehen und uns in die eigene „Blase“ zu retten. Die säkulare Musik lädt uns ein, uns anzupassen oder uns in die eigene Subkultur abzusetzen. Der Leib Christi ist jedoch „jenseitig diesseitig“. Das neue Streben wirkt sich innerhalb von Ehe, Familie, Gemeinde und der Welt aus (siehe Kolosser 3+4).

Der Leib Christi: Jenseitig diesseitig

Zwei Gefahren: Diesseitig (Anpassung) oder jenseitig (Weltflucht)

Kolosser 3,1-4 vs. 2. Timotheus 4,10 & 1. Timotheus 4,3

Als Bürger einer neuen Welt sind wir als Botschafter in der Umgebung, die von Satan dominiert wird, zurückgelassen. Das bringt eine erhebliche Spannung mit sich. Jesus hatte bereits vor seinem Ende den Jüngern angekündigt, dass sie Gehasste und nicht Geliebte sein würden. So kam es dann auch. Nicht dass sie den Widerstand gesucht hätten! Doch die ersten Christen wurden bald aus Jerusalem vertrieben. So erst machten sie sich auf, um das Evangelium zu verkündigen (Apostelgeschichte 8,4). Die Gemeinde wird bis heute in der ganzen Welt verfolgt (vgl. 1. Petrus 5,9). Der Widerstand ist den Jesus-Nachfolgern sicher. Wie anders lautet der Takt der säkularen Musik, die uns Leid und Widerstand vermeiden, ausblenden oder gar betäuben lassen will. Petrus ruft uns auf, sich unserem Schöpfer anzuvertrauen und unbeirrbar Gutes zu tun (1. Petrus 4,19)!

Wie sie mich gehasst haben, werden sie euch hassen.

Das Leid wird betäubt und ausgeblendet.

Johannes 15,18; Apostelgeschichte 8,4; 1. Petrus 4,19

Dann erst. Der Zieleinlauf.

Es fehlt ein wichtiger Teil der Grundmelodie des Neuen Testaments. Die Zwischenzeit wird irgendwann abgeschlossen sein. Diese Welt läuft auf ihr Ziel zu. Die Fäden werden unsichtbar gesponnen. Hören wir Paulus zu, welcher den verfolgten Thessalonichern dick aufträgt. Er lobt sie nämlich – wofür? „Wegen eures standhaften Ausharrens und eurer Glaubenstreue in allen euren Verfolgungen und Bedrängnissen, die ihr zu ertragen habt.“ (2. Thessalonicher 1,4). Diese Leiden sind Anzeichen dafür, dass sie Gottes Reich würdig geachtet werden (V. 5)! Paulus kündigt dann einen doppelten Ausgang an: Für die Unterdrücker und Verfolger ewige Pein, für die Verfolgten Ruhe bei der Offenbarung von Gottes Gericht (V. 6-10; lies auch 2,1-12). Jesus würde von seinen Treuen dann bewundert werden. Die ewige Ruhe – bitte nicht verwechseln mit Langeweile und Stillstand – steht noch aus. Die säkulare Melodie erreicht uns mit einem anderen Refrain: Schaffe dir jetzt den Himmel auf Erden. Das ist die verführerische Botschaft der Dauerwerbung auf allen Kanälen.

Gottes Vergeltung für die Gehorsamen (Ruhe) und die Ungehorsamen (Pein)

Die Werbung suggeriert den Himmel auf Erden.

2. Thessalonicher 1,5-7 und Offenbarung 21,7-8

Nachklang

Wann immer ich etwas schreibe, stelle ich mir die Frage: Hätte ich diese Botschaft auch in der verfolgten Kirche weitergeben können? Damit möchte ich keineswegs sagen, dass wir in Europa nicht eine auf uns zugeschnittene Botschaft empfangen sollten. Doch blicken wir nochmals auf die eben entworfene melodische Linie des Neuen Testamentes. Lassen wir diese nachklingen durch eine Frage: Wie ändert sich unsere Optik auf das Neue Testament, wenn wir uns in die Lage einer verfolgten Gemeinde heute versetzen? Dabei hilft uns der Vergleich zwischen dem Reichtum von Smyrna und demjenigen von Laodicäa (Offenbarung 2,9 und 3,17).


  1. Es handelt sich um die 4. Strophe des Liedes „Auf Gott und nicht auf meinen Rat will ich mein Glücke bauen“. Aus „Geistliche Oden und Lieder“, Leipzig 1757. S. 291.