In Eph 4,11ff. benennt der Apostel Paulus fünf Ämter, die Gott der Gemeinde Jesu gegeben hat: Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer. Seit einiger Zeit werden in der evangelikalen Welt vermehrt Forderungen laut, sämtliche in diesen Versen genannten Ämter jetzt und hier zu besetzen und entsprechende Dienste für die Gemeinde Jesu nutzbar werden zu lassen. Man spricht in diesem Zusammenhang von dem sogenannten fünffältigen Dienst. Zur Veranschaulichung wird gelegentlich das Bild einer Hand mit den fünf Fingern vermittelt, wobei die Finger jeweils für ein bestimmtes Amt stehen.1
Die Kampagne „AHELP“ (engl. a help = eine Hilfe) stellt Apostel, Hirten, Evangelisten, Lehrer und Propheten ebenfalls im Sinne von Eph 4,11 dar.2
Neu ist für viele Gläubige, dass auch der Dienst eines Apostels bzw. einer Apostelin für zwingend notwendig im Gemeindedienst erachtet wird. Stefan Vatter, einer der führenden Vertreter dieser Bewegung, definiert den apostolischen Dienst wie folgt:
- Sein Auftrag besteht darin, in neues Land aufzubrechen, um Gemeinden zu gründen, zu fördern und die Botschaft Gottes in der Welt zu proklamieren.
- Als Gesandter des Königs handelt er aus einer Reich-Gottes-Perspektive mit dem Ziel, alle Lebensbereiche des Menschen mit dem Evangelium zu durchdringen.
- Er denkt visionär und strategisch. Er spürt Potenziale einer Mannschaft auf und findet Wege, diese zum Wohl der Gemeinde, des Reiches Gottes und der Gesellschaft einzusetzen.3
In entsprechenden Seminaren wie dem K5-Leitertraining werden diese fünf Dienste als Kompetenzen vermittelt und die Teilnehmer entsprechend gecoacht.4 Viele Gemeinden und Bibelschulen bieten entsprechende Schulungen an.5 Auch Bücher wie „Finden, fördern, freisetzen“ von Stefan Vatter propagieren den fünffältigen Dienst und speziell die Wiederentdeckung des apostolischen Dienstes.6
Dieser Artikel zeigt die Ursprünge und Entwicklung dieser von manchen Vertretern als „Neue Apostolische Reformation“ (NAR) bezeichneten Bewegung auf. Anschließend soll die Bedeutung des biblischen Apostelamts dargestellt werden. In einem letzten Abschnitt werde ich auf einige Herausforderungen für die bibeltreue Gemeinde Jesu eingehen und in dem Zusammenhang auch eine kritische Selbstreflexion vornehmen.
1. Ursprünge und Entwicklung der Bewegung
Wer sich mit den Vorträgen, Seminaren oder Büchern über den fünffältigen Dienst beschäftigt, wird unschwer erkennen, dass das Konzept des fünffältigen Dienstes, mit der Betonung des apostolischen Dienstes, dem charismatischen Lager entstammt und in den Vereinigten Staaten schon länger debattiert wird. Man kann also sagen, dass das Gedankengut aus den USA in den deutschsprachigen Raum überführt wurde.
Bereits in den 90er Jahren äußerte sich der bekannte Charismatiker und Gründer der Vineyard-Bewegung, John Wimber, wie folgt:
„Gott ist dabei, das apostolische Amt in der Kirche wieder einzuführen. Es werden Männer auftreten, die den Herrn Jesus Christus gesehen haben und welche die Zeichen und Wunder eines Apostels tun werden. Wir haben Männer dieser Art seit dem ersten Jahrhundert nicht mehr gehabt. Doch wenn Gott diese zu Beginn verwendet hat, warum sollte er sie nicht am Ende gebrauchen?“7
Nachdem in der sog. Dritten Welle die Betonung auf den Dienst der Propheten sowie den Zeichen und Wundern gelegt wurde, ist nun der Dienst des Apostels in das Zentrum gerückt. C. Peter Wagner, ein amerikanischer Missiologe mit beträchtlichem Einfluss, kennzeichnet die neue Bewegung als „Zweites Apostolisches Zeitalter“ oder „Neue Apostolische Reformation“8, wobei er die Auswirkungen der Bewegung als mindestens mit denen der Reformation vergleichbar bezeichnet. Wagner geht davon aus, dass es in der gesamten Kirchengeschichte immer Einzelne gegeben hat, die die Gabe eines Apostels besaßen. Allerdings konnte sich erst bis zum Jahr 2001, das er zum Beginn des „Zweiten Apostolischen Zeitalters“ erkoren hat, eine „kritische Masse“ entwickeln.9 Grundlegende These Wagners ist, dass wir Christen „nur dann Zugang zur geistlichen Vitalität und Kraft der Kirche des 1. Jahrhunderts erhalten, wenn wir alle Geistesgaben anerkennen, akzeptieren, empfangen und darin dienen, einschließlich der Gabe des Apostelamtes“.10 Im Jahr 2000 führte Wagner als „Vorsitzender Apostel“ die Internationale Koalition der Apostel und hatte diese Funktion bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2009 inne.
Stefan Vatter führt in seinem Buch die Gedanken charismatischer Vordenker wie C. Peter Wagner ohne Einschränkungen fort.
In Stefan Vatters Buch „Finden, fördern, freisetzen“, welches zu den wichtigsten deutschsprachigen Veröffentlichungen zum apostolischen Dienst zählt, finden sich viele der oben genannten Thesen wieder. Wie Wagner geht Vatter davon aus, dass es in der gesamten Geschichte Apostel und Apostelinnen gab. Ebenso propagiert er den apostolischen Dienst als essentiellen Bestandteil der Reich-Gottes-Arbeit. Auch wenn Vatter m.E. in seiner Veröffentlichung moderater auftritt als seine charismatischen Vordenker, führt er ihre Gedanken ohne Einschränkungen fort. Auch weitere bekannte evangelikale Vertreter stimmen ihm und seinen Thesen grundlegend zu.11
2. Die Bedeutung des biblischen Apostelamts
Wenn man den apostolischen Dienst im weiten Sinn als Pioniermissionar oder einfach Gesandter der Gemeinde versteht, dann gibt es auch heute Apostel. Aber das sind keine im Sinne der Apostel Christi.
Die Frage, ob es heute noch Apostel gibt, hängt davon ab, wie dieser Begriff verwendet wird. In Phil 2,25, 2 Kor 8,23 und Joh 13,16 ist der Apostel ein Gesandter, der kein besonderes Amt bekleidet. In diesem weit gefassten Sinn verwenden Befürworter des apostolischen Dienstes den Apostelbegriff als Gesandten oder auch als Pioniermissionar. Es versteht sich von selbst, dass es in diesem Sinne noch Apostel gibt bzw. geben darf.
Demgegenüber ist es eine andere Frage, ob diese sehr weit reichende Bedeutung auf Eph 4,11 übertragen werden darf.
Am häufigsten bezieht sich das Wort Apostel auf das spezielle Amt des „Apostels Jesu Christi“ (z.B. Röm 1,1; 2 Kor 1,1; Eph 1,1; Kol 1,1; 1 Petr 1,1; 2 Petr 1,1 uvm). John MacArthur bemerkt zutreffend:
„Diese Boten darf man jedoch nicht mit den Zwölfen oder dem Apostel Paulus verwechseln. Ein Apostel des Herrn Jesus Christus zu sein, war eine besondere Berufung, ein gewaltiges Vorrecht und alles andere als nur ein zwischengemeindlicher Botendienst.“12
Ein heutiger Christ kann in diesem engen Sinne niemals Apostel Jesu Christi sein, denn hierfür gab es verschiedene Voraussetzungen:
- (a) Zum einen musste der Apostel den Herrn Jesus nach dessen Auferstehung mit eigenen Augen gesehen haben (Apg 1,22; 10,39ff.; 1 Kor 9,1; 15,7f.). Selbst Paulus, der nach der Auferstehung Jesus nicht gesehen hatte, betont in 1 Kor 9,1 und 15,7ff., dass ihm Jesus erschienen ist und er somit Christus selbst gesehen hatte.
- (b) Darüber hinaus musste ein Apostel durch den Herrn Jesus selbst eingesetzt worden sein (Mk 3,14; Lk 6,13; Apg 1,2.24; 10,41; Gal 1,1). Auch diese Voraussetzung war bei Paulus gegeben, wie er in Apg 26,16f., Röm 1,1, Gal 1,1, 1 Tim 1,12, 2,7 oder 2 Tim 1,11 verdeutlicht.
- (c) Schließlich musste der Apostel in der Lage sein, die Echtheit seines Apostelamts durch die apostolischen Wunder- und Zeichengaben zu bestätigen (Mt 10,1f.; Mk 16,17; Apg 1,5ff.; 2,43; 5,12; 8,14; 2 Kor 12,12; Hebr 2,3-4).13
Neben den 13 Aposteln (den Elf plus Matthias und Paulus als dem letzten Apostel) gab es mit Barnabas, Jakobus, dem Bruder Jesu und womöglich Silas, Andronikus, Junias und evtl. ein paar nicht Genannten eine begrenzte Anzahl von weiteren Aposteln. Während die 13 Apostel Apostel Jesu Christi in diesem engeren Sinne waren, waren die anderen Gesandte der Gemeinden (2 Kor 8,23).14 Da niemand heutzutage jedoch diese Voraussetzungen erfüllt, kann auch niemand für sich beanspruchen, Apostel des Herrn Jesu Christi zu sein.
Nun könnte jemand einwenden, dass der Herr Jesus ihm z.B. in einer Vision erschienen sei und ihn zum Apostel ernannt habe. Dieser Anspruch muss jedoch zurückgewiesen werden, da er folgenden Punkten widerspricht:
Die ersten Apostel bildeten das Fundament der Gemeinde. Die wurden am Anfang gelegt und seitdem wird die Gemeinde als Tempel Gottes darauf gebaut.
Erstens bildeten die Apostel Jesu Christi und nicht heutige Apostel das Fundament der christlichen Gemeinde (Eph 2,20; Eph 3,5; Off 21,14). Besonders Epheser 2,20 weist stark darauf hin, dass es nur zu Beginn des Gemeindezeitalters Apostel gegeben hat, die diese Grundlage bildeten. Das Bild von dem Bauwerk ist nur dann schlüssig, wenn einmalig das Fundament gelegt wurde, denn sonst könnte der Tempel gar nicht aufgebaut werden. Stadelmann bemerkt insoweit zutreffend:
„Fundamente werden nicht immer wieder gelegt, sondern am Anfang. Und so bedarf die Gemeinde des Neuen Bundes im Lauf ihrer Geschichte auch nicht immer neuer grundlegender Offenbarungen – nein, mit den Aposteln und Propheten wurde unwiederholbar der Grund gelegt, auf dem im folgenden gebaut wird.“15
In diesem Sinn ist auch Eph 4,11 auszulegen, da bereits Eph 1,1; 2,20 sowie 3,5 von diesem engeren Apostelbegriff ausgehen. Stadelmann kann deshalb überzeugend folgern:
„In Eph 4,11 ist aber nicht allgemein von ‚Boten‘ die Rede, sondern von den ‚Aposteln‘.“16
Der Aorist „und er hat (…) gegeben“ spricht nach Auffassung einiger Ausleger über ein einmaliges Ereignis in der Vergangenheit.17 Der Kontext der Verse 8-10 bekräftigt dies ebenfalls, denn nach seiner Himmelfahrt hat Jesus der Gemeinde die Gaben (bzw. eher Ämter) gegeben.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die frühen Kirchenväter die Zeit, in dem die Grundlage der Gemeinde gelegt wurde, der Vergangenheit zuordneten. Sowohl Ignatius, Irenäus, Tertullian als auch Lactantius sahen das Fundament der Gemeinde als gelegt an. Sie waren nicht der Ansicht, dass sie oder weitere Apostel das Fundament weiterhin legen müssten. In tiefem Respekt vor der Einzigartigkeit der Apostel und ihrer Lehre (!) kann beispielsweise Ignatius schreiben: „Ich erteile euch hierüber keine Befehle, als ob ich ein Apostel wäre; doch als euer Mitknecht erinnere ich euch daran.“18
Zweitens sah sich Paulus als den letzten der Apostel an (1 Kor 15,8) und erteilt damit allen selbsternannten Aposteln eine göttliche Absage. Er sah sich keinesfalls, wie MacArthur es zutreffend ausdrückt, „als maßgebliches Muster für spätere Generationen“19. Die Apostel sprachen sich fortan für Älteste bzw. Hirten sowie Diener (Diakone) in der Gemeinde aus (1 Petr 5,2; Tit 1,5). Nirgends findet sich in den Paulusbriefen eine explizite Aufforderung, neue Apostel zu benennen. Auch in 1 Tim 3 werden lediglich Voraussetzungen für die Ältestenschaft und die Diakone benannt, nicht aber für die Apostel. Ebenso kann Alfred Plummer feststellen:
„Bemerkenswerterweise enthält die Lehre Christi keine einzige Aussage in Bezug auf die Priesterschaft der Zwölf, und sie nimmt auch nicht darauf Bezug, dass die Vollmacht der Zwölf auf andere übertragen worden ist. Weil es die primäre Aufgabe der Zwölf war, Zeugen dessen zu sein, was Christus gelehrt und getan hat, und vor allem Zeugen seiner Auferstehung von den Toten zu sein, war auch keine Übertragung eines so außergewöhnlichen Dienstes möglich.“20
Stefan Vatter als Befürworter des neuen apostolischen Dienstes erkennt zwar die Einmaligkeit der zwölf Apostel an, jedoch nicht, weil sie Augenzeugen von Jesu Auferstehung waren, sondern weil sie nach Mt 19,28 eine künftige Bedeutung haben, die sie von den anderen Aposteln unterscheidet.21 Paulus gehört nach Vatter nicht zu den Zwölfen. Seiner Ansicht ist es …
„am sinnvollsten, neben Jesus als dem Vorbild aller Apostel, von zwei weiteren Gruppen von Aposteln zu sprechen: die Zwölf und dann alle weiteren Apostel, zu denen auch Paulus gehörte. Diese schlicht gehaltene Linie zeichnet sich aus dem Neuen Testament ab und sollte nicht unnötig verkompliziert werden.“ (S. 38)
Indem Vatter das abgeschlossene Fundament der Apostel ignoriert, kommt er zu der Behauptung, dass der Dienst der Zwölf nicht auf die Zeit des NT beschränkt sei.
Indem Vatter die Bedeutung der biblischen Voraussetzungen für das Apostelamt Jesu Christi kleinredet, das abgeschlossene Fundament der Apostel und auch die Stellung des Apostels Paulus als dem letzten der Apostel ignoriert, ist es ihm an anderer Stelle möglich, vollmundig zu behaupten:
„Die Auffassung, der apostolische Dienst sei auf die Zwölf oder auf die Zeit des Neuen Testaments beschränkt gewesen und hätte daher heute keine Relevanz mehr, entspricht nicht dem Befund des Neuen Testaments.“ (S. 42)
Wie schon angedeutet, ist gerade das Gegenteil der Fall. Eph 2,20, 3,5 und 4,11 sprechen in harmonischer Weise von der Grundlegung der Gemeinde als einem abgeschlossenen Ereignis. Zu Eph 4,11ff. bemerkt MacArthur zutreffend, dass die Auferbauung des Leibes Christi als Werk fortbesteht (s. V. 12), nicht aber als apostolischer Dienst in dem Sinne, dass es heute noch Apostel geben muss.22
Wayne Grudem, selbst ein Vertreter für das Fortbestehen der Geistesgaben, bemerkt in dieser Hinsicht zutreffend:
„Anstelle lebender Apostel, die in der Kirche gegenwärtig sind, um sie zu lehren und zu regieren, haben wir die Schriften der Apostel in den Büchern des Neuen Testaments. Jene Schriften des Neuen Testaments erfüllen für die Kirche heute die absolut autoritativen Lehr- und Leitungsfunktionen, die von den Aposteln selbst während der Frühzeit der Kirche erfüllt wurden.“23
3. Auswirkungen und Herausforderungen für die Gemeinde – eine kritische Analyse
Wie wir bereits im vorigen Punkt festgestellt haben, überzeugen die vorgebrachten Argumente für das Fortbestehen des apostolischen Dienstes mit der Einsetzung von Apostel(innen) im Sinne von Eph 4,11 nicht. Die Apostel hatten eine einzigartige Stellung in ihrer Lehre und ihrem Dienst, die durch die NAR und ihre Fürsprecher in unzulässiger Weise relativiert wird. Der Kontext von Eph 4,11 und des gesamten Epheserbriefes (speziell Eph 2,20) wird von ihnen ignoriert oder leichtfertig beiseitegeschoben.
Diese theologische Grundentscheidung hat weitreichende Folgen: Zunächst wird die Lehre der Apostel, die wir im biblischen Kanon vorfinden, als unzureichend wahrgenommen. Stattdessen wird der Raum für neue Apostel und spezielle Offenbarungen gegeben. Vatter bemerkt beispielsweise, dass wir auf Zeichen- und Wunderwirkungen des apostolischen Dienstes nicht verzichten können.24 An anderer Stelle benennt er mögliche Zeichen und Wunder des apostolischen Dienstes: das Auftreten großer Menschenmengen, körperliche Heilungen, Strafwunder des Gerichts Gottes, Befreiungswunder von dämonischen Belastungen, Totenauferweckungen, übernatürliche Bestätigung der Verkündigung, Enthüllung göttlicher Offenbarungen oder die Vermittlung von Geistesgaben.25 Dies bedeutet im Ergebnis eine Verschiebung von der objektiven biblischen Offenbarung hin zur subjektiven Offenbarung, was in erschreckendem Maße an endzeitliche Verführungsprinzipien erinnert (z.B. Mt 24,24; 2Thess 2,9ff.; 1Tim 4,1ff.; 2Tim 3,1ff.; 4,3f. u.a.).
Vatter folgert dann konsequenterweise, der fünffältige Dienst führe zum vollen Maß der Fülle Christi (S. 198). In diesem Bewusstsein versuchen er und seine Vertreter, den apostolischen Dienst in der Gemeinde zu etablieren. Auch wenn Vatter löblicherweise anerkennt, dass Gemeindewachstumskonzepte kein geistlich dynamisches Leben bewirken (S. 245), geht er mit seinen Empfehlungen zu Kontextanalysen (S. 140), apostolischen Beratern (S.225) und von ihm vorgelegten Tests zur Selbst- und Fremdeinschätzung im Stile der bekannten Gabentests26 genau diesen Weg (S. 205ff).Tragisch ist hierbei, dass den Gemeinden und Gläubigen durch geschickte Formulierungen suggeriert wird, Gott könne nur dann Erweckung schenken, wenn der fünffältige Dienst konsequent umgesetzt wird. Der apostolische Dienst könne demnach mit einer befreienden Wirkung wahrgenommen werden (S. 16). Gemeinden mit ausschließlich dem Hirtendienst hätten lediglich einen „einfältigen Dienst“(S. 20).
So kommt es dann auch, dass sich Vatter in der Tradition der altbekannten Gabentheologie auch für Apostelinnen ausspricht (S. 46ff). Ironischerweise greift er auf 1 Tim 3,1ff. zurück, um Charakterzüge von Apostel(innen) zu definieren. Hierbei verkennt er jedoch die männliche Grundvoraussetzung des Abschnitts.
Angesichts dieser Entwicklungen stellen sich viele Fragen: Werden nun die Gemeinden übersät mit selbsternannten Apostel/-innen oder apostolischen Berater/-innen? Wird den Gemeinden nun suggeriert, erst durch den fünffältigen Dienst komme es zur Erweckung? Und ist womöglich Gott davon abhängig, dass der fünffältige Dienst erkannt und freigesetzt wird?
Was Wilfried Plock an anderer Stelle zur Gemeindewachstumsbewegung besorgt geäußert hat, muss auch hier gelten: Die Gefahr besteht, dass die Gemeinden in einem schleichenden Prozess von den Maßstäben des Neuen Testaments weggeführt werden hin zur Optimierung eines Computer-Ergebnisses, wobei die Heilige Schrift unbewusst und sukzessive durch die Normen menschlich-selektiver Kriterien ersetzt wird.27
Bei der kritischen Analyse der NAR möchte ich abschließend jedoch nicht versäumen, auf einzelne positive Punkte zu sprechen zu kommen. Dass Vatter und viele andere Vertreter des fünffältigen Dienstes eine Leidenschaft besitzen, Gläubige gottgemäß in der Gemeinde einzusetzen, ist glaubwürdig. Vatter bemerkt zutreffend, dass es lieblos ist, Menschen zu führen, ohne zu wissen, was Gott ihnen anvertraut hat (S. 19).
Bibeltreue Gemeinden und Älteste sind hier aufgefordert, inmitten ihres Volkes zu wohnen (2Kön 4,8), die Begabungen ihrer Geschwister unter Gebet einzuschätzen und darum zu ringen, dass Gottes Bestimmung für sie in seinem Ackerfeld Wirklichkeit wird. Viel zu oft konzentrieren sich die verantwortlichen Brüder auf die durchzuführenden Veranstaltungen, weniger auf die einzelnen Glieder. Leider kommt es sogar dazu, dass Gaben brach liegen, weil die Ältestenschaft für neue Auf-Gaben nicht bereit ist und im schlimmsten Fall sogar um zu große Einflussnahme oder Machtverlust fürchtet.
Vatter bemerkt auch, dass man die Potenziale der Gläubigen „freisetzen“ müsse, statt die neuesten Theorien aus Sozialwissenschaften (Soziologie, Psychologie) zu wälzen (S. 185). Auch hier kann man nur von Herzen zustimmen. Getragen von der festen Überzeugung, dass Gott heute noch Erweckung und geistliches Wachstum schenken möchte, ist der erste und beste Weg sein irrtumsloses Wort, eine fröhliche, geistliche, demütige Gemeinschaft im ständigen Gebet vor unserem Herrn und eine veränderte Blickrichtung – weg vom ICH, hin zu IHM (Hebr 12,2). Wir müssen sein „Potenzial“ erkennen und im Glauben ergreifen, bevor er unser Potenzial nach seinem Willen gebrauchen kann.
z.B. bei Jens Kaldewey, https://www.jenskaldewey.ch/images/files/Der_f%C3%BCnff%C3%A4ltige_Dienst_-_Die_starke_Hand_Gottes.pdf (Stand: 14.04.2019) oder bei Stefan Vatter: Finden, fördern, freisetzen. Wirksam führen – die Wiederentdeckung des apostolischen Dienstes. Schwarzenfeld: Neufeld Verlag, 2016, S. 184ff. ↩
https://www.ahelp.info/ (Stand: 14.04.2019); siehe auch Vatter, aaO, ebd. ↩
Vatter, aaO., S. 29. ↩
https://k5-leitertraining.de/ (Stand: 14.04.2019) ↩
So z.B. regelmäßig das Forum Wiedenest, vgl. https://www.wiedenest.de/gemeindeforum/veranstaltungen/k5/anmeldung-k5-leitertraining-wiedenest (Stand: 14.04.2019) ↩
Vatter, aaO. ↩
Zitiert nach: Wolfgang Bühne: Dritte Welle…gesunder Aufbruch? Bielefeld: Christliche Literatur-Verbreitung 1993, S. 7f. ↩
C. Peter Wagner, The Changing Church. Ventura: Regal 2004, S. 12. ↩
ebd. Wagner meint, dass der Leib Christi erst nach und nach erkennen musste, welche vernachlässigten Dienste wieder eingeführt werden sollten. Nach den Propheten in den 1980er Jahren wurden in den 90er die Apostel wiederentdeckt, und als genug davon eingesetzt waren, startet 2001 das „Zweite Apostolische Zeitalter“. ↩
C. Peter Wagner, zitiert nach John MacArthur: Fremdes Feuer. Wie gefährliche Irrtümer über den Heiligen Geist den Glauben zerstören. Augustdorf: Betanien Verlag 2018, S.144, mit weiterem Verweis ↩
Das Buch wird auf den Seiten 6-8 von vielen bekannten Größen wie Heinrich Christian Rust, Johannes Reimer, Ingolf Ellßel, Horst Afflerbach, Peter Wenz, Wolfhard Margies, Johannes Hartl, Keith Warrington, Christoph Stiba, Lothar Krauss, Stefan Hänsch und Horst Stricker empfohlen. Den Thesen des Autors stimmt beispielsweise Heinrich Christian Rust ausdrücklich zu: „Ich teile voll und ganz das Anliegen des Autors, dass die Neuentdeckung und eine gesunde Praxis des apostolischen Dienstes für einen umfassenden geistlichen Aufbruch in unserem Land unerlässlich ist.“ (S. 6). Ebenso äußert sich Horst Afflerbach: „Man fragt sich beim Lesen unwillkürlich, warum ein solches Buch über den apostolischen Dienst nicht schon viel früher erschienen ist. Wenn die Gemeinde ‚auf der Grundlage der Apostel und Propheten aufgebaut ist, wobei Christus der Eckstein ist‘ (Eph 2,20), dann ist es lebenswichtig, diesen Dienst zu kennen (S. 6). Wolfhard Margies (S. 105ff.), Heinrich Christian Rust (S. 257ff.), Gerd Goldmann (S. 261ff.) und Peter Wenz (S. 267ff.) haben dem Werk eigene Beiträge zugeführt. Für die Brüderbewegung von besonderer Bedeutung und Brisanz ist hierbei der Aufsatz von Gerd Goldmann, der über den fünffältigen Dienst in Brüdergemeinden schreibt. Der missional-emergente Neufeld-Verlag hat darüber hinaus weitere Bücher herausgegeben, die den fünffältigen Dienst und den heutigen apostolischen Dienst befürworten. ↩
MacArthur, aaO, S. 15, Hervorhebung im Original. ↩
Die Anzahl der genannten Voraussetzungen variiert. Während Grudem nur die ersten beiden Voraussetzungen benennt, geht MacArthur m.E. wegen 2 Kor 12,12 schlüssiger von drei Voraussetzungen aus. Andere Theologen wie Louis Berkhof benennen sogar fünf Voraussetzungen (vgl. Louis Berkhof: Systematic Theology. Edinburgh: The Banner of Truth Trust 2012, S. 585). ↩
John F. MacArthur: Ephesians (The MacArthur New Testament Commentary). Chicago: Moody Publishers 1986, S. 141. ↩
Helge Stadelmann: Epheserbrief in: Edition C Bibelkommentar. Holzgerlingen: Haenssler Verlag 2007, S. 112. ↩
ebd, S 165. Siehe auch William W. Klein: Ephesians in: The Expositor’s Bible Commentary. Revised Edition. Grand Rapids: Zondervan 2006, S. 80. ↩
So z.B. Wayne Grudem: Biblische Dogmatik. Eine Einführung in die Systematische Theologie. Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft 2013, S. 1011. Vgl. auch Harold W. Hoehner: Ephesians. An Exegetical Commentary. Grand Rapids: Baker Academic 2002, S. 397ff. ↩
Vgl. zu diesem Punkt insgesamt: MacArthur, Fremdes Feuer, aaO, S. 157ff. ↩
aaO. S. 154. ↩
Alfred Plummer, zitiert nach: John Piper: Einzigartige Herrlichkeit. Wie die Bibel ihre absolute Glaubwürdigkeit offenbart. Bielefeld: Christliche Literatur-Verbreitung 2019, S. 160, mit weiterem Nachweis. ↩
Vatter, aaO., S. 37f. ↩
MacArthur, Fremdes Feuer, aaO, S. 163. ↩
Grudem, aaO, S. 1011. ↩
Vatter, aaO., S. 99. ↩
ebd., S. 98 je mit Hinweis auf verschiedene Bibelstellen. ↩
Hier seien vor allem die Veröffentlichungen von Christian A. Schwarz genannt, z.B. Die 3 Farben deiner Gaben: Wie jeder Christ seine geistlichen Gaben entdecken und entfalten kann oder Die natürliche Gemeindeentwicklung: Nach den Prinzipien, die Gott selbst in seine Schöpfung gelegt hat. Für eine kritische Darstellung vgl. u.a. Wilfried Plock: Konzeption und Trends in der Gemeindewachstumsbewegung in Bibel und Gemeinde 2000 Nr. 4. ↩
ebd. ↩