Dass nach fast 80 Jahren Frieden eine europäische Nation ihren Nachbarn überfällt und großes Leid verursacht, ist ein Schock für viele. Wir hatten uns in unseren vom Wohlstand verwöhnten Ländern gut eingerichtet und dachten, es würde immer so weitergehen. Doch die Realität hat uns eingeholt. Auch viele Christen suchen Orientierung, wie sie das Kriegsgeschehen einordnen sollen. Im Folgenden gebe ich einen Beitrag, der einzelne Aspekte aus biblisch-theologischer Sicht beleuchtet.
1. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“
So hat es einmal die evangelische Kirche in Deutschland formuliert. Und dieser Satz ist eigentlich richtig. Als Gott die Menschen geschaffen hatte, waren diese gut. Es gab keine Aggressionen, keinen Streit, keine Gier und keinen Krieg. Doch mit der Rebellion der ersten Menschen gegen ihren Schöpfer änderte sich das Herz des Menschen. Plötzlich waren Neid, Missgunst und Streit da. Kain tötete seinen Bruder Abel, und die Bibel stellt nüchtern fest, dass seit dem Sündenfall das „Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf“ (1. Mose 8,21). Wir leben heute unter den Bedingungen einer gefallenen Welt. Jenseits von Eden gibt es keine paradiesischen Zustände mehr.
Und alle Menschen, die das Paradies auf Erden bauen wollten, haben in Wahrheit noch mehr Leid über unseren Globus gebracht. Seit dem Sündenfall sind die Menschen bestimmt von der Gier nach mehr. Genau diese Gier lässt sie nicht zufrieden sein mit dem, was sie haben, so dass sie lügen, stehlen, töten und ihre Steuererklärung fälschen. Im schlimmsten Fall und wenn sie die Macht dazu haben, werden sie darum sogar andere Länder überfallen. Dies alles war in Gottes guter Schöpfung nicht vorgesehen und sollte niemals kommen. Doch der Mensch entschied sich gegen seinen Schöpfer und brachte damit unsagbares Leid über sich selbst und die ganze Erde.
2. Krieg ist eine Zuchtrute Gottes
In der nun gefallenen Welt gehören Kriege im Kleinen (Familie, Nachbarschaft) wie im Großen (zwischen Nationen) zur Realität. Nach biblischer Aussage kann Krieg auch eine Strafe Gottes sein, die der Schöpfer nur ungern verhängt. Doch wenn Menschen in der Sünde verharren und nicht umkehren, antwortet Gott mit Strafen. Dafür finden wir in der Bibel zahlreiche Beispiele: Die Sintflut kam als Gericht über die ganze Menschheit, weil die Sünden groß waren (1. Mose 6,5ff.); die kanaanäischen Völker wurden auf Befehl Gottes hin durch Kriegsführung ausgerottet, weil sie sogar ihre eigenen Kinder den Götzen opferten (5. Mose 12,29-31) und in vielen anderen schweren Sünden lebten (3. Mose 18,19-29). Aber das Gericht Gottes kam auch über die Juden, weil sie zeitweise in ähnlichen Sünden lebten wie die heidnischen Völker. Manasse zum Beispiel, ein König Judas, der von 696 bis 642 v. Chr. in Jerusalem herrschte, opferte seine Söhne den Götzen, hielt spiritistische Sitzungen ab (2. Könige 21,6) und vergoss viel unschuldiges Blut. Zur Strafe dafür und für die vielen Sünden der Juden eroberte Nebukadnezar Jerusalem, zerstörte den Tempel und führte Tausende Juden in die Gefangenschaft (2. Könige 24,1-4). Diese Ereignisse der Weltgeschichte, wie etwa die Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. durch Nebukadnezar oder 70 n. Chr. durch den römischen Feldherrn Titus, sind nach biblischer Aussage nicht nur rein immanent zu erklären wegen machtpolitischer Interessen der Babylonier bzw. Römer, sondern dahinter steht der allmächtige Gott, der die Fäden der Weltgeschichte im Verborgenen zieht und Entscheidungen von Regierungen nutzt, um seine Pläne auszuführen. Denn „des Königs Herz ist in der Hand des HERRN wie Wasserbäche; er lenkt es, wohin er will.“ (Sprüche 20,21)
Gott benutzt Kriege, Hungersnöte, Epidemien und gefährliche oder plagende Tiere wie etwa Heuschrecken dazu, um Menschen zu züchtigen und zur Umkehr zu rufen.
Dabei sind Kriege nur ein Instrument zur Züchtigung von Menschen. Sowohl das Alte wie das Neue Testament sagt, dass Gott sich bevorzugt der folgenden vier Mittel bedient, um Menschen und ganze Nationen zu strafen und zur Umkehr zu führen: Kriege, Hungersnöte, Epidemien und böse Tiere wie etwa Heuschreckenplagen (Hesekiel 14,21; Offenbarung 6,8). Wir haben in den vergangenen Jahren sowohl eine Pandemie wie auch Dürrejahre erleben müssen. Nun kommt ein Krieg hinzu, dessen Folgen noch kein Mensch abschätzen kann. Wir sehen aber, dass schon jetzt Lebensmittel und Energie knapp werden und die Preise nach oben schnellen. Biblisch gesehen ist all dies kein Zufall. Vielmehr handelt es sich um eine Antwort Gottes auf die Gottlosigkeit der Gegenwart. Die Menschen in unseren Ländern haben ihren Schöpfer ausgeblendet. Sie danken Ihm nicht mehr für das tägliche Brot, für den Frieden, die Freiheit, die Kleidung und sie übertreten die Zehn Gebote ungeniert: Diebstahl, Lüge, Ehebruch sind an der Tagesordnung. Der Sonntag wird nicht mehr geheiligt und die Gier nach immer mehr bestimmt das Verhalten von Millionen. Sollte Gott da schweigen? Er bringt sich mit Gerichten wie Pandemien oder Kriegen in Erinnerung und ruft die Menschen dadurch zur Umkehr.
3. Warum trifft es ein bestimmtes Land?
Sind die Ukrainer persönlich oder als Volk größere Sünder als wir, dass sie diesen Überfall des russischen Militärs erleben müssen und wir (bisher) nur indirekte Auswirkungen davon? Jesus wurde einst eine ähnliche Frage gestellt. Seine Antwort lautete: Nein, sie sind keine größeren Sünder als alle anderen. Aber „wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle auch so umkommen.“ (Lukas 13,3) Mit anderen Worten: Die Ukrainer sind Sünder wie die Deutschen, Franzosen, Engländer und Russen. Wir alle hätten das Gleiche verdient, was viele Ukrainer erleiden müssen. Dass Gott uns zur Zeit noch verschont, ist alleine seine Gnade. Doch wenn wir als Volk in der Gottvergessenheit und in unseren Sünden verharren, müssen wir uns nicht wundern, wenn ähnliche Gerichte bald auch uns treffen werden.
4. Ist das jetzt das Ende?
Es ist durchaus möglich, dass wir bereits in die Endphase dieser Weltzeit eingetreten sind und diese Generation die Ankunft des Messias erleben wird. Doch mit Sicherheit können wir das offenbar nicht sagen.
Es gibt Christen, die der Meinung sind, dass die Zunahme der Katastrophen und der Christenverfolgung, die wir heute im Allgemeinen beobachten, auf die nahende Wiederkunft Christi hindeuten. Jesus hat für die letzte Zeit vor seiner Parusie als „Anfang der Wehen“ Kriege, Erdbeben, Hungersnöte und Verfolgungen vorhergesagt (Matthäus 24). Es ist durchaus möglich, dass wir bereits in die Endphase dieser Weltzeit eingetreten sind und diese Generation die Ankunft des Messias erleben wird. Doch mit letzter Sicherheit können wir es nicht sagen. Zu viele „Endzeitspezialisten“ haben sich in der Vergangenheit schon geirrt. Bereits Luther rechnete mit der baldigen Wiederkunft Christi; und wer wollte es den Menschen während des Zweiten Weltkrieges verdenken, wenn sie dachten, dies sei das Ende? Doch immer haben sie sich getäuscht. Daher sollten auch wir vorsichtig sein. Unsere Aufgabe ist es, die Menschen zur Umkehr von ihren Sünden und zu Christus zu rufen. Wenn viele Christen auf ihre Knie gehen und unter Fasten eine Umkehr der gottlosen Völker Europas erbitten – wer weiß, ob der Allmächtige sich in seiner Gnade nicht nochmals erbitten lässt und eine Erweckung schenkt, wie wir sie im 18. Jahrhundert mit dem Pietismus und im 19. Jahrhundert mit der Erweckungsbewegung schon einmal erlebt haben?
Reinhold Schneider (1903-1958) dichtete am Vorabend des Zweiten Weltkriegs:
Allein den Betern kann es noch gelingen,
das Schwert ob unsren Häuptern aufzuhalten
und diese Welt den richtenden Gewalten
durch ein geheiligt Leben abzuringen.
Wo sind in unserem Land diese Beter, die nach Gottes Willen leben und andere zu Christus rufen?
Friedhelm Jung
Religion, Krieg und christliche Botschaft
Beobachtungen aus aktuellem Anlass
Die Bibel bietet Christen auch Orientierung in Kriegszeiten. Was den Krieg angeht, den die russische Armee auf dem Staatsgebiet der Ukraine schon 2014 begonnen hat und den sie seit Ende Februar 2022 umfassend führt, so fühlen sich auch viele Christen hin und hergerissen, wie sie das Ganze beurteilen sollen. Mich wundert allerdings, wie wenig von Kirche und Christen dazu aus ihrer eigenen biblischen Botschaft heraus gesagt wird. Man hört kirchliche Stellungnahmen zur Frage, ob und welche Waffen von Deutschland geliefert werden sollten. Andere warnen davor, dass sich Christen überhaupt mit Waffensystemen beschäftigen und sehen darin schon Kriegsverherrlichung, aber sagen stattdessen auch nicht, womit sie sich angesichts drängender Fragen dann beschäftigen sollen. Oder können und sollen sich Christen einfach heraushalten? Haben die Bibel und der christliche Glaube vielleicht einfach nichts zum Thema zu sagen und so wie Christen sich nicht speziell zur Mathematik äußern, schweigen sie auch hier, es sei denn sie wären Politiker oder Soldaten? Auch ohne sich direkt politisch zu äußern, hat die christliche Botschaft in Zeiten von Krieg eine hohe Relevanz. Ich will einige Aspekte gern zur Diskussion stellen.
1. Christliche Ethik ohne Nationalismus
Tatsächlich können Christen und die Kirche zu manchen Aspekten, die im Vordergrund stehen, nur sehr begrenzt Stellung nehmen, wenn sie nicht ihre Grenzen überschreiten wollen. Das liegt daran, dass bestimmte Fragen aus dem Blickwinkel biblischer Werte und Weltsicht keine Priorität haben. Dazu gehören alle Aspekte, die aus einer Perspektive des Nationalbewusstseins oder sogar eines Nationalismus bemüht werden. Welche Sprache in einem Land gesprochen werden soll oder wo Grenzen zwischen Ländern verlaufen, dafür gibt es keine biblischen Maßstäbe. Alles Land ist Gottes Erde und verschiedene Völker bewohnen es zu verschiedenen Zeiten. Die Bibel sieht es so, dass sich alle diese Dinge im Weltlauf ändern können und auch oft ändern. Paulus drückt das in seiner Areopagrede kurz und bündig so aus:
Apostelgeschichte 17,26-27: Aus einem einzigen Menschen hat er alle Völker hervorgehen lassen. Er wollte, dass sie die Erde bewohnen, und bestimmte die Zeit ihres Bestehens und die Grenzen ihres Gebietes. Er wollte, dass sie nach ihm fragen, dass sie sich bemühen, ihn irgendwie zu finden, obwohl er keinem von uns wirklich fern ist.
Gott hat, wie es die Urgeschichte erzählt (1Mo 1-11), die Entstehung von Völkern gewollt, die doch alle miteinander verwandt sind. Sie leben in unterschiedlichen Gebieten, haben unterschiedliche Sprachen und unterscheiden sich in ihrer Kultur. Die Grenzen der Länder sind aber immer irgendwie willkürlich und gelten für bestimmte Zeiten, bis sie sich verändern. Selbst ganze Völker können untergehen, wobei sie als selbstständiges Volk aus der Weltgeschichte verschwinden. So war es mit den Philistern, die wir aus der Bibel kennen, die aber selbst wohl aus verschiedenen kleineren Völkern des Mittelmeerraumes gemischt waren und irgendwann verschwanden. Andere neue Völker können entstehen und auch wieder vergehen. Aus dem vermeintlichen Alter einer Kultur oder eines Volkes lassen sich nach biblischen Maßstäben keine Werte ableiten. Ob ein Staat seit 30 Jahren oder seit 800 Jahren besteht, entscheidet nicht über Existenzberechtigung oder Wert einer Kultur. Der misst sich vielmehr an der Frage von gut und böse und von schön und hässlich. Bestehen und Vergehen von Völkern und Ländern gehört zum Lauf der Welt, den Gott bestimmt, auch wenn vordergründig Gewalt und Kriege, Hungersnöte oder Seuchen darüber zu bestimmen scheinen. Paulus deutet an, dass das alles dazu dient, dass wir Menschen nach dem wahren Gott fragen und ihn suchen.
Christliche Ethik kann nichts zum Verlauf von Staatsgrenzen sagen, aber sehr wohl daran erinnern, dass die Gebote der zweiten Tafel auch für Staaten gelten.
Einerseits bedeutet das, dass keine christliche Ethik etwas über den Verlauf von Staatsgrenzen sagen kann (Stichwort „territoriale Integrität“). Andererseits geht daraus aber nicht hervor, dass ein Volk oder Staat einen anderen nach Belieben überfallen kann, um etwa sein eigenes Staatsgebiet zu vergrößern, vielleicht um damit Macht über bestimmte Bodenschätze zu gewinnen oder Angehörige eines anderen Volkes in irgendeiner Weise zum eigenen Nutzen zu versklaven. Die allgemeinen ethischen Maßstäbe, wie sie auf der zweiten Tafel der 10 Gebote zum Ausdruck kommen, gelten auch im Miteinander der Völker. „Du sollst nicht morden“, „Du solltst nicht stehlen“ oder „Du sollst nicht neiden“ sind Gebote für jeden Einzelnen, aber auch für einen Staat mit seiner Armee. Auch wenn Staatsgrenzen vordergründig durch menschliche Willkür und hintergründig durch Gottes Führung bestimmt sind (ausgenommen waren nur Grenzen, die Gott für sein Volk Israel benannt hatte), darf ein Herrscher seine Armee nicht auf Raubzüge schicken, statt dass sich die Angehörigen seines Volkes durch Arbeit und Handel ihren Unterhalt verdienen. Polizei und Armee, die in der Bibel nicht so scharf getrennt sind wie in der deutschen Verfassung, dienen im Sinne des „Schwertes“ der Obrigkeit zur Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung (Röm 13,1-7), damit alle ohne Furcht vor Raub oder Versklavung in ihrem Haus mit ihrer Familie leben können.
Damit ist auch klar, dass Christen den meisten vorgetragenen Rechtfertigungen für Kriege sehr kritisch gegenüber stehen werden. Kein Volk kann aus dem Blick in die Geschichte irgendein Recht ableiten, dass ihm dieses oder jenes Staatsgebiet „gehört“, etwa weil das früher schon einmal der Fall war oder weil ein Volk „seine Wiege“ irgendwo hatte. Es gibt auch keine Kultur oder Sprache, die prinzipiell über anderen steht, so dass daraus ein Recht abgeleitet werden könnte, ein angeblich „niedrigeres“ Volk zu unterjochen oder seine Sprache oder Kultur auszulöschen. Mein Vater sprach bis zur Einschulung nur Plattdeutsch und lernte Hochdeutsch quasi als Fremdsprache. Meine Mutter sprach als Kind einen anderen plattdeutschen Dialekt. Aber ich habe beide Sprachen nicht erlernt, weil sie ihr Plattdeutsch nur noch gelegentlich auf Familienfeiern sprachen und wir im Ruhrgebiet lebten, wo sich mehrere Sprachen mischten, aber die Verständigung doch auf Hochdeutsch stattfand. Heute gibt es wieder Jugendliche, die auch das Plattdeutsche erlernen und so dieser kulturelle Aspekt gepflegt wird. Aber offenbar geht es dabei nicht um einen Kampf gegen frühere Unterdrückung. In zahlreichen Ländern leben Menschen aus verschiedenen Völkern mit unterschiedlichen Sprachen, meist hat man eine oder mehrere davon auch als Amtssprache festgelegt. All das sind keine Kriegsgründe, es sei denn, Menschen machen sie aus Hass und Feindschaft dazu.
2. Auf welcher Seite stehen Christen?
Es kann also nicht darum gehen, sich als Außenstehender auf eine Seite zweier Kriegsparteien zu schlagen. Das wäre einfach und bei einfachen Antworten sollten Christen m.E. immer doppelt wachsam sein. Aber auch Äquidistanz ist nicht die Lösung. Kürzlich sagte mir jemand, dass bei so einem Konflikt, wie in einem Ehestreit, immer beide Seiten ihren Anteil an Schuld haben. Das stimmt natürlich, schon deswegen, weil in jedem Streit, in jedem Krieg immer auf beiden Seiten Sünder sind. Gerade deswegen werden Christen aber nicht pauschal sagen, dass wahrscheinlich das Opfer einer Vergewaltigung auch irgendwie Schuld trägt und damit letztlich die Schuld des Vergewaltigers relativieren. Es gehört zum Sündigen, dass man immer auch der anderen Seite Schuld gibt: Der hat aber angefangen (dann ist er auch selber schuld, dass ich ihn krankenhausreif geprügelt habe); Sie hat nicht aufgehört, mich zu reizen (deswegen bin ich für meine Reaktion nicht mehr verantwortlich); Die haben doch dasselbe auch schon getan, sogar schlimmer als ich (deswegen ist mein Handeln irgendwie gar nicht so schlimm, vielleicht sogar gerechtfertigt und wenn du mich beschuldigen willst, dann nur, wenn du es bei den anderen genauso tust). Schon im Paradies hatte Adam nichts Besseres zu tun, als Gott zu beschuldigen: „Die Frau, die du mir gegeben hast, gab mir von der Frucht.“
Friedensstifter zu sein, bedeutet nicht, beiden Seiten gleich viel Schuld zu geben und sie so kleinzureden wie nur möglich.
Schuld muss beim Namen genannt werden. Der Wahrheit sollen Christen ohne Beschönigungen ins Auge blicken. Manche Christen meinen, dass sie gute Vermittler oder Brückenbauer sind, wenn sie Schuld möglichst gleichmäßig auf beide Seiten verteilen und sie dabei kleinreden. Wer wirklich als Christ schon als Friedensstifter gewirkt hat, weiß, dass so etwas höchstens kurzfristig für einen oberflächlichen Frieden reicht, aber nicht für eine wirkliche Versöhnung. Christen wollen deswegen lieber auf der Seite der Wahrheit stehen, wo auch Christus steht, als irgendwie möglichst gleichmäßig eine Mitte zu finden. Deswegen wirkte es auch auf alle seltsam, dass der Papst in seinem Wunsch, im Ukrainekrieg Vermittler zu werden, versucht, möglichst keiner Seite oder beiden gleichmäßig die Schuld zu geben. Allerdings brauchen wir Gottes Maßstäbe und müssen in der Lage sein, sie anzuwenden.
Dass das nicht immer so einfach ist, merken Christen dann, wenn der Diktator Wladimir Putin herausstellt, dass er Christ ist und für die christlichen Werte kämpft. In seiner Erzählung ist „der Westen“ moralisch verlottert – was aus christlicher Sicht in vieler Hinsicht zutreffend ist – und steigt ab, während in Russland etwa eine Sexualethik in Ehren gehalten wird, in der homosexuelles Leben und besonders jede Art von Werbung dafür verboten ist. Diese „schwarze Pest“ des Westens solle die russische Seele vergiften und u.a. dagegen gelte es zu kämpfen. Manche Christen begrüßen die konservative Sexualmoral, die allerdings nur in Teilbereichen zu gelten scheint, denn Putin selbst nimmt es bei der Ehe nicht so genau und hat offenbar mit mehreren Frauen Kinder. Übrigens war in den USA Ähnliches zu beobachten, als viele Christen zu Parteigängern von Donald Trump wurden, weil der sich gegen die liberalen Abtreibungsgesetze in den USA aussprach. Man kann als Christ die eine oder andere Position als mit christlichen Maßstäben übereinstimmend ansehen, aber darf deswegen nicht zum Parteianhänger werden. Es gilt doch, dass selbst der Teufel sich als Engel des Lichtes verstellen kann. Paulus wendet das auf die Diener des Teufels genauso an:
2Korinther 11,14-15: Und das ist auch kein Wunder; denn er selbst, der Satan, verstellt sich als Engel des Lichts. Darum ist es nichts Großes, wenn sich auch seine Diener verstellen als Diener der Gerechtigkeit; deren Ende wird sein nach ihren Werken.
Auch wenn wir also das eine oder andere Interesse und die eine oder andere Position der einen oder anderen Seite nachvollziehen können oder sogar für richtig ansehen, ist damit längst nicht alles zu rechtfertigen. Insbesondere werden sich Christen dem Faktor „Verstellung“ bewusst sein, auch wenn die Lügen nicht immer offen zu Tage liegen. Der Teufel kann eben durchaus „gut“ lügen und wir können darauf hereinfallen.
3. Die religiöse Dimension im Krieg
Offenbar kann man einen Krieg kaum ohne Religion führen. Es geht doch darum, dass Menschen als Soldaten in einen Kampf geschickt werden, aus dem sie vielleicht nicht lebend zurückkehren oder doch mit so großen Verletzungen – körperlich und seelisch –, dass sie ein Leben lang gezeichnet sind. Es hat zwar auch immer Söldner gegeben, die den Krieg einfach als Handwerk ansahen und ihren Lebensunterhalt damit verdient haben. Aber das Versprechen von Geld hat im Angesicht des Todes immer nur eine begrenzte Wirkung. Für irgendetwas muss der Soldat kämpfen und sein Leben riskieren. Da braucht es höhere Werte oder mindestens die Hoffnung auf himmlischen Beistand oder das Bewusstsein einer göttlichen Sendung.
Fast jeder Kriegsherr braucht die Religion, um Menschen in den Kampf und damit auch in den Tod zu schicken.
Fast jeder Kriegsherr braucht also Religion, um Menschen in den Krieg zu schicken. Das war bei Adolf Hitler nicht anders als bei Wladimir Putin. Hitler beschwor seine eigene Sendung, die ihm das Schicksal auferlegt habe, dass das deutsche Volk eine ihm entsprechende Rolle als Herrenmenschen einnehmen soll. Dazu mussten andere vernichtet werden, die dieser Stellung im Wege standen. Putin hat über die letzten 10 bis 15 Jahre eine Ideologie vom russischen Menschen im Kampf gegen den Nazismus aufgebaut. Wie Russland es bereits im 2. Weltkrieg, dem großen vaterländischen Krieg, gezeigt hat, habe es eine Berufung und die Kraft, den Nazismus zu bekämpfen. Der sei heute die Ideologie des Westens. Das wird Kindern von klein auf gelehrt. In einer Jugendarmee lernen sie frühzeitig, dass der Kampf mit Waffen ausgetragen werden soll1.
Wie im Deutschen Reich ab 1933 die Kirchen dafür „gleichgeschaltet“ wurden, so kann man auch beobachten, dass sich die russisch-orthodoxe Kirche missbrauchen lässt. Priester sehen eine wichtige Aufgabe darin, Waffen zu segnen, während das Oberhaupt der Kirche, Patriarch Kyrill, den Krieg rechtfertigt und als notwendige Mission im Kampf gegen das Böse beschreibt. Eine Form der „Heiligsprechung“ von Waffen ist auch auf ukrainischer Seite zu sehen, wenn sie etwa eine erfolgreiche Panzerabwehrwaffe St. Javelin nennen.
Als Christen in Deutschland beobachten wir, wie sich der bei uns verbreitete Glaube in der Krise bewähren muss. Dabei zeigt sich, dass der Konsumismus und der Wohlstandsglaube, der seinen Sinn darin sieht, dass es irgendwie möglichst bequem immer weiter aufwärtsgeht, selbst in eine Krise gekommen ist. Bei vielen Intellektuellen in Deutschland zeigte sich ein ziemliches Unverständnis dafür, dass in der Ukraine Menschen ihr Leben für so etwas wie Freiheit oder westliche Werte einsetzen, die sie verteidigen wollen. Warum ergeben sie sich nicht einfach, können weiterleben, wenn auch unter einer Diktatur Russlands? Man wird an den Slogan der 1970er Jahre erinnert: „Lieber rot als tot.“ Das sollte heißen, dass man lieber unter der Herrschaft des Kommunismus leben wollte, als im Kampf gegen einen Einmarsch der Sowjetarmee zu sterben. Und auch bei manch anderen klangen die „Empfehlungen“ an die Ukrainer manchmal (auch) egoistisch: „Gebt doch Putin etwas Land ab und erfüllt ein paar seiner Forderungen, damit bei uns nicht alles immer teurer wird oder wir nicht im Winter eventuell frieren müssen.“ Damit will ich nicht sagen, dass es nicht auch politisch sinnvoll sein kann, sich einem übermächtigen Gegner zu ergeben, statt bis zum Tod zu kämpfen.
Die Bereitschaft für den eigenen Glauben an Christus zu leiden und zu sterben, ist ein hoher christlicher Wert. Aber das bedeutet natürlich nicht, mit Waffen zu kämpfen, sondern für seine Überzeugung einzustehen, sie offen zu bekennen, selbst unter Drohungen. In der Gewissheit, dass Gott ewiges Leben für den Glaubenden gibt, bedeutet es auch, sein Leben aus Liebe für andere einzusetzen. Wenn wir sehen, wie Menschen ihr Leben einsetzen für die Verteidigung ihres Landes, für den Schutz ihrer Familie oder für ein freies Leben, dann stellt sich auch bei uns die Frage nach der Leidensbereitschaft. Meines Erachtens ist das Thema sehr vernachlässigt worden und auch viele Christen sind vom Wohlstandsglauben so erfasst, dass es sie in Furcht versetzt, eventuell nicht mehr so viel zu haben. Auch wenn ich es mir nicht wünsche, so glaube ich, dass es uns nicht schlecht tut, wenn wir aufgrund des Krieges und der Erpressbarkeit Deutschlands Mangel erleben müssen. Noch geht es nicht um Leben oder Tod, aber die Frage ist schon, ob wir auch dafür genug Glauben haben. Und werden wir dann den größeren Mangel bei armen Geschwistern wahrnehmen und ihnen gern helfen?
4. Der Krieg und das Böse
Friedrich Nietzsche hat einmal gesagt:
„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
Tatsächlich hat die Finsternis eine große Kraft, der wir nur im Licht des Christus widerstehen können. Zum Krieg gehört es, dass der Gegner entmenschlicht wird. Alle Ukrainer und besonders die Soldaten seien „Nazis“, die gar kein Recht haben zu leben, so war es von Anfang an auf russischer Seite zu hören. Jedes Recht, das auch in einem Krieg gilt, scheint nicht mehr zu gelten, wenn man gegen Unmenschen kämpft. Damit kann auch ein Bombardement von Krankenhäusern und Wohngebäuden gerechtfertigt werden. Auf der anderen Seite sprechen ukrainische Soldaten von ihren russischen Gegnern von „Orks“. So heißen die unmenschlichen Kämpfer aus dem fantastischen Roman „Herr der Ringe“ von Tolkien. Wenn man sich gegenseitig mit brutalen Waffen verstümmelt und tötet, dann ist es schwer, den Gegner als Menschen zu sehen, der eigentlich glücklich sein will, Frau und Kinder hat und mit dem man auch lachen und weinen könnte, wenn nicht gerade Krieg wäre. Es gehört zu den Strategien des Bösen, dass er einen tiefen Hass ins Herz setzt, der manchmal erst nach Generationen überwunden wird. Es ist für viele heute schwer vorstellbar, dass nach den Kriegen Napoleons die Franzosen rund 150 Jahre als Erbfeinde Deutschlands galten. Hass und Hetze gegeneinander wurden geschürt, immer neue Kriege geführt. Das konnte erst nach dem 2. Weltkrieg überwunden werden, spielt aber heute im Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen keine Rolle mehr.
Christen haben die Aufgabe, dem Hass und der Entmenschlichung entgegenzuwirken, wo sie können.
Christen haben die Aufgabe, dem Hass und der Entmenschlichung entgegenzuwirken, wo sie können. Auch der böse Mensch bleibt Mensch, den Gott nach seinem Bild geschaffen hat und dem wir nicht die Würde nehmen dürfen. Martin Luther mahnte die deutschen Soldaten im Krieg gegen die Türken (1529), diese nur während der Kampfhandlungen als Feinde anzusehen und ihnen danach bei Sieg oder Niederlage mit Nächstenliebe zu begegnen. Das Böse muss beim Namen genannt werden, aber die Verdammung und die letzte Rache ist nicht die Sache des Menschen. Gott bleibt der letzte Richter über allem. Das hat auch zur Folge, dass etwa der selbstgewählte Kampf gegen das Böse in der Welt keine Rechtfertigung für einen Krieg sein darf. Ein solcher Kampf ist in doppelter Hinsicht aussichtlos, weil erst Gott dem Bösen am Ende der Tage sein Ende bereiten wird und weil, wer selber vom Bösen bestimmt wird, nicht wirklich das Böse beenden kann. Die meisten Christen in Deutschland werden nichts mit dem Kriegsgeschehen selbst zu tun haben. Die wenigsten sind Politiker, die Entscheidungen über Waffen oder Energieversorgung treffen müssen. Unsere Aufgabe ist aber im Gespräch mit Nachbarn, Freunden und Mitchristen die Liebe, die Menschenwürde und den Respekt zu vermitteln. Damit tragen wir selber zum Frieden bei.
Es gehört nämlich auch zum Menschen, dass er offenbar „unmenschlich“ handeln kann.
Aber die Sache hat auch eine andere Seite. Krisen offenbaren oft den wahren Charakter von Menschen. Unter Druck und im Angesicht von Not oder sogar Tod zeigt sich, was für einen Menschen wirklich zählt, seine Maske fällt. Das kann in vieler Hinsicht ernüchternd sein, z.B. wenn man erkennt, dass sich ein „lupenreiner Demokrat“ als „brutaler Diktator“ entpuppt, der über Leichen geht. Allerdings hat diese Erkenntnis bei vielen auch offenbart, dass ihr Glaube an das Gute im Menschen zu kurz greift, weil er die Macht des absolut Bösen nicht eingerechnet hat. Es gehört nämlich auch zum Menschen, dass er offenbar „unmenschlich“ handeln kann. Er ist nach dem Bild Gottes geschaffen, mit Sinn und Verstand, mit Werten und Schönheit. Und er kann doch vom Bösen bestimmt sein, das eine völlig irrationale Seite umfasst. Der gleiche Mensch, der liebevoll seine Kinder umsorgt, kann auch ein brutaler Folterer und Vergewaltiger sein.
Man konnte in den letzten Monaten beobachten, dass der Glaube an den guten, vernünftigen Menschen erschüttert wurde, damit aber auch ein auf dem Humanismus aufgebautes Weltbild. Manche hielten den Krieg in der Ukraine anfangs für ein Missverständnis, das aufgeklärt werden kann, wenn sich vernünftige Menschen an einen Tisch setzen, verhandeln, ihre Interessen ausgleichen und schließlich einen guten Kompromiss finden. Alles sei nur eine Überreaktion und man müsse nur die Möglichkeit zum Ausstieg ohne Gesichtsverlust eröffnen, dann werde der Krieg bald ein Ende haben. Sicher geht es auch um rational nachvollziehbare Interessen wie dem Streben nach Macht, Vorteilen oder nach Ressourcen. Aber da ist auch die irrationale Seite des Bösen im Spiel, den Jesus den Vater der Lüge und den Mörder nennt.
Die Wirklichkeit des Bösen in all seiner Grausamkeit, abgrundtiefen Verlogenheit und Brutalität, die im Krieg in einem sinnlosen Gemetzel offenbar wird, hat keinen Platz im neueren Humanismus2, der der Überzeugung ist, dass man das Gute durch vernünftige Verhandlungen zwischen vernünftigen Menschen herausfindet und dann auch verwirklicht. Das ist eine wesentliche Hoffnung in der Philosophie von Jürgen Habermas, die einen starken Einfluss hat. Wer trotzdem dagegen verstößt, wird vorzugsweise als krank, verwirrt, traumatisiert oder unzurechnungsfähig angesehen. Dass ein vernünftiger Mensch auch tief böse ist und seine Intelligenz dazu benutzt, um Menschen zu quälen und brutale Waffen zu erfinden, passt kaum ins Bild, ist aber trotzdem die Wirklichkeit. Es wird damit auch deutlich, dass es das Böse und das Gute unabhängig von den Meinungen und Festlegungen von uns Menschen gibt. Es gibt absolute Werte und die kommen von Gott, der uns geschaffen hat.
Christen sind sich durch das Wort Gottes der beiden irgendwie unvereinbaren Seiten bewusst. Sie wissen, dass jeder Mensch böse von Anfang an ist und zugleich eine Schönheit besitzt, die ihn wenig niedriger als Gott sein lässt. Als Christen haben wir in der gegenwärtigen Verunsicherung vielleicht auch die Möglichkeit, die Botschaft Gottes von der Sünde des Menschen, der Liebe Gottes, der Vergebung durch Christus und einer herrlichen Zukunftshoffnung an unseren Nächsten weiterzugeben. Christen sind nämlich nicht hoffnungslos im Angesicht von Krieg, sondern zugleich nüchtern und voller Hoffnung auf ihren Gott und Herrn.
Thomas Jeising
Es lassen sich zahlreiche Bilder finden, die den Drill Jugendlicher zeigen. Auch Kinder in Uniformen zu stecken oder sie im Kindergarten Lieder singen zu lassen, die Krieg und Sterben für das Mutterland verherrlichen, ist vielfach belegt ↩
Hilfreiche Einblicke gibt der frühere Mitarbeiter des IRK Eugen Sorg. Die Lust am Bösen: warum Gewalt nicht heilbar ist. Nagel und Kimche 2011. ↩