Kenneth Bailey, Professor für Neues Testament, hat jahrzehntelang im Nahen Osten gelebt, etwa in Ägypten, Jerusalem und im Libanon. Sein Hintergrund prädestiniert ihn also dafür, darüber zu schreiben, wie Jesus im Mittleren Osten wahrgenommen wird (so auch der Originaltitel, „Jesus Through Middle Eastern Eyes“). Das Buch ist eine Zusammenstellung von Aufsätzen und Vorlesungsmitschriften, wobei das Material auf die Themen Geburt Jesu, Seligpreisungen, Vaterunser, Dramatisches Handeln Jesu, Jesus und die Frauen sowie Gleichnisse Jesu aufgeteilt wurde. Die meisten Kapitel bestehen dann aus einer kurzen Analyse des rhetorischen Aufbaus, dem eigentlichen Kommentar und einer Zusammenfassung. Der Schwerpunkt der Kommentare liegt, wie der Originaltitel andeutet, darin, die Sitten und Gebräuche des Mittleren Ostens, die den Erzählungen nach Auffassung des Autors zugrundeliegen, darzustellen und ihre Bedeutung für den biblischen Text zu erklären. Dabei werden antike Quellen wie die Qumran-Texte, Targumim und syrische und arabische Bibelkommentare herangezogen.
Bailey, Kenneth E.: Jesus war kein Europäer. Die Kultur des Nahen Ostens und die Lebenswelt der Evangelien. Holzgerlingen: SCM R. Brockhaus 2018. 522 S. Gebunden: 39,95 €. ISBN: 978-3-417-26648-1
Während die Darstellung des rhetorischen Aufbaus durch die Wiederholungen ermüdend wirkt, zumal das Hauptstilmittel, die „prophetisch-rhetorische Form“ mit ihrer Betonung des Mittelteils, schon in der Einleitung behandelt wird, sind die Kommentare zumeist interessant bis erhellend. So schildert Bailey beispielsweise, dass Futterkrippe und Stall bei der Geburt Jesu innerhalb eines typischen Dorfhauses Platz fanden, was eine Einladung zum Gastmahl bedeutete und welcher Affront das entsprechende Gleichnis Jesu wirklich enthält oder wie ein Hochzeitsumzug ablief. Einiges wirkt dabei allerdings etwas spekulativ, so dass sich der deutsche Herausgeber einmal sogar zu einer einschränkenden Fußnote hinreißen lässt (S. 59). Die Bibelhaltung des Autors ist dabei nicht völlig klar, wenn er etwa Hinzufügungen durch die Jünger (innerhalb der Seligpreisungen, S. 105), durch die „junge Kirche“ (S. 158) oder durch „die apostolische Gemeinschaft“ (S. 174) für möglich hält oder mutmaßt, Jesus habe seine freundliche Haltung gegenüber Nichtjuden „von seiner Mutter übernommen“ (S. 230). Immerhin die Suche nach einem „Kanon im Kanon“ wird eher kritisch kommentiert (S. 327f.). Insgesamt kann man von „Jesus war kein Europäer“ und dem Hintergrundwissen des Autors zu zahlreichen biblischen Szenen durchaus profitieren. Die theologischen Anmerkungen sind aber zum Teil mit Vorsicht zu genießen.