LiteraturBuchbesprechungen

Abgeschrieben, falsch zitiert und missverstanden

Man stelle sich Folgendes in Deutschland vor: Ein evangelikal geprägter Mann stellt in seinem Theologiestudium fest, dass es bei der Entstehung der Bibel innerhalb der verschiedenen Handschriften Unterschiede gibt. Manche Manuskripte der biblischen Grundtexte überliefern gelegentlich einen anderen Bibeltext als andere. Er folgert daraus: Die Bibel ist ja gar nicht inspiriert! Es menschelt auch hier. Es gab sogar Abschreibfehler. Er wirft seinen Glauben über Bord, verkündet seinem verblüfften Publikum seine Erkenntnisse, wird von Harald Schmidt in seine Talkshow eingeladen und landesweit herumgereicht.

Unvorstellbar? Offensichtlich nicht in den USA. Bart D. Ehrman, aus katholischem Elternhaus stammend, kommt als Teenager zum Glauben und macht die Erfahrung der Wiedergeburt (die er hinterher indes psychologisch weginterpretiert). Er interessiert sich sehr für die Bibel und wird Student am konservativen Moody Bible Institute, wo er zum ersten Mal auf wissenschaftliche Weise mit den Manuskripten der Bibel zu tun bekommt. Zu diesem Zeitpunkt ist er ein leidenschaftlicher Verfechter der Verbalinspiration der Bibel. Diese Ansicht wird von den Erkenntnissen erschüttert, dass wir die Bibel ja nur in den Ursprachen als verbalinspiriert bezeichnen können und somit viele Menschen keinen Zugang zum „wirklichen“ Wort Gottes haben. Noch erschütternder ist dann im weiteren Verlauf seines Studiums in Wheaton und Princeton die Einsicht, dass selbst die Urtexte teilweise in unterschiedlichen Versionen zu haben sind. Fortan sieht er die Bibel als „sehr menschliches Buch mit sehr menschlichen Sichtweisen“ (S. 27).

Ehrman stellt fest: Diese Tatsache ist den meisten Leuten, vor allem Laien aber völlig unbekannt. Diese wissen nicht einmal, wie die Bibel entstanden ist. Zeit also, ein Aufklärungsbuch darüber zu schreiben, „das erste seiner Art“, wie er meint, das Laien einen Zugang zum schwierigen Gelände der Textkritik ermöglicht.

Ehrman ist es nun tatsächlich gelungen, dieses diffizile Gebiet einleuchtend und didaktisch gewandt darzustellen. Er tut das auch bei weitem nicht so polemisch wie der missglückte deutsche Titel andeutet, bei dem wohl eher das Marketing als der Inhalt Pate gestanden hat. Aber er tut es aus einer sehr merkwürdigen Perspektive.

Bart D. Ehrmann. Abgeschrieben, falsch zitiert und missverstanden. Wie die Bibel wurde, was sie ist. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. 256 S. Hardcover: 22,95 €. ISBN 978-3-579-06450-5

Mit irgendwie kindlich anmutendem Erstaunen teilt er seinen Lesern mit, dass – etwa der Markusschluss oder Joh 7,53-8,11 wohl nicht zum ursprünglichen Text der jeweiligen Evangelien gehört haben, sondern spätere Hinzufügungen sind. Damit sind etwa aufmerksame Leser der Elberfelder Bibel schon lange vertraut, denn es wird in fast jeder Ausgabe darauf hingewiesen. Ferner nimmt er die üblichen Kopistenfehler aufs Korn: Abschreibfehler, Wortverwechslungen etc. Alles ist für den Fachmann in keiner Weise neu und für den tatsächlichen Bibeltext auch gar nicht so relevant, weil es sich häufig um schlecht bezeugte und abseitige Varianten handelt. Diese Varianten, die andere Textkritiker links liegen lassen, werden bei ihm zum Steckenpferd.

Ehrman erweist sich als Manuskriptforscher, der sich nicht zum Ziel gesetzt hat, den originalen Bibeltext zu rekonstruieren, sondern die bizarrsten Varianten herauszufinden. Das bietet zwar den Erkenntnisgewinn, dass man dadurch sehen kann, was alles so im Laufe der Abschreibprozesse passieren kann, unterhöhlt aber für den nicht vorgebildeten Interessierten die Glaubwürdigkeit der Bibel. Hier wird der Eindruck erweckt, als sei die Bibel ein zusammengeschustertes Werk bestehend teils aus Zufälligkeiten, teils aus Manipulationen. Der Ton macht dabei bei ihm gar nicht so sehr die Musik; er macht aus der Bibel kein Hackepeter, hat auch ein Stück Respekt vor den alten Texten. Dennoch sind die Früchte, die er vom Baum seiner Erkenntnis pflückt, für diejenigen schwer genießbar, die professionelle Arbeit an den Texten der Bibel betreiben, um eine Grundlage für verantwortbare Bibelausgaben zu liefern.

Gänzlich aufs Glatteis begibt er sich da, wo er den textkritischen Befund für die Interpretation der Texte instrumentalisiert. So will er aufzeigen, das „Schreiber, die nicht einverstanden waren mit dem, was die neutestamentlichen Bücher sagten, deren Wortlaut änderten, um damit das orthodoxe [im Sinne von rechtgläubige] Christentum zu stärken “ (S. 171). These also: Man wollte Irrlehrer abwehren, also hat man Texte tendenziös verfälscht. In den Einzelbeispielen wird dann über die Motive kräftig spekuliert. Jedoch: Sicherlich mag es auch hier in Varianten die ein oder andere dogmatisch motivierte Textveränderung gegeben haben, aber im Gegensatz zu anderen Textkritikern ist Ehrman auch hier wieder auf der Suche nach dem Abseitigen statt nach dem Kern.

Ehrman erweist sich wie jemand, der einen Spielfilm von dessen Outtakes her, also den Pleiten und Pannen beim Dreh, die gerne bei DVDs mitgeliefert werden, zu interpretieren versucht. Er ist nicht auf der Suche nach der Filmhandlung, leider auch nicht konsequent auf der Suche nach dem Regisseur, sondern ihn interessiert das Bizarre, das in sich vielleicht ganz kurios und interessant ist, aber keine wirklichen Rückschluss auf die Filmhandlung zulässt. Er kapriziert sich auf Pleiten und Pannen und sagt dann: Dieser Film kann ja gar keinen Oscar bekommen.

Ja, und er war wirklich in den USA in der Talkshow von Stephen Colbert, einem dort sehr bekannten Talk-Satiriker, Harald Schmidt vergleichbar, allerdings mit einem durchaus ernsthaften Interview. So interessant fand man es dort für die Öffentlichkeit. Und unter den Christen gab es einige Aufregung, inklusive der Bücher, die sich dann gegen Ehrman richten.

Ehrman ist nicht über der Bibelfrage, sondern über die Frage nach dem Leid in der Welt zum Agnostiker geworden. Das ist angesichts der Leidenschaft, mit der er sein Bibelstudium angetreten hat, eine besonders traurig stimmende Entwicklung.

Drei Dinge seien zum Phänomen Ehrman abschließend angemerkt:

  1. Ein Glaube, der sich allzu sehr im formalen Sinn an die Bibel bindet, läuft Gefahr, wenn er auf formaler Ebene angefochten wird, ganz verloren zu gehen, wenn nicht eine lebendige Gottesbeziehung durch die Anfechtung hindurchträgt. Sola scriptura ist ein guter Grundsatz, der aber in einer aktiven vertrauten Gemeinschaft mit Gott eingebettet sein muss.
  2. Wenn Fachleute etwas für kalten Kaffee halten, kann es für den Laien immer noch heiß genug sein. Man kann als Fachmann oder –frau nicht nur darüber den Kopf schütteln, sondern muss mit einem gewissen Erschrecken feststellen, dass Laien gerne auch mal etwas glauben, das gar nicht stimmt oder zumindest verdreht ist. Die Fachleute dieser Welt mögen aufmerken: Es kann tatsächlich passieren, dass Ihr selbst auf Eurem Spezialgebiet nicht mehr gehört wird, da jemand anders Lösungen anzubieten hat, die zwar falsch, aber attraktiv sind.
  3. Man sollte in unseren Gemeinden über Textkritik prophylaktisch lehren, um uns gegen eine solche Entwicklung zumindest ansatzweise zu immunisieren. Traditionell scheuen Evangelikale ja leider die Fragen, die die Voraussetzungen unseres Glaubens unter die Lupe nehmen. Es hilft aber nichts: Allem, was uns in dieser Hinsicht Angst macht, müssen wir umso fester ins Gesicht blicken. Sonst kommt man an dieser Stelle im Glauben nicht weiter. Hier sollte man Ängste nehmen und Mittel und Wege finden, Menschen an den Entstehungsprozess der Bibel heranzuführen und dabei ganz bewusst auch einzelne Punkte ins Visier nehmen, die vielleicht Mühe machen oder gar Ehrman selbst anspricht. Man kann sich sehr angstfrei mit dem Thema beschäftigen; schon dieser Satz ist ein kleines Evangelium, das ich möglichst vielen wünsche.