ThemenZeitgeist und Bibel

Mutig antworten! Wie wir die Herausforderung durch eine post-evangelikale Theologie konstruktiv annehmen können

In den letzten Jahren hat sich eine post-evangelikale Theologie entwickelt, die sich z.B. im Projekt „Worthaus“ widerspiegelt. Die Entwicklungen fordern nicht nur zu Kritik heraus, sondern sind auch eine Gelegenheit, eine bibeltreu-konservative Position selbstkritisch zu prüfen. Das Ergebnis sollte sein, dass Christen mutig und ohne fromme Lügen an der Botschaft der Bibel festhalten.

Der Bibelbund hat in den vergangenen Jahren immer wieder die theologische Entwicklung in der evangelikalen Bewegung kritisch begleitet. Dass eine solche Entwicklung stattfindet, ist im Ergebnis nicht nur an der Neufassung des Bekenntnisses der Deutschen Evange­lischen Allianz im Jahr 2018 deutlich, sondern auch an einer breiten Aufnahme der Theologie von N.T. Wright, der Offenheit für die Werbung für Bibelkritik durch das Projekt „Worthaus“ und durch mehrere Veröffentlichungen etwa von Rob Bell, Thorsten Dietz oder Jürgen Mette, die immer wieder die Konservativen unter den Evan­gelikalen kritisch unter die Lupe nehmen und dafür überwiegend Lob erhalten.

Dabei wollen die „Fortschrittlichen“ unter den Evangelikalen die anderen freundlich ermuntern, nicht länger stur an ihrem alten „vormodernen“ Glauben festzuhalten, sondern in großer Einheit mit einem „neuen“, den Kinderschuhen entwachsenen Glauben mitzugehen und die Welt im Namen Christi zu verändern. Bei genauem Hinsehen entpuppt sich der „neue“ Glaube zwar weithin als der „alte“ Glaube, der nach dem Flächenbrand der Bibelkritik übriggeblieben ist, aber er erhält doch nun einen evangelikalen Anstrich und die Verheißung, dass man mit ihm in die Zukunft gehen kann. Weil dabei aber evangelikale Grundwerte aufgegeben werden, erscheint es angebracht, hier von einer post-evangelikalen Theologie zu sprechen. Das typisch Evangelikale soll nämlich irgendwie auch überwunden werden, und das betrifft nicht nur die Bekehrung, die es nicht ins neue Bekenntnis geschafft hat, sondern auch die Überzeugung, dass die Bibel Gottes Wort ist oder dass der Mensch in Sünde verloren ist und allein durch Jesus gerettet werden kann.

Kürzlich fragte mich jemand: „Und, wollt ihr das alles nur kritisieren und davor warnen oder habt ihr auch etwas Positives zu bringen?“ Die Frage ist berechtigt, insbesondere von jemandem, der die Kritik am aktuellen Weg der evangelikalen Bewegung in Deutschland teilt. Er meinte mit dem „Positiven“ auch nicht einfach nur irgendetwas Gutes oder Nettes, wie man es aus christlicher Freundlichkeit oder manchmal auch nur aus Höflichkeit sagt, damit die Kritik nicht ganz so beißend rüberkommt. Er fragte nach der Botschaft, die angesichts der Entwicklungen vertreten werden soll und die darüber hinausgehen sollte, die Schwächen und Fehler der anderen zu benennen.

Konservative Christen sollten bemüht sein, nicht nur als Leute zu erscheinen, die alles kritisieren können. Sie wollen doch zum Festhalten am Wort der Heiligen Schrift ermutigen und das Evangelium treu weitersagen.

Nun meine ich, dass wir uns im Bibelbund bemühen, neben der notwendigen Kritik zu verdeutlichen, wie man heute für das alte Evangelium der Bibel eintreten kann. Wir ermutigen dazu, am Wort der Heiligen Schrift unbeirrt festzuhalten, den Glauben auf Christus zu gründen und das Evangelium froh und klug in dieser Welt zu bezeugen.

Ich will im Folgenden aber einige Beo­bach­tungen zusammenfassend darstellen und aus diesen jeweils etwas „Positives“ ableiten. Es wäre nämlich wirklich keine Werbung für das Evangelium, wenn es nur von Leuten vertreten wird, die überall das Haar in der Suppe suchen und als pessimistische Misanthropen alles schlecht reden. Es wäre traurig, wenn Menschen von der Botschaft Gottes abgeschreckt würden, weil sie so lieblos vorgetragen wurde. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum sich manche Menschen von evangelikalen Ge­meinden abwenden, wenn sie in Lebenskrisen geraten, weil sie dort zu wenig Verständnis finden und man unbarmherzig und lieblos mit ihnen umgeht. Nur ganz so einfach, wie es oft dargestellt wird – dort die verknöcherten, hartherzigen, rechtgläubigen Gemeinden mit ihren Denkverboten, hier die modernen, liebe- und ver­ständnisvollen Gemeinden, die es zwar nicht so genau nehmen, aber in denen man endlich wieder Mensch sein darf – ist die Lage in Wahrheit eben auch nicht. Deswegen die Frage: Woher stammt die Faszination für viele, die in konservativen evangelikalen Gemeinden zum Glauben fanden, und nun von „Worthaus“ mit Siegfried Zimmer, der Theologie eines Thorsten Dietz oder Rob Bell oder den Ideen von N.T. Wright begeistert sind und dafür eintreten?

1. Brüche und Widersprüche

Teilnehmer an den Worthaus-Veran­stal­tungen und Hörer der Vorträge sagen, dass sie sich nach einem Glauben sehnten, in dem Platz ist für die Brüche und Widersprüche des Lebens. Oft empfanden sie in ihren evangelikalen Gemeinden, dass da der eine wahre Glaube klar und einfach verkündet wurde. Aber dieser Glaube passte dann irgendwie nicht mehr zu dem Leben, das diese Christen gelebt haben. Die Brüche sind offenbar durchaus unterschiedlich. Mal ist es die Erfahrung persönlichen Scheiterns, etwa weil man sich außer Stande sieht, die sexualethischen Regeln dieses Glaubens auch zu leben oder nach dem Zerbruch der eigenen Ehe. Der Versuch der frommen Heuchelei in einer als unbarmherzig empfundenen christlichen Gemeinde lässt sich kaum aufrechterhalten. Und dann eröffnet „Worthaus“ eine Möglichkeit, den Glauben irgendwie wieder ins Lot zu bringen.

Mal ist es die Feststellung, dass der eigene Glaube sich nicht nur kaum mit den Weltbildern der eigenen Kultur in Einklang bringen lässt, sondern diese Kultur ständig starke Argumente für ihre Position ins Feld führen kann. Eine Zeitlang mag ein trotziges „Dennoch“ durchzuhalten sein, aber dann kommt das Gefühl, man müsse das eigene „Denken aufgeben“, wenn man weiterhin eine Schöpfung ohne Evolution glauben soll und das Werden des Universums in 6 Tagen oder wenn man einen eingeschränkten Leitungsdienst für Frauen in der Gemeinde vertreten soll. Wie soll man zu einer Bibel ohne Fehler und Irrtümer stehen, wenn man selber den Eindruck gewinnt, dass die Bibel doch Widersprüche enthält. Und wenn das Zeugnis von einem Gott, der Mensch wird, um für die Sünde der Menschen zu sterben, so irrelevant erscheint, so exotisch, wie aus einer anderen Welt, während in dieser Welt ganz andere Probleme brennend sind, sei es nun der Klimawandel, der Hunger oder die Ungerechtigkeit? Gerade die Menschen, die als Teil der evangelikalen Bewegung ihren Glauben ernst nehmen, empfinden diese Brüche besonders stark. Das große Versprechen des post-evangelikalen Christseins heißt: Du kannst befreit werden aus diesen Widersprüchen und Brüchen und kannst mit deinem Glauben in Einklang mit dir und der Welt leben.

Wer den Vorträgen von Siegfried Zimmer zuhört oder Äußerungen von Jürgen Mette und Co. liest, der kann in dieser Hinsicht manche Aha-Erlebnisse haben. Doch die Lösung für das Erleben von Brüchen und Widersprüchen in Glauben und Leben ist dort nicht ein Weg, wie man mit ihnen leben kann, sondern die Verheißung, dass sich die Spannungen auflösen lassen. In den strittigen sexualethischen Fragen wird ein Bild gezeichnet, in dem konsequent eindeutige Positionen eigentlich auf Missverständnissen beruhen, die sich leicht ausräumen lassen. Die Erlösung durch Christus sei ganz anders gemeint. Das anstößige Kreuz und die Vergebung der Sünde werden zur Fußnote in dem Kampf für eine bessere und gerechtere Welt.

Die post-evangelikale Theologie hilft nicht, mit unvermeidlichen Brüchen zu leben, sondern verheißt, sie überwinden zu können.

Das Muster dabei ist auffällig: Man greift zur Begründung immer wieder auf vermeintlich geschichtliche Entwicklungen zurück, erzählt eine Geschichte, wie es zu den Missverständnissen kam, die die großen Probleme bereiten und zeigt sogleich, wie sich diese Geschichte zur heutigen, ­irgendwie höheren und überlegeneren Erkenntnis wei­ter­entwickelt habe. Damit wird uns die Welt erklärt und alles leuchtet so schön ein. Weil es so plausibel klingt, scheint es auch wahr zu sein. Denn dass wir etwas so oder so sehen, habe sich auf diesem oder jenem Weg geschichtlich entwickelt. Dass wir z.B. meinen, der Schöpfungsbericht rede vom Anfang der Welt, liege an der Geschichts­philosophie des 19. Jahrhunderts, aber nicht daran, was in der Bibel steht. Was wir über Sexualethik oder das gottgewollte Verhältnis von Mann und Frau denken, alles erscheint mehr oder weniger kulturgeschichtlich bedingt. Ansichten über eine irrtumslose Bibel seien Folge des Rationalismus.

Um das zu belegen, werden regelmäßig mit groben Strichen logische Geschichtsbilder entworfen, die alles erklären können. Warum vertreten z.B. manche Glaubenswahrheiten als absolute Tatsachen, obwohl man eigentlich alles als persönliche „Glaubenssache“ sehen kann? Sie seien Opfer ihres Sicher­heitsbedürfnisses, das in der heute unüber­sichtlich gewordenen Welt nicht mehr gestillt werden könne. Der christliche Glaube ver­lange so etwas aber auch nicht. Gelöst erscheint damit der Widerspruch des christlichen Glaubens zum modernen Toleranzgedanken.

Um diese logischen Welt­bilder zu entwerfen, werden jedoch regelmäßig geschichtliche Tatsachen nicht nur sehr selektiv herangezogen, sondern sogar kreativ verdreht. Bei genauem Hinsehen gab es die antike Sexualmoral, die die eigene Position stützen soll, so gar nicht. Es war auch nicht die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, die die Menschen von dem angeblichen Glauben an eine flache Erdscheibe heilte, an die auch Paulus noch glaubte. Schon die Antike sprach von einer Erde in Kugelgestalt. Es war nicht Luthers Herkunft als katholischer Mönch, die zu einer Erlösungslehre führte, in der die Vergebung der Sünde durch den Tod von Jesus in der Mitte steht. Es war nicht die Erfindung des Ackerpfluges, die dazu führte, dass die Bibel von Gott als einem Vater spricht. Das Geschichtsargument dient nicht selten dazu, absolute Positionen zu relativieren. Denn das, was sich geschichtlich entwickelt hat, hätte sich auch anders entwickeln können. Wenn Familie aus Vater und Mutter in einer Ehe mit Kindern eine Erfindung aus der Zeit des Bieder­meiers1 ist, dann hätten doch andere Fami­lienformen zumin­dest die gleiche Berechtigung. Die Wirkung dieser Art von Argumentation ist meistens so, dass damit Ungereimtheiten und Gebrochenheit im Glauben und im Leben glattgebügelt werden. Der alte Glaube bleibt voller innerer und äußerer Widersprüche und Brüche, der neue enthält die Verheißung, dass sie überwunden werden.

Wer dem Wort Gottes treu sein will, der muss auch zu den unvermeidlichen Brüchen des Lebens und des Glaubens offen und ehrlich stehen.

Die positive Antwort darauf kann meines Erachtens nicht anders sein, als dass diejenigen, die der Bibel als dem Wort Gottes gegenüber treu sein und bleiben wollen, deutlicher zu den unvermeidlichen Brüchen und Ungereimtheiten des christlichen Glaubens und des Lebens als Christ stehen müssen. Dass die glatten Weltbilder eine solche Faszination ausüben und meist nicht sofort durchschaut werden, liegt daran, dass solche glatten Weltbilder in der evangelikalen Bewegung lange genug auch vertreten wurden. Deswegen ist es höchste Zeit, mit diesem Hang zur frommen Lüge aufzuhören. Wer die Bibel liest, wird auf Widersprüche stoßen und kann auf die Idee kommen, biblische Autoren hätten sich geirrt, und nicht alles Ausgesagte lässt sich einfach aufklären. Die christliche Lehre enthält zahlreiche innere Spannungen, sei es nun das Problem, wie man den barmherzigen Gott, der Liebe ist, mit dem gerechten Richter, der ohne Ansehen der Person strafen wird, zusammendenken soll. Oder das Problem, wie Gott gerecht sein kann, wenn gar nicht jeder Mensch die Möglichkeit erhält, das Angebot des Glaubens an Jesus zu hören und sich dafür zu entscheiden. Es ist nicht logisch, dass dieser Gott, der die Menschen liebt, seinen Sohn in das qualvolle Sterben am Kreuz schickt, weil er sonst nicht vergeben will. Es ist ebenso wenig logisch, dass dieser Gott einen Glauben von uns will, den er uns nur selbst schenken kann. Wer Christ wird, für den lösen sich nicht die meisten Probleme des Lebens, weil er ab diesem Zeitpunkt vom himmlischen Vater mit allem Guten versorgt wird und der alle Lösungen schenkt. Es gibt Christen, die treu an Jesus Christus glauben, aber von Anfechtungen und Glaubenszweifel geplagt werden, mitunter ein Leben lang. Manche erst vorbildliche Christen fallen in tiefe Schuld und verstricken sich darin. Ernsthafte Christen empfinden gegen ihren Willen ein Leben lang homosexuell oder haben das Gefühl, im falschen Körper geboren zu sein.

Statt die Spannungen auflösen zu wollen, müssen wir uns mutig zu ihnen bekennen und zeigen, wie wir damit leben können und Gott dabei ehren.

Der post-evangelikale Glaube will diese Spannungen auflösen. Der alte Glaube muss sich mutig zu ihnen bekennen und aufzeigen, wie man mit dem unbegreiflichen Gott leben kann, statt zu versuchen, ihn begreiflich zu machen. Der alte Glaube muss offen sagen, dass er oft und lange eher ein Hiobsglaube als ein Josefsglaube ist. Viel öfter erleben wir das unbegreifliche Handeln Gottes, das uns ungerecht vorkommt und trotzdem gibt es keinen anderen Gott für uns, als den, der sich genau so offenbart hat. Längst nicht immer wird ein treuer Glaube in diesem irdischen Leben belohnt. Aber Christen sind wir nicht, weil es uns etwas bringt, sondern weil der wahre Gott sich offenbart hat und wir nicht anders können, als ihm zu folgen.

2. In der Welt nicht von der Welt

Wer sich die Entwicklungen des post-evangelikalen Glaubens anschaut, der kommt nicht an seiner Behauptung vorbei, er lese die Bibel genauer, weil er sie „nicht wörtlich“ nehme, sondern weil er sie „ernst nehme“. Aber „zufällig“ führt diese Art von Ernstnehmen der Bibel fast durchweg zu einer Anpassung des Glaubens an die Über­zeugungen der gegenwärtigen, kulturell gängigen Denk- und Wertesysteme (dem sog. „Zeitgeist“). Man „entdeckt“ dabei, dass die Bibel gar nicht prinzipiell gegen homosexuelle Lebenspraxis sei, sondern wolle, dass diese Be­ziehungen vielmehr liebevoll gestaltet werden sollen. Die Bibel habe nichts gegen Sex vor der Ehe, wenn Liebe und Treue dabei sind. Sie vertrete gar keine blutrünstige Sühnetheologie, sondern einen liebenden Gott ohne Zorn. Ihre Schöpfungsbotschaft sei ganz im Einklang mit Urknall und Entstehung des Lebens in evolutionären Prozessen über mehrere 100 Millionen Jahre. Eigentlich sei die Bibel auch nicht intolerant gegenüber anderen Religionen, soweit sie die Menschenrechte achten. Und im Grunde will sie den Einsatz für den Klimaschutz. Damit wird das Bedürfnis nach Harmonie befriedigt und der Widerspruch des christlichen Glaubens zur umgebenden Welt weitgehend aufgelöst.

Es wird auch das Problem gelöst, dass ein öffentlich unattraktiv erscheinender evan­ge­li­kaler Glaube, der wie eine Religion der Ewiggestrigen, wie die Religion der Welt­fremden und der Verlierer aussieht, seine Bedeutung verliert. Mindestens aus der eigenen Perspektive wirkt man endlich nicht mehr wie ein weltfremder Außenseiter oder frommer Spinner.

Ein Blick in die Kirchengeschichte macht schnell deutlich, dass dieses Ansinnen der christlichen Botschaft wiederholt zahlreiche Probleme eingebracht hat. Außer echter christlicher Apologetik gegenüber der griechischen Philosophie hatte es z.B. in den ersten Jahrhunderten auch eine ungute Verbrüderung mit ihr gegeben, um zu zeigen, dass der Glaube es „denkerisch-philosophisch“ durchaus mit Aristoteles oder Platon aufnehmen könne. Zwar erschien der Glaube so damals als modern, aber die Einflüsse beider Philosophen taten dem Evangelium von Jesus Christus nicht gut. Auch der Kirchenvater der Moderne, Friedrich Schleiermacher, wollte – auf ganz andere Weise – dem christlichen Glauben einen Raum verschaffen, in dem er unangefochten seinen Platz haben konnte, nachdem er durch den Rationalismus der Aufklärung im 18. Jahrhundert stark in Bedrängnis gekommen war. Schleier­machers Entwurf der Religion als Gefühl der Abhängigkeit von Gott verschaffte in diesen Auseinandersetzungen so große Freiheit, dass er sich bis heute mit seiner „Alternative“ der Verortung des christlichen Glaubens halten und durchsetzen konnte. Aber der Glaube wurde dadurch so sehr eine rein innermenschliche und innerseelische Angelegenheit, dass der Mensch am Ende mit seinem Glauben allein bleibt und Gott nur noch als eine irgendwie gefasste Transzendenz erscheint. Es ist wohl nicht zufällig, dass sich Züge der Theologie Schleiermachers in modifizierter Form bei Thorsten Dietz und bei Rob Bell wiederfinden. Die post-evangelikale Strategie zur Rettung des christlichen Glaubens zeichnet sich aber mehr durch die Behauptung aus, die Bibel und der christliche Glaube stimmten weitgehend mit dem überein, was auch die moderne Vernunft für richtig hält. Wie die Versuche der Vergangenheit kann m.E. auch dieser nicht gut gehen.

Der alte Glaube darf nicht versuchen, sich relevant zu machen, aber er muss wieder entdecken, warum dem biblischen Glauben eine überragende Bedeutung zukommt.

Und was hat der alte Glaube dagegen Positives zu bieten? Er kann sich nicht dadurch relevant machen, dass er sich anpasst. Aber er könnte wieder stärker lernen, warum er relevant ist, selbst wenn eine große Zahl von Menschen in Westeuropa das anders sehen. Der alte Glaube kann sich prinzipiell überhaupt nicht relevant machen. Er kann nur entdecken, wo, wie und warum dem auf dem biblischen Wort gegründeten Glauben trotz allem eine überragende Bedeutung zukommt. Es macht aber keinen Sinn, diese Bedeutung daran zu messen, wie die Kirche oder die Christen in der öffentlichen Wahrnehmung oder in den Medien wegkommen. Diese Blickrichtung ist falsch. Die Relevanz des Glaubens muss sich aus seinen inneren Werten und den propositionalen Wahrheiten der Offenbarung Gottes ergeben. Die aber sind zeit- und kultur­übergreifend gültig. Wem schwerfällt, das zu glauben, der mag sich hilfsweise erst einmal mit Christen beschäftigen, die – aus anderen Religionen und Kulturen kommend – den westeuropäischen Pessimismus im Hin­blick auf die Zukunft des Christentums nicht teilen. Dann aber hilft nichts anderes, als das Evangelium und die Bibel wieder genauer zu studieren. Das muss damit einhergehen, dass wir intensiv darüber nachdenken, wie unserer heutigen Zeit und Kultur die Botschaft des Evangeliums gesagt werden kann. Ich selbst bin immer wieder erstaunt, wenn ich entdecke, dass die Menschen in meiner Umgebung genau die alten Glaubensfragen der Bibel beschäftigen und dass die alten Antworten, wenn man sie richtig übersetzt, immer noch tragfähig sind.

Die christliche Gemeinde leidet unter geistlicher Herzverfettung in der Wohlstands­gesellschaft und verliert so ihre Widerstands­kraft.

Aber wir müssen auch den Mut zum klaren Zeugnis bei Gegenwind und Anfechtung fördern. Immerhin spricht Jesus davon, dass es zum Normaldasein des Christen gehört, von seiner Umgebung bestenfalls nicht verstanden zu werden. Offenbar ist aber auch bei den Konservativen durch den Wohlstand eine Art geistliche Herzverfettung eingetreten. Weil sich die Gemeinde Jesu gut und bequem eingerichtet hat und den ihr von Gott zugewiesenen Status als Fremde in dieser Welt weitgehend aufgegeben hat, erntet sie die Anpassung der nächsten Generation. Der Wohlstand lässt sich nicht einfach abschaffen und wir müssen auch kein Elend oder Verfolgung herbeiwünschen, um wieder deutlicher die wirklich wichtigen Dinge vor Augen zu haben. Predigt und Lehre müssen aber gezielt zu einem christlichen Leben in der Wohlstandsgesellschaft ertüchtigen, das Herausforderungen gern annimmt, statt sich in die Bequemlichkeit der Anpassung zurückzuziehen.

3. Falsche und echte Sicherheiten

Es gehört inzwischen zu meiner Verkün­digung, dass ich nicht nur die falschen Sicherheiten von Ungläubigen hinterfrage, sondern auch die falschen Sicherheiten konservativer Christen. Kürzlich sagte mir jemand: „Du verunsicherst uns, aber jetzt habe ich verstanden, es geht darum, dass der Glaube auf dem richtigen Fundament steht.“ Genau so ist es, und weil den Bibeltreuen immer wieder unterstellt wird, sie hielten nur aus falschem Sicherheitsdenken an ihren Positionen fest, ist es ratsam, dieses falsche Argument noch einmal unter einer anderen Perspektive anzuschauen.

Konservative Evangelikale und dem reformatorischen Glauben verpflichtete Christen verstehen den Auf­trag von Jesus meist nach dem Prinzip „Botschafter überbringt Botschaft“. Das heißt, ein Botschafter verkündet eine „fremde“ Botschaft, der er jedoch auch selbst glaubt, und will im Auftrag Menschen überzeugen, ihr ebenso zu glauben. Der christliche Botschafter sieht sich als Bote Gottes und Christi und tritt deswegen mit Gewissheit auf. Er weiß um Gottes Willen, dass seine Nachricht wahr ist und nicht von Meinungen und Mehrheiten abhängt. Dazu geht es bei seiner Botschaft nicht nur um grün oder gelb, es geht im Kern um Leben und Tod.

Wenn ein anderer eine falsche Botschaft bringt, schadet das denen, die ihm glauben. Der christliche Botschafter wird davor warnen. Das finden wir auch in der Bibel vor. Wer sich aber heute so versteht, dem wird schnell vorgeworfen, er maße sich ein Wächteramt an oder er sähe nur schwarz und weiß: irregeleitete Bibelkritiker gegen wahre Christen. Konservative Christen, die nach dem Prinzip des Botschafters leben, können oft nicht verstehen, wie sie in die Rolle des Oberschiedsrichters über den Glauben anderer geraten, die sie nie einnehmen wollten und in der sie sich auch nach gründlicher Prüfung nicht sehen.

Verständlich wird das nur, wenn man sieht, dass sie auf ein anderes Argu­men­tationsprinzip treffen. Ich würde es nennen „Überzeugung sucht Bestäti­gung“. Menschen glauben etwas und sind auf der Suche nach Bestätigungen für ihr Denken. Dabei geht es ihnen vor allem um die Überwindung von Ungewissheit. Es kann heute im Prinzip jeder glauben, was er will. Demgegenüber steht der Eindruck eines Denkverbotes im evangelikalen Umfeld: „Ich darf meine Zweifel nicht offen äußern, (ohne geächtet zu werden)“.

Nun gibt es nach meiner Beobachtung tatsächlich beides. Es gibt in konservativen Gemeinden eine Vermeidungsstrategie, die eigenen Grundlagen zu hinterfragen oder hinterfragen zu lassen. Dabei könnte ein gründliches Hinterfragen doch auch dazu führen, dass die Überzeugungen bestätigt werden. Und wenn sie sich nach Prüfung vielleicht nicht als tragfähig herausstellen, dann könnte man mutig damit umgehen, weil Gott und sein Wort genug Fundament für bessere Antworten an­bietet.

Jeder braucht für seinen Glauben Gewissheiten. Lehnt er die Offenbarung der Bibel ab, dann muss er die Lücke anders füllen, und sei es dass er andere als Dummköpfe darstellt.

Auf der anderen Seite aber reicht dem, der auf der Suche nach Bestätigung ist, nicht aus, dass er seine An­fragen und Zweifel offen äußern darf. Er erwartet Akzeptanz von anderen zur eigenen Bestätigung. Tatsächlich reicht es nämlich keinem Menschen, einfach seine Zweifel etwa am Schöpfungsbericht zu äußern oder der Gültigkeit der Sexualethik der Bibel oder der Erlösung durch den Sühnetod von Christus. Er braucht Gewissheiten außerhalb von sich selbst, auch wenn der „neue“ Glaube immer wieder als einer postuliert wird, der ohne feste Gewissheiten auskommen könne. Tatsächlich zeigt sich bei allen Vertretern eines solchen Glaubens, dass sie doch Instanzen einbauen, die irgendwie Gewissheit geben sollen, und wenn das der Glaube an den eigenen Glauben ist. Die biblische Offenbarung soll oder kann es aber für die meisten nicht sein. Zu dem Kampf um die Gewissheit gehört auch, dass diejenigen, die für ein Fundament in der Offenbarung Gottes einstehen, nicht selten öffentlich als bemitleidenswerte Dummköpfe dargestellt werden, während die „aufgeklärten Experten“ wirklich Bescheid zu wissen scheinen.

Für den christlichen Glauben gilt, dass er das Prinzip der festen Gewissheit aufgrund der Offenbarung Gottes und den klaren Aussagen der Bibel nicht aufgeben kann. Er muss seine Botschaft auch als feste Behauptung verkünden, sonst würde er Christus untreu, der eben nicht wie die damaligen Schriftgelehrten predigte, sondern klar sagte, was Gott will. Allerdings gilt dabei, darauf zu achten, ehrlich zu sagen, wo diese gewonnene Gewissheit herstammt. Nicht wir selbst haben sie uns gegeben, sondern wir empfangen sie aus Gottes Wort (woher sollten wir sonst über Gottes Sachen überhaupt etwas wissen können?), und sie bleibt nur in der Verbindung mit Christus und seinem Wort auch lebendig. Aber reformatorisch-konservative Christen und Evangelikale müssen auch besser lernen, dass sie scharf unterscheiden zwischen dem, was wirklich aufgrund des Wortes Gottes gewiss ist und dem, was der eigenen Tradition, Kultur oder der subjektiven Auslegung entspringt. Sie dürfen keine Angst davor haben, hinterfragt zu werden, und am besten sollten sie selber mit dem Hinterfragen anfangen. Das kann zu einer Läuterung des Glaubens beitragen, die wirklich eine Reinigung darstellt und die nicht das Kind mit dem Bade, also den gesunden Glauben mit dem Badewasser, ausschüttet, wie es sich im post-evangelikalen Glauben darstellt.

Weil es in der Aus­ein­ander­setzung tatsächlich um die Gewissheiten des Lebens und Glaubens geht, sollten wir Verständnis dafür aufbringen, dass solche Diskussionen oft ziemlich verbissen, manchmal geradezu empfindlich und dann auch wieder beinahe feindselig geführt werden. Das gehört – Gott sei es geklagt – zu solchen Gesprächen dazu. Andererseits sollen Christen auch diese Diskussionen mit Freundlichkeit, Sanftmut und Geduld führen, selbst wenn die andere Seite das nicht fertigbringt. Es ist darum grundsätzlich nie falsch, immer noch eine zweite Meile im Gespräch zu gehen, sich um Verständnis zu bemühen und Brücken zu bauen. Allerdings kann das nie auf Kosten der Wahrheit und der jeweils debattierten Inhalte gehen. Denn im Ziel geht es nicht darum, dass sich Menschen schiedlich-friedlich auf irgendetwas einigen und alle zufrieden sein können, sondern darum, dass wir Gott ehren, indem wir seine Wahrheit annehmen, darauf bauen und sie verkündigen. Das ist die beste Gewissheit.

4. Sündige tapfer!?

In unserer hochmoralischen Zeit will niemand mehr Sünder sein, selbst die nicht, die aus der Vergebung von Jesus Christus leben könnten.

Wir leben in einer hochmoralischen Zeit. Dass dabei im Allgemeinen nicht die biblische Moral der Maßstab ist, ändert nichts daran. Mit der hohen Moral geht auch eine gewisse Unbarmherzigkeit einher. Ein verunglückter Karnevalswitz ruft Proteststürme hervor, Völker­ball-Spielen sei Mobbing, ein Gedicht auf die Schönheit von Frauen sexistisch. In dieser Stimmung will niemand gern Sünder sein, denn es gibt da kaum Vergebung. Leider kann man das auch bei Frommen und Halbfrommen beobachten. Was für den christlichen Glauben zu den Grundlagen gehört, dass nämlich der Mensch als Sünder identifiziert wird und auch seine Taten so bezeichnet werden, ist selber anrüchig geworden. Inzwischen wurden Forderungen laut, die Bezeichnung eines Menschen als Sünder als Verletzung seiner Menschenrechte anzusehen. So weit ist es in der evangelikalen Bewegung (noch?) nicht. Aber auch sie möchte in Teilen nicht mehr so laut und deutlich davon reden, dass glaubenslose, unerlöste Menschen verlorene Sünder sind, sondern sie betont lieber die Fähigkeiten, die Würde und die geschöpfliche Hoheit des Menschen, statt von seiner Sünde, Schuld und Verlorenheit zu sprechen.

Es wurde zur theologischen Kunst, zu beweisen, dass die Bibel nicht gegen unsere Sünden spricht. So zieht man Gott auf seine Seite, statt sich an Gottes Zuwendung durch seine barmherzige Vergebung zu freuen.

Wer immer scheitert, ob durch eigene Schuld oder widrige Umstände, kennt den inneren Reflex, zu versuchen, den eigenen Anteil an der Misere vor sich und anderen kleinzureden. Dieser natürliche Reflex ist zur theologischen Kunst erhoben worden: Man will oder kann sich an bestimmte ethische Maßstäbe der Bibel nicht mehr halten. Aber statt zu sagen „Das steht zwar in der Bibel, aber wir machen es jetzt anders.“, wird solange an den Aussagen der Bibel herumgedeutet, bis sie mit der selbstgewählten Moral übereinstimmen. Man will Gott auf seiner Seite wissen und sich sagen können, dass man doch alles richtig macht. Auch wenn der Satz ursprünglich in einem anderen Zusammenhang formuliert wurde, möchte man den Menschen zurufen: Sündige tapfer! Das heißt: Sündigt, wenn ihr euch nicht an Gottes Willen halten wollt oder könnt, aber missbraucht nicht noch Gottes Namen, um das eigene Tun zu rechtfertigen. Stattdessen wird mit hohem Aufwand daran gearbeitet, dass dies und jenes Verhalten, das früher einmal der normale Christ (jeder Konfession) und sogar die öffentliche Moral für falsch hielten, auch im Lichte der Bibel keine Sünde mehr sein soll. Sex vor der Eheschließung: Gott hat eigentlich nichts dagegen, wenn es in Liebe und einvernehmlich geschieht. Homosexuelles Leben, gleichgeschlechtliche „Ehen“: Gott hat nichts dagegen, wenn es dem Leben dient und in Liebe praktiziert wird. Ehescheidung: Nicht schön, aber Gott verwirft das nicht. Ablehnung der alleinigen Rettung durch den Glauben an Jesus angesichts der vielen religiösen Lebensmodelle: Gott ist gnädig und wird sicher auch Menschen mit keinem oder einem anderen Gottesglauben retten.

Der post-evangelikale „neue“ Glaube verschiebt die Barmherzigkeit Gottes in eine Richtung, bei der das Wort Barmherzigkeit zu pervertieren droht. In der Bibel ist Gott barmherzig mit dem Sünder. Im „neuen“ Glauben ist Gott so barmherzig, dass viele Sünden keine mehr sein sollen oder es belanglos wird, ob man gegen Gottes Willen handelt. Dietrich Bonhoeffer sprach diesbezüglich in einem ähnlichen Zusammenhang von „billiger Gnade“, hier könnte man von der „billigen Barmherzigkeit“ Gottes reden. Es gibt sicher eine Reihe von Gründen dafür, dass heute anscheinend niemand mehr ein richtiger Sünder sein soll. Einer der Gründe liegt aber auch in den Genen der evangelikalen Bewegung. Denn das berechtigte Bemühen, nicht in Sünde zu fallen, hat auch zu einer gewissen Heuchelei geführt, in der man lieber ohne Sünde sein will, als von der Vergebung aus dem Evangelium zu leben. Gott vergibt gerne, und Jesus Christus starb zur Vergebung der Sünden. Deswegen sollten wir nicht gerne sündigen, aber doch gern unsere Schuld bekennen und aus der Vergebung leben.

Ich frage mich manchmal, ob das heute weiterhin möglich ist, was ich vor vielen Jahren in einer kleinen Missionsgesellschaft erlebte. Der Leiter veruntreute Geld. Als es auffiel, wurde er zur Rede gestellt. Er tat Buße und wollte sein Leben ändern. Da beschlossen die Verantwortlichen im Vorstand, dass er weiter in der Leitung bleiben sollte und als Evangelist das Evangelium verkündigen. Um ihm zu helfen und ihn von Versuchung in diesem Bereich zu entlasten, wurde ein anderer zum Finanzverwalter bestimmt. Die Mission arbeitete im Segen weiter. Ich hielt es damals und heute für ein gutes Beispiel, wie man aus dem Evangelium lebt. Das Leben aus der Kraft der Vergebung ist für den christlichen Glauben eigentlich selbstverständlich. Wäre das aber wirklich der Fall, dann könnte man sich die Versuche sparen, Sünden wegzudiskutieren, statt sie als solche zu bekennen und in Umkehr und Vergebung fröhlich und mit Demut weiter zu leben.

Wie aber soll man damit umgehen, wenn dem Bruder oder der Schwester in Christus der ganze Glaube wegbricht? Auch das geschieht doch und die Brüche, die dann besonders in den familiären Gemeinde­strukturen der evangelikalen Welt entstehen, sind meist sehr schmerzhaft. Denn mit dem Glauben geht auch oft die soziale Gemeinschaft, die bisher den Lebensmittelpunkt bildete, verloren. Dass der Abschied aus „Evangelikalien“ dann als Trauma empfunden wird, ist sofort nachvollziehbar. Und das ist auch dann so, wenn sich die Gemeinde verständnisvoll und barmherzig verhalten hat, wie viel mehr, wenn jemand nur Unverständnis und Ablehnung erfährt. Der einzige Weg ist nach meiner Erfahrung dann der, dass wenigstens Einzelne mit Rückendeckung der Gemeinde eine Verbindung aufrechterhalten und deutlich machen, dass, wer im Glauben Schiffbruch erlitten hat, trotzdem eine offene Tür zurück in die Gemeinde vorfinden kann. Allerdings ist nun etwas anderes passiert: Diejenigen, die in Lebens- und Glaubenskrisen einen Weg ohne den alten Glauben gehen wollen, deuten das als Befreiung und Auszug aus der Gefangenschaft in „Evangelikalien“ um. Aus dem Scheitern wird eine (mitunter sogar gelobte) Befreiung; der Weg heraus aus einem engen, einengenden, bibelgebundenen Glauben wird mit theologischer Unterstützung als Fortschritt und Weiterentwicklung dargestellt. Wieder will man – typisch evangelikal – Gott und sein Wort auf seiner Seite haben. Das scheint der Weg zu sein, um die Verletzungen zu überwinden. Dass er allerdings höchstens eingeschränkt funktioniert, zeigt, dass in einer solchen Situation alles außer Akzeptanz der eigenen „Lage“ als Ausgrenzung und Zurückweisung empfunden wird. Ich sehe nur eine Lösung: gute Beispiele von Scheitern, Niederlage und Zweifel, die in Barmherzigkeit getragen wurden und zu Umkehr und Erneuerung führten, noch mehr – auch öffentlich – herauszustellen. Den Geschichten von „Entkehrung“ sollten ermutigende Beispiele von Umkehr und Erneuerung an die Seite gestellt werden, um genau dazu einzuladen.

5. Ohne Fleiß kein Preis

Die evangelikale Bewegung war eine Bibel­bewegung. Das Studium und die Kenntnis der Bibel hatten einen hohen Stellenwert, weil in der Bibel Gott selber zu Wort kommt und sich dadurch mitteilt. Vor ein paar Jahren war ich auf einer Tagung eines Gemeinschaftsverbandes der einzige von sechs oder acht Referenten, der noch für regelmäßiges Bibellesen und die bedingungslose Hochschätzung des Wortes Gottes eintrat. Die anderen befleißigten sich, das Bibelstudium als religiöse Leistung darzustellen, die Gott nicht von uns verlange. Leider ist eine gewisse Lässigkeit im Erforschen der Schrift eingezogen und mit ihr eine Anfälligkeit für irgendwelche Lehren, die bei guter Kenntnis der Bibel schnell als mindestens nicht stimmig oder sogar falsch erkannt werden könnten. Verbunden hat sich diese Entwicklung mit einer gewissen Verachtung theologischen Arbeitens, wie es in großen Teilen der evangelikalen Bewegung, die sich weithin als Laienbewegung verstand, schon immer gepflegt wurde. Dazu kam schließlich auch noch die Vernachlässigung biblischer Lehre zugunsten der sozial-diakonischen oder evangelistischen Aktion für Jesus und seine Sache. Von Predigten erwartet man zunehmend mehr, dass sie persönlich ansprechen und irgendwie trösten und innere Kraft für die Herausforderungen des Alltags bieten (fromme Lebenshilfe sozusagen), als dass sie biblische Lehre entfalten. Meines Erachtens ernten wir heute die vielfältigen Früchte einer früher gesäten Entwicklung.

Es gibt einen Durst nach gesunder Theologie, die sich brennender Glaubensfragen annimmt. Das darf nicht vernachlässigt werden, sonst wird der Durst an den falschen Quellen gestillt.

Zuerst einmal sollten wir festhalten, dass Menschen offenbar nicht grundsätzlich damit überfordert sind, einen längeren theologischen Vortrag anzuhören. Die Worthaus-Vorträge sind genau das und bedienen offenbar auch einen Hunger nach theologischer Lehre. Es werden in diesen Vorträgen regelmäßig längere theologische Zusammenhänge entfaltet und man kann etwa von Siegfried Zimmer sagen, dass er das durchaus lehrreich und unterhaltsam gestaltet. Auch die ansehnlichen Zugriffszahlen auf Plattformen, die theologische Lehre bieten, zeigen den Bedarf. Eine Frucht der Entwicklung ist also der Hunger und Durst nach „Information und Aufklärung“, selbst wenn der nicht immer an gesunden Quellen gestillt wird. Die angemessene Reaktion darauf kann nur sein, dass Gemeinden beispielsweise wieder regelmäßig theologische Lehrwochen anbieten, dass sie ihre jungen Leute ermutigen, an Wochenendbibelschulen teilzunehmen und Werbung für gute theologische Bücher machen und nicht nur für unterhaltsame christliche Romane. Auch die multimediale Vermittlung von Inhalten als Hilfsmittel sollte geübt werden, wo immer es den Zuhörern entgegenkommt.

Die Reformation hatte die Bibel endlich wieder dem normalen Gläubigen in die Hand gegeben und trotz der Gefahr von Irrtümern bei der Auslegung jeden Christen ermutigt, selber Bibel zu lesen und sie auszulegen. Das Vertrauen in die Kraft des Wortes Gottes war so groß, dass es menschliche Irrtümer korrigieren kann und sich so selbst auslegt, dass jeder, der gründlich genug studiert, auch die Antworten finden kann. Damit wollte man sicher keine individualistische Bibelauslegung fördern. Denn natürlich sollten auch Pfarrer und Lehrer die Gläubigen zum rechten Verständnis der Bibel anleiten. Die bibelkritisch-liberale Theologie und in ihren Fußtapfen jetzt die post-evangelikale Bewegung nimmt jedoch den Gläubigen die Bibel weitgehend aus der Hand. Ständig behaupten Zimmer, Dietz und Co., dass ohne weitreichende theologische Kenntnisse die Bibel nicht richtig verstanden werden könne. Ohne von Theologen an die Hand genommen zu werden, bleibe die eigentliche Bedeutung des Gesagten dem Leser verschlossen. Mit dieser Haltung, die an Hochmut grenzt, meint man wie N.T. Wright nach Jahr­hunderten des Irrtums, nun endlich sagen zu können, was Paulus wirklich meinte. Bei Dietz und Zimmer scheint sich sogar Jesus geirrt zu haben, als er die Schöpfungsgeschichte nicht für einen Mythos hielt und Noah und Jona für geschichtliche Personen. Ich wünschte mir, dass sich die Gläubigen solchen theologischen Hochmut, der oft mit einem selbstgefälligen Herabschauen auf den einfachen Christen gepaart ist, nicht gefallen lassen. Allerdings sollten sie darauf nicht mit Verachtung von Theologie im Ganzen reagieren, sondern mit einer neuen Freude, selbst als Christen und Gemeinden und an Ausbildungsstätten wieder gründlich theologisch zu arbeiten.

Christen sollten sich die Bibel nicht aus der Hand nehmen lassen, sondern selber wieder fleißiger studieren. Wer begabt ist, soll theologisch arbeiten.

Sicher ist nicht jeder Christ gleichermaßen zum theologischen Arbeiten berufen. Grundkenntnisse etwa in Form von bibelkundlichem Wissen kann aber jeder erwerben. Darüber hinaus sollte sich die christliche Gemeinde nicht nur Gemeindemanager und Evangelisten leisten, sondern eben auch Leute, die Lebenskraft aufwenden, um die Tiefe und Schönheit des christlichen Glaubens mit ihrem theologischen Arbeiten herauszustellen. Ich sehe viele Herausforderungen. Wer arbeitet an einer Theologie des Gottesdienstes, die standhaft macht, unsere Gottesdienste nicht am Maßstab von modernen Show­ver­an­staltungen zu messen? Wie wird die biblische Lehre von Sünde und Verlorenheit der modernen Kultur neu verdeutlicht? Wer erarbeitet die Lehre von der Inspiration der Bibel für heute? Wie kann die Gemeinde eine biblische Theologie für die Seelsorge wiedergewinnen, die aus dem Sog der psychologischen Menschenbilder befreit, ohne die Psychologie verteufeln zu müssen? Wie kann eine gesunde Lehre von der Heiligung formuliert werden, die weder zurück in einen ungesunden, gesetzlichen Heiligungsstress führt noch eine beliebige Situationsethik zum Maßstab werden lässt?

Ohne Fleiß und Einsatz im Studieren der Bibel und im theologischen Arbeiten können keine guten Früchte erwartet werden. Sie sind ein Geschenk Gottes, denn auch hier gilt: Gott gibt das Gedeihen. Aber wie im Garten vor dem Ernten das Unkrautjäten und die Aussaat stehen, so auch im Garten der Gemeinde. Ohne Arbeit gibt es keine Ernte, ohne Gottes Gnade aber auch nicht.

6. Wir brauchen Mut

Mutlosigkeit ist keine christliche Tugend, Feigheit schon gar nicht. Ohne Mut aber ist es unmöglich, für die christliche Wahrheit einzustehen. Die wird nämlich auf jeden Fall – so sagen es Jesus und die ganze Bibel – auch Ablehnung erfahren, und mit ihr, wer sie mutig vertritt. Darüber darf der gelegentliche Bei­fall nicht hinwegtäuschen. Ohne Mut zum klaren Bekenntnis mit der Bereitschaft Ab­lehnung und Unverständnis zu ernten, geht es im christlichen Glauben nicht. Um den notwendigen Mut zu bekommen, empfiehlt die Bibel immer wieder auf Jesus selbst und dann auch auf die Glaubensväter und -mütter zu schauen.

Ich selber habe über Jahr­zehnte in christlichen Werken und Gemeinden gearbeitet und mir manchmal angehört, dass Kolle­gen sagten: „Du kannst so offen sprechen, denn du kannst in deinem anderen Beruf arbeiten, wenn du rausfliegst.“ Oder ein anderer meinte: „Wenn ich auch eine Frau hätte, die gut verdient, dann könnte ich auch so mutig sein und diesen Missstand beim Namen nennen.“ Bei An­ge­stellten in den Kirchen hört man nicht selten hinter vorgehaltener Hand, dass sie sich erst dann offen äußern wollen, wenn sie in Rente oder Pension sind. Ich verurteile das nicht und kann die Existenzängste gut verstehen, aber sie verführen auch zu einer ­gefährlichen Kompromissbereitschaft, die am Ende vielleicht ohne rechte Absicht die Wahr­heit Gottes verrät.

Aber wir brauchen auch Mut zur gegenseitigen Ermahnung. Es hat sich eine große Empfindlichkeit unter den Christen breitgemacht, die es nur noch schwer erträgt, wenn man zurechtgewiesen wird. Vor ein paar Jahren hat mir ein alter CVJM-Sekretär gesagt, dass er früher einen Mitarbeiter einfach zur Seite nehmen und ihm dies und das Kritische sagen konnte, um dann konstruktiv zu überlegen, wie man es künftig besser machen kann. Heute kündigen diese Leute ihre Mitarbeit auf und sagen, der Mann habe sie total fertiggemacht und gebe keine Luft zum Atmen usw. Empfindlichkeiten solcher Art nehmen zu.

Der biblische Glaube klammert sich oft zitternd und zagend an Gottes Wort. Aber nur das bringt echten christlichen Mut hervor.

Doch diese Empfindlichkeit ist nicht selten eine Kehrseite von Selbstverliebtheit und der Suche nach der Gewissheit in sich selbst. Das Ideal des selbstgewissen Menschen wird oft mit Glaubensstärke und Mut verwechselt. Würden wir unsere heutigen Maßstäbe anlegen, wären Paulus und Luther Menschen voller Zweifel und Ängste. Tatsächlich waren sie stark angefochten und suchten und fanden Gewissheit nur außerhalb ihrer selbst bei Gott und seinem Wort. Manchmal haben Christen den Eindruck, dass sie keine Zweifel oder Ängste haben sollten oder sie jedenfalls nicht äußern dürften. Aber das wäre kein Mut. Denn das kommt nicht aus dem Wort Gottes oder dem Wesen des christlichen Glaubens, sondern aus der Verwechslung von Glauben mit Selbstgewissheit. Es ist der biblische Glaube, der sich oft zitternd an Gottes Wort klammert, um nicht unterzugehen, der wahren christlichen Mut hervorbringt.

Darum ist es so wichtig, dass Christen einander Mut machen, treu im Glauben zu bleiben und bei der offenbarten Wahrheit in der Bibel. Einander den Mut zu rauben, ist leicht, andere der Feigheit zu bezichtigen, wenn man es selber bequem hat, auch. Darum kommt es darauf an, einander zu ermutigen. Grund dafür gibt es genug, weil uns der Gott allen Trostes (2Kor 1,3) selber mit seinem Wort und Evangelium ermutigt.


  1. Die Zeit des Biedermeiers lässt sich streng genommen auf 1815 bis 1848 festlegen. Als kulturgeschichtliche Epoche geht sie aber noch darüber hinaus, soweit sie für eine kleinbürgerliche Kultur mit privater Häuslichkeit als hohem Wert steht.