Vor 420 Jahren lieferte der damals schon geschätzte Maler Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571-1610) eine Auftragsarbeit ab. Für den Altar der Cappella Contarelli in San Luigi dei Francesi in Rom hatte er drei Gemälde über den Evangelisten Matthäus angefertigt. Eines zeigt ihn am Tisch mit anderen Zöllnern bei der Berufung durch Jesus, ein anderes bildet seinen legendenhaften Märtyrertod ab. Das letzte in der Mitte nun sollte Matthäus bei seiner Arbeit, dem Verfassen des Evangeliums, zeigen. Caravaggio hatte sich durchaus Mühe gegeben. Dabei wollte er nicht einfach die Phantasie spielen lassen und auch nicht zu viel fromme Schönfärberei, sondern irgendwie ein lebensnahes Bild des Evangelisten und Jüngers von Jesus schaffen. Wer genau hinschaute, sah, dass Matthäus sein Evangelium auf Hebräisch verfasst hat, wie es Eusebius in seiner alten Kirchengeschichte berichtet. Auch sollte sein Evangelist nicht aussehen wie ein Gelehrter, ein Mönch oder Priester, sondern wie ein Bauer oder Fischer, wie man sie sich unter den Jüngern von Jesus am ehesten vorstellte.
Eine Sache des Glaubens aber sollte das Bild als Teil eines Altars auf jeden Fall enthalten: Caravaggio sollte die Inspiration des Bibeltextes darstellen. Matthäus hat nach dem Zeugnis der Bibel Gottes Wort durch die Leitung des Heiligen Geistes aufgeschrieben und nicht nur seine eigenen Ideen verfasst. Wer immer das Evangelium genauer studiert, der merkt, dass es einen inneren Aufbau hat, der voller theologischer Botschaft steckt. Zahlreiche Details des Evangeliums (z.B. das Zueinander von Israel als Gottes Volk und allen Völkern als Adressaten der Botschaft), klug eingesetzte Stilmittel (z.B. die Wiederholung einzelner prägnanter Sätze an verschiedenen Stellen im Evangelium) oder die zusammengefasste Wiedergabe der Reden von Jesus weisen darauf, dass das nicht nur dem Kopf eines Zolleintreibers entsprungen sein kann. Caravaggio lässt auf seinem Bild einen Engel die schreibende Hand des Matthäus ergreifen und führen.
Das war nun Anlass für die Kritik der Auftraggeber, die das Bild so nicht abnehmen wollten und keine Verwendung dafür in ihrer Kapelle sahen. Die Meinung soll ziemlich einstimmig gewesen sein: ein Matthäus, der schlicht und sogar etwas ungläubig schaut und nur das willenlose Werkzeug in der Hand Gottes durch einen Engel ist, entsprach durchaus nicht der Vorstellung von der Inspiration. Einige Geistliche sollen sich auch an den groben, nackten Füßen gestört haben, die ihnen, wenn sie vor dem Altar standen, irgendwie ins Gesicht ragten. So nicht! Das Bild durfte nicht aufgehängt werden.
Nun war Caravaggio schon der dritte Künstler, der die Kapelle ausgestalten sollte. Der erste war bereits vor dem Bau beauftragt worden, aber hatte dann nach Fertigstellung nicht angefangen. Der zweite bemalte zwar die Decke, gab dann aber auch den Auftrag zurück. Der dritte Anlauf sollte nun nicht scheitern. Der Marchese Vinzenzo Guistiniani schätzte die künstlerische Qualität dieses typischen Caravaggios und wollte auch nicht, dass der Maler ohne Lohn und das Werk unvollendet blieb. Er machte den Vorschlag, dass er das Bild für seine Sammlung kaufen würde, wenn Caravaggio die Möglichkeit erhielt, noch einen Matthäus zu malen. Er mochte vielleicht auch die freche und hintersinnige Art des Malers. Bei dem Gemälde über die Berufung des Matthäus ist zum Beispiel nicht klar, wer in der Gruppe der Zöllner Matthäus sein soll. Wahrscheinlich war es Absicht von Caravaggio, dass der Betrachter ins Fragen kommt und sich dann auch fragt, ob er selbst von Jesus zum Jünger berufen wird.
Jedenfalls ging man auf den Vorschlag ein. Die zweite Version des Evangelisten Matthäus wurde ohne Beanstandung abgenommen und als Teil des Altars eingebaut, wo man sie heute noch bewundern kann. Was war anders? Der neue Matthäus schreibt nun eigenständig, allerdings wird er von einem Engel beaufsichtigt und der scheint ihm auch etwas zu seinem Schreiben zu sagen. Der Evangelist ist selbständiger, aber trotzdem wird er geleitet. Dieser Matthäus hat immer noch kräftig geformte nackte Füße, aber sie ragen dem Betrachter jetzt nicht mehr direkt ins Gesicht.
Das Ringen um eine angemessene Darstellung der Inspiration des Wortes Gottes zeigt, wie schwer es für uns ist, etwas zu erfassen, das ein göttliches Wunder ist, ohne dass dabei das menschliche Wirken verneint würde. Die einzelnen Autoren der biblischen Bücher haben ihren Stil. Sie waren auch – wie es Lukas von sich berichtet – mit Recherchen beschäftigt, um die Sache genau aufzuschreiben. Der Vergleich der Evangelien macht deutlich, dass z.B. Matthäus die Erzählungen von Wundern regelmäßig viel kürzer berichtet als Markus und Lukas, wenn sie die gleiche Geschichte erzählen. Matthäus will offenbar alles weglassen, was von einem bestimmten Punkt ablenken könnte, der unterstrichen werden soll. Was wir als Ergebnis lesen, ist aber genauso, wie Gott es wollte. Hätte Gott dem Matthäus diktiert oder wie im ersten Gemälde von Caravaggio die Hand beim Schreiben geführt, dann würde nichts anderes da stehen, als wir jetzt lesen.
Das biblische Wort ist ganz und zu 100 % Gottes Wort und es ist ganz das, was die zahlreichen Autoren schreiben wollten und geschrieben haben, entsprechend ihrem Stil, ihrer Sprache und Bildung.
Nur hat Gott überall, wo wir in der Bibel etwas vom Prozess des Schreibens mitbekommen, eben nicht die Hände der biblischen Schreiber geführt. Paulus hat z.B. offenbar die meisten seiner Briefe diktiert, die dann einer seiner Mitarbeiter aufschrieb. Was uns widersprüchlich erscheint, beschreibt die Wahrheit doch am besten. Das biblische Wort ist ganz und zu 100 % Gottes Wort und es ist ganz das, was die zahlreichen Autoren schreiben wollten und geschrieben haben, entsprechend ihrem Stil, ihrer Sprache und Bildung. Für diese christliche Lehre gilt das gleiche, wie für viele andere. Man kann die Anteile nicht auseinanderhalten. Man kann also nicht sagen, der Inhalt sei von Gott inspiriert, aber die Wörter konnte Matthäus dann frei auswählen. Es kommt Gott auch auf die Wörter an (1Kor 2,13; 15,2). Man kann auch den Prozess nicht irgendwie entschärfen, z.B. indem man sagt, dass die Inspiration des Matthäus bei seiner Berufung oder vielleicht an Pfingsten einmal geschah und er danach so unter dem Einfluss des Heiligen Geistes stand, dass nichts mehr mit seinem Evangelium schiefgehen konnte. Und es ist auch nicht so, dass etwa nur die wichtigen Glaubenslehren von Gott eingegeben sind, und alles andere wäre dann freie Zugabe von Matthäus. Das ist auch deswegen ausgeschlossen, weil das fertige Evangelium Teil des ganzen Neuen Testaments ist und für sich allein gewissermaßen nicht vollständig. Z.B. steht in diesem Evangelium nur sehr wenig vom Heiligen Geist und seinem Wirken. Die Inspiration ist ein Wunder, über das wir sprechen können, ohne dass sich alle Fragen lösen lassen. Die Bilder von Caravaggio erinnern daran.
Und darum danken wir auch Gott ohne Unterlass dafür, dass ihr das Wort der göttlichen Predigt, das ihr von uns empfangen habt, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Gottes Wort, das in euch wirkt, die ihr glaubt. 1. Thessalonicher 2,13
Während das eine Bild heute in Rom weiter in der Kapella Contarelli betrachtet werden kann, kam die erste, abgelehnte Version aus der Sammlung in Italien irgendwann in den Besitz der „Staatlichen Museen zu Berlin“. Vor der Bombardierung Berlins im 2. Weltkrieg hat man zwar noch Fotos angefertigt, die den Krieg überstanden, aber das Bild gilt heute als verschollen. Wahrscheinlich wurde es wie zahlreiche Gemälde nach Russland gebracht und ist dort irgendwo in einer Kiste in einem Archiv. Oder ein Sammler kann es in seinem privaten Museum betrachten und macht sich dabei hoffentlich nicht nur Gedanken über die Füße des Matthäus, sondern über die Inspiration der Bibel, die uns mahnt, dass wir das Wort Gottes nicht nur als Menschenwort hören oder lesen, sondern als das, was es in Wahrheit ist: Gotteswort, das uns den Weg zum Glauben und zum ewigen Leben weist.
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