ThemenGemeindeleben, Kultur und Gesellschaft, Zeitgeist und Bibel

Wenn die Form den Inhalt dominiert – eine persönliche Reflektion zu Elementen der ICF-Movement

Die ICF-Bewegung hat sich von Zürich aus unter der Leitung ihres Gründers Leo Bigger inzwischen auch in Deutschland ausgebreitet. Es wurden vor allem in größeren Städten neue Gemeinden gegründet, die weitgehend nach demselben Schema aufgebaut sind und geführt werden. Die Gemeinde richten sich mit Ausstattung, Musik und Ansprache hauptsächlich an jüngere Besucher und erreichen viele tausend wöchentliche Gottesdienstbesucher und Teilnehmer in Kleingruppen. Dieser Artikel kombiniert den Bericht eines Familienbesuchs bei ICF mit zehn weiter gefassten Überlegungen. Nicht alle treffen gleichermaßen auf die Bewegung und auf die einzelne Gemeinde zu. Natürlich hat die Säkularisierung und Konsumgesellschaft auch bei anderen Verbänden überdeutlich Spuren hinterlassen.

Wir wollen unbedingt einmal in die ICF gehen!“ Mit neugierig-offenem Blick schaut mich mein 10-jähriger an. Meine Antwort: „Ich gehe nächsten Sonntag mit euch hin.“

Als Eltern wollen wir die Ersten sein, die ein neues Kapitel im Leben unserer fünf Söhne eröffnen.

Reflektion #1: Neue Bewegung, kaum historisches Bewusstsein

Was hier mein Sohn formulierte, geht vielen anderen Besuchern auch so: Sie sind neugierig auf die Veranstaltung. Sie haben durch andere davon gehört und wollen auch mal hingehen. Die vor rund 20 Jahren aus einer Bewegung hervorgegangene Gemeinde versteht sich als „Movement“. Sie hat zuerst in der Schweiz, dann im benachbarten Ausland in städtischen Gegenden neue Standorte gegründet.

Das Bestreben des Movements besteht darin, Kirche am Puls der Zeit zu sein. Das bedeutet: Weg mit überkommenen Formen. Dieser hehre Gedankengang birgt eine ausgeprägte Schlagseite. Und die geht einher mit einem schwach ausgeprägten Bewusstsein für die letzten 2000 Jahre (Kirchen-)Geschichte.

Die gesellschaftliche Geschichts­verges­sen­heit bildet sich hier auch in kirchlichen Strukturen ab. Das birgt eine enorme Gefahr. Wer die Vergangenheit übergeht, stolpert in die Zukunft.

Wer nicht in der Lage, ist Irrtümer der Vergangenheit zu erkennen, wird von ihnen erneut gefangen werden.

Zudem wird es auch bedeu­tend schwieriger, Fehlent­wick­lun­­gen rechtzeitig zu erkennen. Wer frisch und fröhlich auf der grünen Wiese zu beginnen meint, wird erst über die Jahre und Jahrzehnte zunehmend mit Schattenseiten konfrontiert werden. In den begeisterten Anfängen liegt es in der menschlichen Natur, diese zu übersehen. Die Vorgeschichte dauert immer viel länger, als wir es uns dachten. Sie ist tief in den Gewohnheiten und Denkvoraussetzungen der Gemeindemitglieder ver­ankert.

Mein Ältester schrieb für uns den Weg zur Halle der ICF auf. Wir wählten den ersten Gottesdienst um 09.30 Uhr. „Unplugged.“ – „Was heißt das?“ Na ja, ohne Strom kommt dieser Gottesdienst nicht aus. Im Gegenteil: Hätte man das Kabel gezogen, hätten wir im Dunkeln gesessen. Das Schlagzeug spielt dezent, zwei akustische Gitarren und ein akustischer Bass, drei Sänger, ein zurückhaltend bespieltes E-Piano.

Männer tragen Hipster-Frisuren, als Ganzrasierter befinde ich mich in der Minder­heit. Ebenso fehlen mir die kurze Hose und das Tattoo über dem Knöchel und die Sonnenbrille. Das schwarz-reflektierende Stadtbike hätte ich problemlos im urbanen Sihlcity-Komplex (Einkaufszentrum in Zürich) parken können.

Reflektion #2: Konsumenten­kategorien auf den Glauben übertragen

Wir sind inzwischen gewohnt nach Konsumenten­kriterien den „passenden“ Gottesdienst auszuwählen.

Welche Brille habe ich mir da unwillkürlich aufgesetzt? Es ist die eines Kon­sumenten. Er vergleicht seine Erwartungen unbewusst mit dem Angebot. Wir sind gewohnt, in Kon­sumenten­kate­gorien den „pas­senden“ Gottes­dienst und die gefühlsmäßig „stimmige“ Kirche auszuwählen. Wir gleichen unsere inneren Erwartungen mit dem „Angebot“ ab. Das haben wir von klein auf gelernt. Wir wähnen uns in diesen Momenten als „souveräne“ Konsumenten. Gleichzeitig sind wir ständig auf der Suche nach Vergleichsbildern. Wir überprüfen unsere Erwar­tungen stetig an inneren Vorbildern. Meis­tens ist das eine Vergleichsgruppe, das heißt eine Gruppe von Menschen, deren Lebensbedingungen in irgendeiner Weise unseren eigenen ähnlich sind.

Gottesdienst ICF-Zürich (screenshot Youtube)

Ein kurz rasierter Endzwanziger fängt unsere Jungs vor der Rolltreppe ab: „Es gibt Games. Es wird lustig. Wir gucken zusammen einen Film.“ Lächelnd stehe ich daneben. Meine Jungs sollen sich selber entscheiden. Unschlüssig stehen sie vor der Rolltreppe. Einer meint: „Ich möchte sehen, wie der Saal aussieht.“ Meine Frau sucht noch die Toilette auf. Hinterher erklärt sie: „Hauptsache, es wird nicht ruhig. Selbst auf dem stillen Örtchen laufen Filme.“ Erschreckt schaut mich meine Frau an. Eine 24-Stunden-Powerfrau hätte sich gerade diese 30 ruhigen Sekunden gewünscht.

Reflektion #3: Die Kinder wachsen als autonome Konsumenten heran

Diese kurze Szene steht sinnbildlich für das, was wir unserer nächsten Generation weitergeben. In einem Artikel habe ich es so zusammengefasst gefunden. Ich könnte es nicht besser formulieren:

„In der Seelsorge treffe ich immer wieder auf Eltern, die verzweifelt sind, weil ihre Kinder im Teenageralter nicht mehr in den Gottesdienst gehen wollen oder sogar mit dem Glauben insgesamt nichts mehr zu tun haben wollen.

Wenn man nachfragt, um sich ein Bild vom Alltag des Aufwachsens dieser Kinder zu machen, erfährt man meistens, dass deren Großwerden sich nicht sehr vom Heranwachsen ihrer ungläubigen Freunde unterschied. Sie gingen zur gleichen staatlich-säkularen Schule, sie hörten die gleiche Musik, sie sahen ebenso die statistischen drei Stunden täglich fern und machten auch sonst all das, was man eben so zu tun pflegt – außer eben, dass sie am Sonntagvormittag mehr oder weniger freiwillig zum Gottesdienst in eine Gemeinde mitgingen, jedenfalls solange sie sich noch in einem Alter befanden, in dem sie unselbständig waren.

Wenn dazu noch kommt, dass selbst in heutigen so genannten Gottesdiensten eben­falls nur noch Unterhaltung geboten wird, ist es für Kinder aus christlichen Familien schwierig, Gott und sein heiliges Wort kennenzulernen. Das Volk Gottes war immer auch das von der Welt abgesonderte Bundesvolk Gottes.“

Wir konsultieren schnell noch den Büchertisch. Die neuesten Bände aus dem fontis-Verlag liegen auf, auch Johannes Hartls Gebetsbuch.

Reflektion #4: Therapeutische Gesamt­aus­richtung von Ver­kündigung und Literatur

Anhand von Philipp Rieffs «The Triumph of the Therapeutic» habe ich versucht eine weltanschauliche Karte für die therapeutische Durchdringung unserer Gesellschaft zu skizzieren. Diese Entwicklung schlägt auch in der Kirche durch.

Welches ist das Ideal? Antwort: Ich bin Autor und Gestalter auf der privaten Bühne meines Lebens. Dort soll mir eine lebenslange, möglichst ungestörte, sorgenfreie und natürlich unterhaltsame Dauervorstellung geboten werden.

Was steht schief? Antwort: Alles, was diese Erfüllung stört, muss beseitigt werden. Eine Spezialkategorie dieser Störung stellen diejenigen dar, die behaupten, es gebe eine absolute Wahrheit. Im christlichen Bereich sind es die Verfechter von Dogmen.

Kann es darum gehen, dass wir feiern, wenn wir zu unserer inneren Stimmigkeit gefunden haben und das Eigene triumphiert?

Wie können die Probleme beseitigt werden? Antwort: Entdecke und durchforste dein Inneres. Führe dir vor Augen, wie genial du bist. Wenn du zu deiner inneren Stimmigkeit zurückgefunden hast, dann feiere dies. Lasse das Eigene triumphieren!

Was ist das schlimmste Vergehen? Sich selbst untreu zu sein und andere zu stören und sie dadurch zu verletzen.

Warum gibt es andere Menschen? Sie sind zuerst Erfüllungsgehilfen meiner eigenen Bedürfnisse. Falls ich es so will, können sie aber auch Nutznießer meiner Anstrengungen werden. Der Lohn dafür ist das Geliebtwerden.

Wer ist Gott und wer sind seine Priester? Das Ich ist die oberste Instanz. Es geht um mich. Berater und Therapeuten – auch in der Gestalt von Predigern – übernehmen streckenweise (bei Verunsicherung innerhalb dieser Grundorientierung) die Funktion des Sorgers.

Die Kinder haben sich entschlossen, mit uns in den Hauptgottesdienst zu gehen. Der Türsteher hält uns auf, mustert uns kurz und weist mich mit bestimmtem Ton an: „Dann bitte in die letzte Reihe!“ Wir versinken in den roten Kinoplüschsesseln. Das abgemagerte Mädchen im schicken Outfit, das mit uns im Bus hingefahren ist, haben wir aus den Augen verloren. Es ist dunkel. Mein Sechsjähriger fragt mich: „Wie kann ich aufschreiben, wenn alles dunkel ist?“ Das habe ich mich auch gefragt. Ich bin gezwungen, die Notizen im Dunkeln anzufertigen. Auch mal eine Erfahrung.

Reflektion #5: Bitte nicht zu kompliziert!

Nachschlagen? Aufschreiben – in der Kirche? Das ist außergewöhnlich. Unsere Kinder sind das als Homeschooler – meine Kinder sind bei meiner Frau im Privatunterricht – von klein auf gewohnt. Damit ernten sie aber immer wieder irritierte Blicke. Die evangelikale Bewegung ist nicht eben dafür bekannt, im Denken stark zu sein. In einem Beitrag schrieb ich dazu:

Die schwierigen Fragen zu stellen, das steht uns Frommen weniger gut an. Vielleicht noch weniger, auf Antworten zu warten und um sie zu ringen. Den iPad können wir bedienen, doch wehe es kommt eine Frage, auf die es keine Standardantwort gibt! Einfach haben wir es uns gemacht. Der Zweck heiligt die Mittel. Funktioniert’s, ist es erlaubt. Stimuliert’s, bekommt es den Stempel approved. Alles ist gut, was nicht über 20 Minuten dauert. Kulturell sind wir abgehängt, die Quittung für unsere „me too“-Strategie. Stellen wir uns den komplexen Themen. Komplex? Ohne unzulässige Vereinfachung. Ohne Ausflucht „es kommt (nur) auf die Situation an.“

Vor mir stehen sechs schlanke, blonde Frauen auf und strecken die Hände in die Höhe. Ein sehr nettes Zürich-deutsches Lied wird gespielt. Echt guter, biblischer Inhalt. Man hätte problemlos einen kurzen biblischen Impuls zum Lied anhängen können. Stattdessen streckt der Worship-Leiter mit Baseballmütze beide Arme in die Luft und betet: „Ich bitte dich für neue Träume und für eine neue Leidenschaft.“ Ich wünsche mir aber die alten Träume. Diejenigen, die unsere Vorfahren im Glauben auch schon hatten und die unser Land der Reformation nachhaltig veränderten. „Sehen“ bleibt das entscheidende Stichwort. Die Visualisierung war über die gesamten 75 Minuten hervorragend.

Reflektion #6: Die Verpackung prägt den Inhalt

Ich bin mit dem Satz aufgewachsen: „Die Verpackung wechselt dauernd. Der Inhalt bleibt gleich.“ Mit diesem Standardargument haben sich viele Gemeinden hervor­getan, mit der neuesten Veranstaltungstechnik zu experimentieren. Ohne dass man sich dies so bewusst überlegt hätte, beginnen so Medien und Methoden eine dominierende Rolle zu spielen. Technologiekritiker wie Jacques Ellul (1912-1994) haben schon vor über 50 Jahren darauf hingewiesen, dass die Form den Inhalt prägt und verändert.

Die Anpassung der Formen an modernen Unterhaltung hat zur Folge, dass biblische Inhalte auf ein Unterhaltungs­programm getrimmt werden, das man mit Daumen rauf oder runter beurteilt.

Der US-ameri­kanische Theologe David F. Wells zeigt in seinem Buch The Courage to Be Protestant auf, wie sich die „Suchersen­sibi­li­tät“, also die Um­gestaltung der Got­tes­dienste auf „nie­derschwellige“ Inhalte und zeit­gemäße For­men ver­heerend auf die Folge­­gene­ration durch­schlägt: Sie werden nirgends um­fassend mit den biblischen Inhalten und dessen spezifischen Begriffen vertraut gemacht. Sie erleben Kirche von klein auf als Unterhaltungsprogramm, dem man mit einer Daumen rauf oder runter-Mentalität antworten kann.

Meine Frau meinte hinterher: „Das Video von der radikalen Veränderung im Leben dieses jungen Mannes bleibt mir am meisten in Erinnerung.“ Wirklich krass, wie er durch Gottes Gnade Veränderung erfahren durfte. Mir kamen auch die Tränen. Ein junger Mann erlebte durch die Bekehrung seiner Eltern selber eine radikale Kehrtwende. Der Bass wummert in meinem Brustkasten. Das fühlt sich als Herz-Operierter etwas unangenehm an.

Reflektion #7: Emotionale Bewegung als Gütesiegel

Ob Stille Zeit, Seelsorge, Sonntagschule oder Gottesdienst: Es gibt ein Gütezeichen für eine gelungene „Session“. Es ist das emotionale Berührt-werden. Darauf steuern alle Darbietungen hin. Wir suchen nach dem emotionalen Kick, nach Intimität, dem Gestreichelt- und Berührtwerden. Das Merkmal einer geisterfüllten Gegenwart ist das Bewegt-werden des Gefühls. Diese Wertung birgt eine enorme Gefahr. Wir können solche Augenblicke un- oder halb-bewusst herbeiführen. Das Kriterium ist nicht mehr das Überführt-Werden von Sünde, sondern eine bestimmte Form von Selbst-Mitleid. Wie es das Wort schon sagt: Es geht um das Selbst.

Der Geschäftsführer berichtet anhand von Gebetskarten von Heilungen an Wirbelsäule, am Herzen und von Krebs. Leise fragt meine Frau: „Und was machen all diejenigen, die nicht geheilt werden?“ Ich denke: Es gibt eine breite Vordertür, also auch eine breite Hintertür. Ich kenne viele Gleichaltrige, für die der ICF eine Lebensphase war. Eine fromme, die jetzt vergangen ist.

„Kirche ist ein Ort, wo wir füreinander beten und einander tragen. Gott weiß, wie dein Körper funktionieren muss.“ Etwa ein Dutzend Mal werden wir aufgefordert, einen Applaus zu geben.

„Keine Angst, wir sprechen nicht jeden Sonntag über Zahlen.“ Das Geschäft läuft, die Zahlen stimmen. „Well done. Gebt euch einen Handshake!“

Reflektion #8: Kirchen managen

Die Gemeindewachstums-Be­we­­gung hat in den 1980ern Busi­­ness­strategien für die Kirche anschlussfähig gemacht. Pastoren sind dadurch zu Managern mutiert. Sie haben das Kirchen­volk als selbständige Konsumenten bei Laune zu halten. Es geht um den Umgang mit Erwartungen, die Gestaltung eines ausgeklügelten Programms und das Einholen von Rückmeldungen. Die „Consumer Experience“ steht im Vor­der­grund. Diese gilt es zu steigern. Programm-Management, Werbung und Crowdfunding rücken ins Zentrum der Aktivitäten.

Nach einem weiteren Lied – dieses Mal in englischer Sprache – betritt der ICF-Gründer Bigger die Bühne. Es ist „Vision Sunday“. Mein Achtjähriger flüstert mir zu: „Hier musst du schon einige englische Ausdrücke kennen.“ Ich frage zurück: „Weshalb?“ – „Weil es cool ist!“ Ich nicke. Dann noch eine Frage: „Ist das jetzt die Predigt gewesen?“ Nein, da kommt wohl noch etwas.

Toller Sound, super Filme! Würdest Du auch solche Scheinwerfer kaufen, wenn du eine Gemeinde gründen würdest?

Die 60 Vollzeit-Angestellten und die zahlreichen Freiwilligen haben wirklich Vollgas gegeben. Es ist ungeheuer angenehm. „Wenn ich ein Mann bin, gehe ich immer in die ICF.“ Ich will wissen, weshalb. „Weil hier so angenehme Stühle sind.“ Auf dem Nachhauseweg fügen die anderen hinzu: „Toller Sound, super Filme.“ „Würdest du auch solche Scheinwerfer kaufen, wenn du eine Gemeinde gründen würdest?“

Reflektion #9: Charisma und Performance

Ich streiche heraus: Ich zweifle mit keinem Gedanken an der Aufrichtigkeit dieser Männer und Frauen. Sie setzen sich zum Teil seit Jahren mit Leib und Seele für ihre „Movement“ ein. Die Kultur, definiert als Summe der Gewohnheiten, hat jedoch eine Atmosphäre geprägt, in der Charisma und Performance zu den alles entscheidenden Größen werden. (Nur) die Hippen und die Coolen überleben bzw. bekommen Zugang zu den zentralen Funktionen der Unterhaltung. Die Formung des Charakters gerät dadurch in den Hintergrund.

Kurz flackert eine Folie mit Epheser 4,11-12 auf. Es geht um den fünffältigen Dienst (Apostel, Propheten, Hirten und Lehrer, Evangelisten). „Das wichtigste ist die Balance.“ Der gebräunte Redner mit schicken Jeans und roten glänzenden Turnschuhen führt anhand seiner fünf Finger vor, warum es alle fünf Dienste braucht. Dann wird aus allen fünf Diensten ein Clip gezeigt oder ein Interview geführt. Es sind viele neue, konkrete „Tools“ geplant. Zum Beispiel eine neue Online-Plattform mit „tiefen Teachings“.

Viermal fällt der Satz – ich habe mitgezählt: „Neue kommen, weil es keine Predigt gibt.“ „Da kommt man noch einmal gut davon.“


Leo Bigger predigt darüber, wie man heute die Stimme Gottes hören kann. (screenshot Youtube)

Sie wollen genau das bieten, was wir brauchen. „Wir sind Könige und Königinnen. Du bist nicht bestimmt durch deine Umstände.“ Ja genau, die Siegertypen werden angesprochen. Du musst hart wollen, dann wirst du eine emotionale Veränderung erfahren. „Das Musical ist die beste Form von Evangelisation, denn es spricht emotional an.“ Genau dies muss uns abgestumpften Medienkonsumenten passieren. Der ultimative Stimulus wird gebraucht, die emotionale Spitze. „Wir wollen nicht wissen, wir wollen erleben und sehen.“ Danke, ich habe es schon oft genug gehört. Christsein ist Gefühls- und wenn es hoch kommt noch Willenssache. Den Verstand lässt man doch besser zu Hause. So wie das Tagebuch auch. Man kann die Session nachher ja noch auf der Online-Plattform angucken. One Church, many Locations.

Mehr Food wird es in den nächsten Monaten geben. Ein prophetisches Tool wird jeder Frau und jedem Mann aufzeigen, was Gott über ihre bzw. seine Situation denkt und wie sie ihren Einflussbereich ausweiten können. Bin ich bereit für gute Taten (eine Anspielung auf 2Tim 3,17)? Will ich mich durch Gottes Geist verändern lassen? Eventuell. Klingt gar nicht schlecht…

Reflektion #10: Das Zentrum der Verkündigung

Tolle Performance, tolles Engagement, aber wo war die anwendende Auslegung eines Bibelabschnitts?

Was ist nun das erste Kriterium für einen Gottesdienst? Ich hoffe, ich habe es genügend herausgestellt: Da war tolle Performance. Da war tolles Engagement. Da war von allem etwas drin. Doch es fehlte mir das Hauptstück: Die sorgfältige, gut strukturierte und auf das Leben der Zuhörenden an­gewandte Aus­legung eines Bibel­abschnitts. Das ist keine Forderung eines denkenden Menschen. Gott hat es als Mittel gewählt, um alle Menschen anzusprechen.

„Wie würdest du den Gottesdienst aufbauen?“ fragt einer meiner Söhne. Mein Vorschlag: Eine Lesung aus dem Alten und aus dem Neuen Testament und natürlich eine bibelauslegende Predigt. Jedes Element des Ablaufs wird genau und mit Bibelbezug erklärt. Danach Zeit, um über Sünde im eigenen Leben nachzudenken und Sünden zu bekennen. Dann das gemeinsame Glaubensbekenntnis, auch zwei Fragen aus dem Katechismus würden dazu gehören. We desperately need to hear God‘s word. Wir brauchen unbedingt Gottes Wort, nicht weil wir das Buch anbeten, sondern weil der Schöpfer und Erlöser angekündigt hat, durch dieses Wort zu sprechen.

Fazit

Wegen der spärlichen Einweisung in die Bibel und unterstützt durch die Performance können problemlos alle möglichen Inhalte eingeführt werden. Woher soll das geistliche Unterscheidungs­vermögen kommen?

Nicht an guten Absichten fehlt’s. Auch nicht an Hin­gabe. Das Problem sehe ich an einem anderen Ort: Die Form dominiert (leider) den Inhalt; es müsste umgekehrt sein. Verbunden mit einem schwach ausgeprägten Ge­schichts­bewusstsein und einer spärlichen Einweisung in die Bibel ist damit eine Gefahr übergroß: Wenn die Performance stimmt, können problemlos andere Inhalte eingeführt worden. Wie sollen die theologisch unbeschlagenen Besucher und Mitarbeiter, die oft über Jahre kaum eine auslegende Predigt gehört haben, geistliches Unterscheidungsvermögen entwickeln? Wenn jemand rhetorisch brillant redet, also die Performance stimmt, dann ist die Sache doch schon gegessen. Leider hat die jüngste Vergangenheit diesen Trend bestätigt. Der Theologie-Beauftragte der Bewe­gung hat in den letzten Jahren nicht nur einen Haupt­vertreter des Offe­nen Theismus zur Predigt, sondern auch zu Mitarbeitern eingeladen. Er empfiehlt offen Bücher von Rob Bell. Und er zieht auch den einschlägig bekannten Siegfried Zimmer für Schulungen heran. Dass dies zumindest bis heute von der Leitung toleriert wird, muss aufhorchen lassen.

Doch beginnen wir vor der eigenen Türe zu wischen. Deshalb einige Fragen an uns selbst:

Fromme Vergangenheit ist keine Entschuldigung für laue Gegenwart.

Werden wir unserer Verantwortung für die nächste Generation gerecht, wenn wir das narzisstische Spiel unserer Zeitgenossen mitspielen?

  • Wenn wir auf uns selbst, unsere Familie und unsere Gemeinde blicken: Wie viele Menschen sind in den letzten Jahrzehnten Christus hingegebene Nachfolger geworden und geblieben?
  • Brenne ich heute dafür, das Evangelium weiterzugeben? Hat meine Not für meine Nachbarn und Arbeitskollegen zugenommen?
  • Leider trägt auch unsere fromme Ver­gangenheit hatte viele anti-intellektuelle Züge; damit waren wir anschlussfähig am evangelikalen Markt. Bin ich diesem „Milieu“ treu geblieben? Habe ich mich gar dem Refrain „kurz, emotional packend, der Rest ist Wurst“ angeschlossen?
  • Wir stehen jetzt in der Verantwortung gegenüber der nächsten Generation. Was trage ich weiter? Welche unausgesprochenen Botschaften vermittle ich meinen Kindern? Wo spiele ich das narzisstische Spiel unserer Zeitgenossen mit? Mache ich sie bereit für einen respektvollen Umgang mit unseren säkularen Nachbarn oder Immigranten mit islamischem Hintergrund?
  • Gerade als theologisch Konservative müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen, in mancher Hinsicht Konflikten aus dem Weg gegangen zu sein. Wie gehe ich heute mit Konflikten um? Ertrage ich Ermahnung? Setze ich mich Kritik aus?

Os Guinness charakterisiert in seinem Buch Dining with the Devil. (Baker: Grand Rapids, 1993) den Einfluss der Moderne auf die Kirchen. Ich habe einige Charakterzüge zusammengetragen.

  • Das Imperium der Moderne, die Konsumgesellschaft, stellt die säkulare Alternative zum Königreich Gottes dar.
  • Evangelisation scheint auf der einen Seite durch die vielen Medien leichter geworden zu sein. Die konkrete Nacharbeit und Jüngerschaft ist jedoch durch die Unverbindlichkeit entsprechend schwieriger geworden.
  • Die Pastoren sind zu Managern mutiert. Auf dem christlichen Buchmarkt dominiert das Therapeutische.
  • Die Gemeindewachstums­bewegung benutzte oft die Werkzeuge der Moderne, um den Mitgliedern das Leben in der Gefangenschaft der Moderne zu erleichtern, statt zu einem „Exodus“ zu führen.
  • Das Zentralereignis des christlichen Glaubens, nämlich die Bekehrung, wurde oft zu einem trivialen „Veränderungsprozess“ reduziert.
  • Methodik steht im Zentrum, ab und zu behilft sie sich der Theologie. Das nennt man „verkehrte Welt“.
  • Der Schwerpunkt hat sich vom Dienst an Gott zum Dienst am Selbst verlagert.
  • Die Menschen dort abzuholen wo sie sind, wurde nicht nur als erster Schritt, sondern als Gesamtprozess aufgefasst.
  • Worte sind nicht mehr gewichtig. Es geht um Programme, Daten, Ergebnisse.
  • Die moderne Kirche kennt drei Erfordernisse: Werbung machen! Die Produktvorteile herausstreichen! Nett zu den Menschen sein!
  • Die Menschen der Moderne sind Bits-and-Bytes-Verarbeiter, aber nicht mehr „Großes Bild“-Denker.
  • Der einzige Platz für Religiosität ist das Private. (Religion, die praktisch irrelevant ist, wird letztlich gänzlich irrelevant bleiben.)
  • Das Leben besteht aus einer Liste von Problemen, zu denen Lösungen entwickelt werden können.
  • Die zwei großen Gebote lauten: „Finde ein Bedürfnis und befriedige es, finde eine Verletzung und heile sie.“
  • Informierte Meinung ist nichts anderes als die Wiederholung der gestrigen Talkshow.
  • Es geht nicht um ein Publikum, das die Botschaft hören soll, sondern um eine Botschaft, die das Publikum bei der Stange halten soll.