Das war ein unüberhörbarer Paukenschlag für ganz Europa, als am 21. September 1522 das von Martin Luther aus dem Griechischen übersetzte Neue Testament erschien. Der Wittenberger Drucker Melchior Lotter hatte das epochale Werk in einer Erstauflage von 3000 Exemplaren hergestellt, die schon sehr bald ausverkauft waren. Aufgrund seines Erscheinungsdatums sprechen Fachleute heute vom sogenannten „Septembertestament“.
Diese Bibelübersetzung prägte nicht nur die hochdeutsche Sprache, sondern machte die Bibel zum wirklichen Volksbuch. Ganz im Sinn Luthers sollte jetzt jeder Interessierte selbst in der Bibel nachlesen können, was Jesus und Paulus wirklich gelehrt hatten. Die Aussagen der mittelalterlichen katholischen Kirche sollten damit überprüfbar werden. Außerdem sollte jeder durch das Lesen der Bibel selbst Gott näher kommen können und auch dem Reden des Heiligen Geistes. Mit der Übersetzung des Alten Testaments dauerte es dann noch einmal einige Jahre. Nach intensiven Recherchen und stellenweisen Gesprächen mit jüdischen Experten, kam Luthers Übersetzung des Alten Testaments erst 1534 heraus. Weil es Luther so wichtig war, den Inhalt des Evangeliums, die Botschaft von Jesus und der Apostel, möglichst schnell unter die Leute zu bringen, erschien die Herausgabe der „halben“ Bibel aber durchaus gerechtfertigt.
Martin Luther war nicht der erste, der die Bibel ins Deutsche übersetzte. Bereits im 4. Jahrhundert hatte der Gotenmissionar Wulfila die Heilige Schrift in eine Art urdeutschen Dialekt übersetzt. Zahlreiche andere Theologen des Mittelalters übertrugen Teile der Bibel oder auch ihren ganzen Text ins Deutsche. Einerseits aber sahen viele Menschen keine besondere Notwendigkeit, das Wort Gottes in ihrer eigenen Sprache zu lesen. Andererseits wurde der entsprechende Dialekt immer nur in einer bestimmten Gegend des Landes verstanden. Die Gelehrten ganz Europas lasen die Bibel gewöhnlich sowieso in Latein, das sie fließend beherrschten, weil es die verbindende Lehrsprache war. Außerdem entwickelte erst Johannes Gutenberg im 15. Jahrhundert den Buchdruck, der es ermöglichte, Bücher kostengünstig und in größerer Zahl herzustellen. Bei Luthers Übersetzung des Neuen Testaments fielen also gleich mehrere historisch günstige Faktoren zusammen. Zudem war Luther ein genialer und sprachgewaltiger Übersetzer, dessen Formulierungen die deutsche Sprache und die Bibel für Jahrhunderte prägen sollten.
Das Septembertestament Martin Luthers war eine notwendige Folge der vorangegangenen Ereignisse der Reformation. Als katholischer Mönch und als Professor für Theologie an der Universität von Wittenberg hatte Luther lange mit den Traditionen und Überlieferungen der mittelalterlich-katholischen Kirche gerungen. Gerade am Missbrauch des Ablasswesens wurde ihm endgültig klar, wie weit viele kirchliche Traditionen sich zwischenzeitlich von der Lehre Jesu entfernt hatten. Gegen Geldzahlungen sollten Menschen Sünden vergeben und damit die befürchtete Leidenszeit im Fegefeuer verkürzt werden. Davon fand Luther nichts im Wort Gottes. Auch den exklusiven Anspruch der Kirche auf die Vermittlung des Heils durch ihre Priester und Bischöfe und die allein autoritative Auslegung der Bibel konnte er weder bei Jesus noch bei Paulus finden. Nach Luthers fester Überzeugung widersprach die katholische Kirche ganz grob den Lehren ihres Gründers, obwohl sie vorgab, sich genau daran zu halten. Es dauerte dann noch einige Jahre, ehe Luther den Mut aufbrachte, die Kirchenleitung offen zu kritisieren. Seine 1517 veröffentlichten 95 Thesen zum Ablasshandel und zur Vollmacht des Papstes verbreiteten sich rasend schnell in ganz Deutschland und darüber hinaus. Über Jahre hinweg führte das zu hitzigen Diskussionen; anfangs nur unter den Gelehrten, aber sehr schnell auch unter allen anderen Teilen der Bevölkerung. Gerne hätte die Kirchenleitung diese Kritik unterdrückt. Doch Drohungen und Einschüchterungen fruchteten wenig. Ganz im Gegenteil fühlte Luther sich dadurch noch mehr in seinen Bedenken bestätigt.
Trotz des immensen politischen Drucks widerrief Luther seine Thesen auf dem Reichstag von Worms nicht. Daraufhin wurden ihm alle bürgerlichen und kirchlichen Rechte entzogen. Jeder konnte ihn künftig straffrei ausrauben und töten. Sein Landesherr, Friedrich der Weise von Sachsen (1463-1525), ließ Luther auf der Wartburg vorläufig in Sicherheit bringen. Luther wusste nicht, wie lange das gelingen könnte und er noch zu leben hatte. Deshalb wollte er die ihm noch zur Verfügung stehende Zeit möglichst effektiv nutzen und sein wichtigstes geistliches Erbe schützen. Am meisten bedeutete ihm das Wort Gottes. Die Bibel war für Luther das Buch in dem Gott authentisch zu den Menschen sprach, die Grundlage aller Theologie, der Wissenschaft und des ganzen Lebens. Dieses Buch wollte er möglichst genau aus dem originalen griechischen Text übersetzen und jedem Christen in die Hände geben.
Zwischen Dezember 1521 und März 1522 übersetzte Luther das Neue Testament aus der griechischen Originalsprache; neun Seiten täglich. Oftmals musste er lange grübeln, um eine passende deutsche Entsprechung zu finden. Manchmal erfand er auch neue Ausdrücke, die später sprichwörtlich werden sollten.1 Kaum jemand nimmt heute noch wahr, dass alle diese Begriffe und Wendungen von Luther stammen: anfahren, Denkzettel, Fallstrick, friedfertig, Langmut, Lockvogel, Lückenbüßer, Machtwort, Mördergrube, nacheifern, Richtschnur, Rotzlöffel, Schandfleck, erstunken und erlogen, im Dunkeln tappen oder Zeichen der Zeit und viele mehr.
Es lag ihm am Herzen, möglichst klar und verständlich zu übersetzen. Dabei wollte Luther „den Leuten aufs Maul schauen“, wie er das bezeichnete. Ihm lag es daran, zu schreiben, wie auch tatsächlich gesprochen wurde und die Bibel nicht hinter einer Kunstsprache von Gelehrten zu verstecken.
» Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern muss die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen. Martin Luther
„Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern muss die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“
In Zweifelsfragen konsultierte Luther auch seinen Freund und Mitprofessor Melanchthon, sowie andere Griechisch-Spezialisten, ehe er sich für eine Formulierung entschied. Außerdem sollte der Text möglichst gut lesbar sein und auch etwas poetisch klingen. Mehrfach überarbeitete und verbesserte Luther seine Übersetzung, bis sie schließlich in den Druck ging. Dann verfasste er auch noch kurze Einleitungen zu den biblischen Büchern, mit Angaben über den Verfasser, die Absicht und den hauptsächlichen theologischen Inhalt der entsprechenden Schrift. An den Rand des Bibeltextes stellte er kurze Erläuterungen und relevante Parallelangaben. Illustriert wurde das Buch von einigen kunstvollen Holzschnitten.
Das verlegerische Risiko des Drucks übernahmen zwei wohlhabende Wittenberger Bürger und persönliche Freunde Luthers: der Maler Lucas Cranach und der Goldschmied Christian Döring. Rechtzeitig zur Leipziger Herbstmesse ab Ende September 1522 war Luthers Übersetzung des Neuen Testaments im Handel erhältlich. Obwohl die Ausgabe nicht ganz günstig war, im Schnitt kostete sie einen Gulden – den halben Monatslohn eines Handwerkers – war Luthers Neues Testament schon sehr bald ausverkauft. Bereits im Dezember 1522 wurde in Wittenberg eine zweite Auflage gedruckt. Bis 1533 wurde Luthers Neues Testament insgesamt 85-mal aufgelegt und dann auch deutlich günstiger. Das Buch prägte Gestalt und Frömmigkeit des evangelischen Glaubens bis in die Gegenwart. Seine Übersetzung wurde zum Maßstab für alle weiteren deutschen Bibelausgaben und zum festen Begleiter zahlloser Christen. Luthers Septembertestament gehört heute zum UNESCO-Weltdokumentenerbe.
vgl. Hartmut Günther. Mit Feuereifer und Herzenslust. Wie Luther unsere Sprache prägte. Duden-Verlag, 2017 ↩