ThemenTheologische Beiträge, Zeitgeist und Bibel

Die Sündenlehre in der Reinigung – wovon sich jetzt auch Evangelikale verabschieden sollen, wenn sie von Sünde reden

Eine Sündenlehre, die sich vor allem auf die menschliche Erfahrung gründet, kann der Bibel nicht gerecht werden.
Der Abschied vom historischen Sündenfall reißt Löcher in die Sündenlehre, die nicht geschlossen werden können.
Ohne die völlige Sündhaftigkeit des Menschen bleibt offen, warum der Sohn Gottes sterben musste.

Die Deutsche Evangelische Allianz hat 2018 ihr Bekenntnis erneuert. Das betraf auch Formulierungen, von denen man dachte, sie gehörten zum Wesensgehalt eines evangelischen Glaubens evangelikaler Prägung. Die Leitung der DEA hat gegen alle Kritik vertreten, dass es sich nur um sprachliche Verbesserungen handelt, man aber keine inhaltlichen Änderungen am Bekenntnis habe vornehmen wollen. Statt von der „völligen Sündhaftigkeit und Schuld des gefallenen Menschen“ im Bekenntnis von 1972 zu reden, heißt es jetzt „Der Mensch besitzt als Ebenbild Gottes eine unverwechselbare Würde. … Er ist durch Sünde und Schuld von Gott getrennt.“ Der Marburger Theologe Thorsten Dietz, der an der Evangelischen Hochschule Tabor lehrt, hält nun fest, dass es sich dabei um eine Änderung handelt, die die Lehre von der Sünde besser darstellen kann. Dietz empfiehlt den Evangelikalen „eine solche theologische Verbesserung … offensiv zu vertreten, statt eine bloß sprachliche Überarbeitung ohne inhaltliche Veränderung zu behaupten“ (116). In einem Aufsatz in der Zeitschrift Akzente1 macht er unter dem Titel „Theologie der Sünde. Notwendige Abschiede, biblische Einsichten und zukünftige Aufgaben“ deutlich, warum es notwendig ist, dass Evangelikale ihr Sündenverständnis von allem reinigen, was eine negative Sicht auf den Menschen zur Folge haben könnte. Außerdem müssten sie sich auch von der Lehre vom historischen Sündenfall Adams trennen, die unhaltbar sei.

Als Ergänzung zu seinem Sündenbuch2 will Dietz „bündeln, was genau heute nicht mehr haltbar ist, welche klassischen Einsichten der Sündenlehre unaufgebbar sind – und wo zukünftige Arbeitsfelder bestehen“ (113). Das ist auf zehn Seiten ein ziemliches Programm, aber er meint, hier auch nur „noch einmal deutlicher darlegen“ zu müssen, was – wenn auch als „populäre Vermittlung der christlichen Sündenlehre“ – schon in seinem Buch gesagt wurde. Man darf den Aufsatz, der sich diesmal an theologisch gebildete Leser wendet, also als Verdeutlichung dessen lesen, was im Buch Sünde: was Menschen heute von Gott trennt entfaltet wurde, denn auch das war „fundiert in biblischen und theologiegeschichtlichen Überzeugungen“ (108).

Dietz will die Sündenlehre dadurch wieder­gewinnen, dass er alle Positionen in Frage stellt, die eine „schwarze Anthropologie“ zur Folge haben könnten.

Die Lehre von der Sünde (Harmartiologie) ist für die christliche Botschaft unverzichtbar. Wenn das Evangelium die Vergebung der Sünden durch Jesus Christus zum Inhalt hat, dann muss gesagt werden, was mit Sünde gemeint ist. Besteht darüber Unklarheit, dann ist auch das Evangelium unklar. Es lässt sich beobachten, dass das Konzept von Sünde in der ganzen Kirchengeschichte umkämpft war. Das hat seinen Grund vor allem darin, dass die biblische Lehre von der Sünde immer auf die eigentliche Sünde abzielt, die Feindschaft des Menschen gegen Gott, die im Wesen des Menschen die vielen einzelnen Sündentaten hervorbringt. In der Geschichte der Theo­logie der Sünde kann man immer wieder einen Hang zur Verharmlosung des tiefen Falls des Menschen in die Sündhaftigkeit feststellen. Mal meinte man, das Denken des Menschen sei weniger davon betroffen, mal schien sie durch fromme Taten oder Leistungen überwunden werden zu können. Wieweit den Menschen seine Sünde in seinem Wesen betrifft, hat Auswirkung auf die Sicht vom Menschen und damit auf die Lehre vom Menschen (Anthropologie).

In den letzten Jahren hat im evangelikalen Bereich wiederholt Thorsten Dietz dafür plädiert, die Lehre von der Sünde nicht zu vernachlässigen. Das ist im Grundsatz als Plädoyer zu begrüßen, besonders angesichts des Trends, dass in der Verkündigung der christlichen Botschaft nicht mehr über wirkliche Sünde und echte Sünder gesprochen wird. Dass Dietz dabei allerdings ein theologisches Programm verfolgt, das viele evangelikale Positionen radikal in Frage stellt, ist deutlich, wenn man sich mit seinen Veröffentlichungen genauer beschäftigt.

Der jüngste Aufsatz weckt anfangs Hoffnung, dass die Defizite, die sich im Buch gezeigt haben3, geheilt würden. Denn Dietz möchte die „Kritik an der Sündenlehre“ dazu benutzen, „um sie kritisch zu reinigen und um ihre Kernanliegen wiederzugewinnen“ (109). Dass Thorsten Dietz die Harmartiologie für die Verkündigung der christlichen Botschaft für wesentlich hält und sie deswegen nicht überwinden, sondern wiedergewinnen will, ist ein wichtiges Anliegen. Ohne Klarheit an dieser Stelle bliebe im Nebel, wovon Christus den Menschen denn erlöst hat und warum dazu sein Sterben am Kreuz und seine Auferstehung notwendig waren. Leider beantwortet Dietz gerade diese Frage weder in seinem Buch noch im Aufsatz wirklich, denn die Erlösung scheint vor allem in der Ermöglichung der Hoffnung zu bestehen, dass alles Übel irgendwann einmal überwunden wird und bessere Tage kommen. Bis dahin soll anscheinend der alte christliche Moralismus, der sich auf biblische Gebote gründete, dadurch überwunden werden, dass man einen neuen Moralismus aufrichtet, der einigermaßen oberflächlich Offenheit und Toleranz für alles fordert, genauso wie Aufmerksamkeit für den ökologischen Fußabdruck und ein optimistisches Ausleben der eigenen Möglichkeiten betont.

1. Reden von der Sünde – auf dem Fundament der Bibel oder fundiert in der menschlichen Erfahrung?

Thorsten Dietz will das „Lehr­stück“ Sün­­dentheologie wahr und wahrhaftig um­­reißen.

„Wie bei jedem Lehrstück gilt: von der Sünde muss in einer Weise gedacht werden, die der Bibel gerecht wird, um theologisch wahr zu sein, und die zugleich heutige Lebenserfahrung so erhellt und durchdringt, um wahrhaftig gedacht werden zu können“ (109).

Ohne dass Dietz diesen Satz näher erläutert, macht der ganze Aufsatz doch klar, dass er hier das Vorgehen programmatisch bestimmt. Die Lehre von der Sünde braucht bei Dietz gewissermaßen zwei Standbeine: Die theologische Wahrheit, die der Bibel gerecht wird, wobei für Dietz theologische Entscheidungen über eindeutige Aussagen der Bibel regieren; und die Wahrhaftigkeit, die die Sünde in und an der Erfahrung des Menschen plausibel machen will. In seinem Buch hatte sich Dietz schon darauf berufen, dass dieses zweite Standbein notwendig sei, denn Sünde gerate „mehr oder weniger in Vergessenheit“, wenn sie nicht „fundamentalanthropologisch“, nämlich „im Kontext gegenwärtiger Erfahrung“ erhellt werde (Sünde, 213). Der Aufsatz macht deutlich, wo Dietz das eigentliche Standbein der Sündenlehre sieht: die menschliche Erfahrung. Das Standbein „biblisch“ erscheint jedenfalls in seinen Ausführungen nur schwach ausgebildet.

Kann eine christliche Lehre wirklich nicht ohne aktuellen Erfahrungs­bezug wahrhaftig vertreten werden?

Dabei muss auch gefragt werden, ob es denn stimmt, dass jede christliche Lehre diese beiden Standbeine braucht. Dass christliche Lehre ihren Ursprung, ihr Fundament und die Ausformung von der Bibel als dem Wort Gottes haben muss, ist evangelische Grundüberzeugung. Kann aber eine christliche Lehre wirklich nicht wahrhaftig vertreten und verkündigt werden, wenn sie keinen aktuellen Erfahrungsbezug hat? Konsequent gedacht würde dieses Kriterium einen großen Teil christlicher Lehre zwar wahr, aber nicht wahrhaftig vertretbar sein lassen. Welchen Erfah­rungsbezug könnte die Gottes­sohn­schaft von Jesus von Nazareth haben? Ohne diese aber wäre sein Sterben nur der Tod eines Predigers der Nächstenliebe. Wo ist der Erfahrungsbezug für seinen Sühnetod oder seine Auferstehung? Kann das alles nicht mehr vertreten werden, wenn man wahrhaftig bleiben will? Das will Dietz wohl nicht behaupten, aber für die Sündenlehre ergibt sich aus seinem zweiten Kriterium ein grundlegendes Problem. Wenn die Sün­denlehre ihr Standbein darin bekommt, dass sie an der Erfahrung des Menschen plausibel gemacht werden soll, dann wird Sünde, wie sie in der Bibel dargestellt wird, zwangsläufig verharmlost. Das wird in der Spitze daran deutlich, dass es unmöglich ist, in heutiger Lebenserfahrung zu verdeutlichen, warum unsere Sünde so schlimm ist, dass es notwendig war, dass der sündlose Sohn Gottes an unserer Stelle für uns sterben musste, damit uns vergeben werden kann und wir durch Glauben Kinder Gottes werden. Nur die geschichtliche Tatsache der Kreuzigung kann uns unsere Gottesfeindschaft vor Augen führen, die in jeder Sünde und in unserem sündigen Wesen zum Ausdruck kommt. Es ist in dieser Hinsicht nicht überraschend, dass Dietz gerade in „einer schwarzen Anthropologie“ (108, 114, 115), wie sie in der klassischen Sündenlehre zum Ausdruck komme, den größten Bedarf für einen der im Titel ankündigten „notwendigen Abschiede“ sieht.

Dass das zweite Standbein, also die Erfahrungswirklichkeit des heutigen Menschen, für die Theologie der Sünde bei Dietz das wichtigere zu sein scheint, kann man im Aufsatz immer wieder finden. Beispielhaft wird das an seiner Position zu Augustins Sündenverständnis deutlich. Inwiefern Augustin biblische Grund­aussagen erfasst und richtig verarbeitet hat, tritt hinter die Erfahrung zurück:

„Die Stärke dieser Beschreibungen ist offensichtlich: Augustins Sündenlehre setzt bei der menschlichen Selbsterfahrung an. Jeder Mensch kann sich in der Beschreibung wiedererkennen, ein begehrendes Wesen zu sein“ (109).

In der Bibel wird der sündige Mensch als Feind Gottes gesehen, der sich trotz seiner Bezogenheit auf Gott nicht nach Frieden mit Gott sehnt.

Ob Augustin das biblische Sünden­ver­ständnis richtig erfasst hat und inwieweit ihn seine platonische Grund­haltung eventuell dazu geführt hat, menschliches Begehren als Teil der Ge­schöpf­­lichkeit zu negativ zu sehen, erwägt Dietz nicht. Er will nur sehen, dass Augustin „diese Selbsterfahrung des inneren Zwiespalts“ und „die Unendlichkeit des Sehnens“ notwendig zum „unendlichen Fluchtpunkt“ führte: „Gott ist das Ziel aller menschlichen Sehnsucht“ (ebd.). Das hält er „bis heute für biblisch begründet“, ohne auch nur mit einem Satz Mühe darauf zu verwenden, warum das so ist. Dabei ist ihm offensichtlich entgangen, dass er mit seiner Interpretation von Augustins Sündenverständnis grundlegend gegen das bib­lische Ver­ständnis vom Sündersein steht. In der Bibel ist der Mensch trotz seiner schöpfungsmäßigen Bezogenheit auf Gott als Sünder zum Feind Gottes geworden. Er strebt nicht nach Überwindung seines „inneren Zwiespalts“ oder sehnt sich danach, bei Gott Ruhe zu finden, sondern stellt sich gegen den Gott, der ihn geschaffen hat, will Gott überflüssig machen und selber ersetzen und ist sein Gegner geworden. Allerdings konnte Augustin neben dem Angelegtsein des Menschen auf Gott auch davon reden, für Dietz gehört dieses Bild des Sünders offenbar eher zur „schwarzen Anthropologie“.

Thorsten Dietz befindet sich mit seinem Ansatz der Lehre über die Sünde und den Sünder in bekannter Gesellschaft. Zahlreiche moderne Theologen folgen diesem „Grundtypus“4 in ihrer Sicht der Probleme im Reden von der Sünde. Die Herausforderung liege darin, das, was Sünde ist, in den modernen, gegenüber früheren Zeiten veränderten Verstehenshorizonten und den Erfahrungen des gegenwärtigen Menschen wiederzufinden und damit zu identifizieren. Nach dieser Sicht könnten die Christen und die Kirche wieder relevant über Sünde sprechen, wenn ihnen gelingt, dem Menschen zu verdeutlichen, inwiefern seine Erfahrungen mit der Sünde zusammenhängen. Paul Tillich und viele, die ihm darin folgten, haben das etwa mit der Erfahrung der „Entfremdung“ (auch Dietz spricht davon) gemacht. Wolfhart Pannenberg verband die Rede von der Sünde mit der Erfahrung des Menschen von seiner „Exzentrizität“, d.h. dass der Mensch über sich hinaus auf etwas Transzendentes angelegt ist. Er spürt, dass er hinter seiner Bestimmung zurückbleibt5. Eine „Erneuerung der Sündenlehre“ sieht Dietz dann darin, dass die „neuen Sünden“ der heutigen Generation in einer „Phänomenologie“ dargelegt würden. Es geht ihm also darum, die modernen Erscheinungsweisen der Sünde darzustellen. Denn …

„Sünde ist nicht zeitlos. … Sünde zeigt sich in immer neuen Gestaltungen“ (117).

Dietz will einen erneuerten Gebrauch des Gesetzes zur Überführung von Sünde, aber dazu will er offenbar auch neue „Gesetze“ schaffen.

Dazu habe er sein Buch geschrieben, „um eine Veran­schaulichung biblischer Sünden­lehre im imaginativen Horizont unserer Zeit, unserer Sprache und mit Hilfe heutiger Medien“ zu bieten (116). Dietz nennt das auch eine „Erneuerung des zweiten Gebrauchs des Gesetzes, das Gesetz als Überführung von Sünde“ (115). Man muss allerdings sein Buch zur Hilfe nehmen, um zu verstehen, dass er der Überzeugung zu sein scheint, dass einige Sünden, die das biblische Gesetz als solche benennt, frühere Sünden sind und wir heute nicht über diese, sondern über neue Sünden zu sprechen haben. Er hatte in seinem Buch die Rede von der Sünde als Schuld vor allem mit dem Argument beiseitegestellt, dass man dazu von den Geboten Gottes reden müsse, was irgendwie unzeitgemäß sei und auch zu kompliziert6. Dietz will also mit Gesetz von Sünde überführen, dabei aber biblische Ethik und Moral weglassen, was im Buch zu einer neuen Moral führt, die dann wahrscheinlich die „neuen Sünden“ im Blick hat, die auch mit neuen Gesetzen benannt werden müssten.

Der ganze Ansatz krankt schon daran, dass er sich nie die Mühe macht, zu untersuchen, ob Menschen verschiedener Zeiten Sünde wirklich ganz anders erfahren haben und worin dieses Andere bestehen soll. Liegt das Problem denn da, dass heutige Menschen Müll nicht achtlos in der Natur entsorgen dürfen, weil das eine „Umweltsünde“ darstellt, während früher (und heute in einigen Teilen der Welt) kein Bewusstsein dafür bestand? Oder ist es eine moderne Sünde, die man früher nicht kannte, wenn man aus seinen Begabungen nichts macht, wie Dietz andeutet? Die Bibel scheint mir hier einen ganz anderen Ansatz zu fordern. Sie benennt solche grundlegenden Haltungen und Taten als Sünden, die alle Menschen zu allen Zeiten unter allen möglichen Umständen betreffen. Dass auf dieser Grundlage dann Taten sündig sein können, die man früher nicht begehen konnte (z.B. jemandem das Leben zu nehmen, weil man unverantwortlich schnell mit seinem Auto fährt), ist eine Folge dessen. Müsste man deswegen aber neue Gebote haben, etwa „Du sollst mit deiner Lebensweise nicht mehr als X Tonnen CO2 pro Lebensjahr erzeugen“?

Die Gebote der Bibel sind Erzieher, die zu Christus führen wollen. Diese Funktion erfüllen menschliche Gesetze nicht. Sie führen nur zu Stolz.

Die Gebote der Bibel haben die Eigenschaft, zu Gott zu führen. Sie sind Zuchtmeister auf Christus hin (Gal 3,24). Diese Funktion erfüllt nicht einfach jedes Gesetz, sondern genau die von Gott aufgestellten. Die neue Moral, die der Theologie der Sünde eines Thorsten Dietz entspringt, lässt den Menschen nämlich bei sich. Er wird zielsicher in die Überheblichkeit geführt, die Dietz‘ Sündenbuch trotz besserer Absichten nicht vermeiden kann. Er kann sich selbst schließ­lich vergewissern: Ich bin doch ein für alles offener, toleranter Mensch. Ich achte auf den Umweltschutz und gebrauche die Gaben, die Gott mir gegeben hat, um etwas in der Welt zu bewegen. Im Kampf gegen die Sünde bin ich nicht schlecht.

Man muss aber die Erfahrung nicht zum Kriterium und Standbein der Sündenlehre machen und kann trotzdem feststellen, dass die Bibel sehr nah an menschlicher Erfahrung dran ist und dass eine biblische Theologie der Sünde keineswegs zur weltfremden Philosophie mutieren muss. Richtig ist, dass es zum Auftrag der Kirche gehört, den Menschen das Evangelium von der Vergebung der Sünden zu bringen, wozu notwendig gehört, dass ihnen auch ihre Sünde vor Augen geführt wird. Deswegen muss natürlich so von Sünde geredet werden, dass der heutige Mensch überführt wird. Der Grundansatz von Thorsten Dietz führt aber meines Erachtens deutlich am Ziel vorbei, weil die Aufmerksamkeit vom Eigentlichen jeder Sünde, der Feindschaft gegen Gott, weggelenkt wird zu den Gefühlen, Bedürfnissen und Erlebnissen des Menschen.

Während Paulus den Weg der Verkündigung des Evan­geliums in Römer 1 so vorzeichnet, dass dem Menschen das Dasein Gottes, sein Anspruch und sein Zorn über die Miss­achtung seiner Person vorgehalten wird, fängt Dietz beim Empfinden, Wünschen und Erfahren des Menschen an, um darüber zu Gott zu finden. In seinem Buch benutzt er dazu nicht einmal das reale Leben, sondern wählt als Königsweg die Phantasiewelt der Hollywoodfilme, die es zu großen Zuschauerzahlen gebracht haben. Das Ergebnis ist, dass der Kern der Sünde kaum sichtbar wird unter einer neuen Moral, die nicht einmal besonders christlich ist, sondern wie die Moral des gesunden Menschenverstandes daherkommt. Sünde verliert so ihren Schrecken, ihre Relevanz für die Gottesbeziehung und das Wesen des Menschen. Und die Notwendigkeit einer Erlösung, die nur der Gottessohn für uns vollbringen konnte, schwindet.

Der biblische Weg der Verkündigung der Botschaft von der Sünde des Menschen ist auch heute nicht überholt. Er umfasst immer die beiden Elemente Gesetz und Evangelium bzw. Gericht und Gnade. Einerseits hört der Mensch den Anspruch Gottes, seines Schöpfers, an sich. Es wird ihm vor Augen gestellt, wie er diesen Anspruch verneint, selber Gottes Platz einnehmen will und sich dadurch zum Feind Gottes macht. Der Mensch lügt und stellt damit seine eigene Wahrheit gegen die Wahrheit Gottes. Er zweifelt an Gottes Wort und unterstellt damit dem barmherzigen Gott böse Absichten. Er tötet und macht sich gegen Gott zum Herrn über das Leben. Er neidet und unterstellt damit Gott, er habe die Güter und Gaben falsch verteilt. Er macht das Geschaffene zu seinem Ersatzgott und ruft dem, von dem sein Leben in jedem Augenblick abhängt zu „Ich brauche dich nicht! Ich komme ganz gut ohne Gott klar.“

Die Botschaft von der Gnade zeigt ihm dann, wie grausam böse seine Sünde ist. Denn es war notwendig, dass der Sohn Gottes für ihn starb. Aber er tat es aus Liebe zum Sünder und hat damit den einzigen Weg eröffnet, wie der verlorene Mensch aus seiner Feindschaft mit Gott herauskommen kann, indem er nämlich glaubt, das Christus sein einziger Retter ist. Von Herzen stimmt er damit Gottes Urteil über die Sünde zu.

2. Mit dem Abschied vom Sündenfall zum positiven Menschenbild?

Erst die Überwindung des negativen Menschenbildes aus der klassischen Sündenlehre habe die Abschaffung der Folter, die Überwindung der Sklaverei und die Demokratie ermöglicht.

Der größte Teil des Aufsatzes widmet sich der Ablehnung der Erbsündenlehre, wie sie Augustinus formuliert hat und wie sie von der Reformation aufgenommen und bestätigt wurde. Fragt man sich, welche Funktion diese Kritik von Dietz hat, dann geht es ihm offenbar nicht wirklich um eine Aus­einander­set­zung mit dem theologischen Gehalt dieser Lehre und ihrer biblischen Be­gründung. Er hält es nämlich nicht einmal für notwendig, den Inhalt, die theologische Absicht und Funktion der Lehre kritisch darzulegen. Die Kritik verfolgt eine doppelte Absicht. Erstens transportiert die Erbsündenlehre den historischen Sündenfall Adams als Anfang der Sündhaftigkeit aller Menschen mit der Folge des Todes, von dem die ganze Schöpfung betroffen ist. Dietz lehnt das alles ab. Schöpfung und Sündenfall sind für ihn mythische Erzählungen und haben keinen historischen Hintergrund (113-114; vgl. Sünde, 105).

Zweitens dient die Lehre als negative Folie, indem sie für eine Sünden­theologie verantwortlich gemacht wird, die den Menschen schlecht und klein redet und eine negative Sicht auf den Menschen zur Folge haben muss.

„Die Gnaden­lehre Augustins hatte gnadenlose Folgen. Lässt sich Augustin gegen diesen Vorwurf verteidigen? Leider nein“ (110).

Luther habe dieses „dingliche“ Sünden­ver­ständnis dann sogar noch „radikalisiert“, an „der Verderbnis der menschlichen Natur“ festgehalten und angeblich jedes „sexuelle Begehren als in sich sündhaft“ angesehen (110-111). Erst mit der Loslösung von der „augustinischen Erbsündenlehre“ kehrte man sich in der Aufklärung von einem „rein negativen Bild des Menschen“ ab.

„Erst wo das Menschenbild nicht mehr durch und durch von der Sündenlehre bestimmt war, konnten sich moderne Errun­gen­schaften wie die Abschaffung der Folter, die Überwindung der Sklaverei, die Formierung demokratischer Staatsideen und die Anerkennung der Menschenrechte Bahn brechen. Gerade wenn man diese Entwicklungen als Langzeitfolge des christ­lichen Glaubens wahrnehmen möchte, sollte man die Loslösung von der augustinischen Erbsündenlehre als Hintergrund nicht übersehen“ (111).

Aber nicht nur die Welt wurde besser, als sie sich von der „schwarzen Anthropologie“ der Erbsündenlehre befreit hatte, auch die Theologie erreichte nun „bis heute anregende Vertiefungen“ der Sündenlehre in der Form der Theologie der Erweckungsbewegung. Endlich entdeckte man: „Sünde leuchtet nur in der persönlichen Erfahrung ein“ (111). Das schließlich führte der Ideengeber für den Existentialismus, Søren Kierkegaard, zur Blüte. Er dient Dietz als Gewährsmann für seine Ablehnung eines historischen Verständnisses des Sündenfalls ebenso wie für die radikale Hinwendung zum Erfahrungsansatz. Nur aus sich selbst verstehe der Mensch, wie die Sünde in die Welt gekommen sei. Und nur als radikale Selbstverfehlung sei Sünde richtig zu fassen. „Der Mensch verfehlt sich da am tiefsten, wo er glaubt, die in Jesus Christus sichtbar werdende Liebe Gottes nicht zu brauchen“ (112). Deswegen steht für Dietz nun fest,

„dass das biblische Zeugnis zur Geltung kommen muss im Horizont der persönlichen Erfahrung, der individuellen Verantwortung und im Bezug zur je eigenen zeitgenössischen Kultur“ (112-113).

Der Umgang mit der Geschichte hat den Beigeschmack von ideologischem Argumentieren, was der Theologie noch nie gutgetan hat.

Diese Art von frei­händigem Um­gang mit Ge­schichte und Theo­logie­ge­schi­chte hat den Bei­geschmack von ideologischem Argumentieren, das der Theologie noch nie gutgetan hat. In wenigen Strichen wird ein Bild gezeichnet, das dazu dienen soll, die eigene Position zu stützen. Auf die Details scheint es dabei nicht anzukommen. Ich will mich darauf beschränken, nur an einzelnen Stellen darauf aufmerksam zu machen, dass da vieles einfach nicht stimmt und – theologisch unzureichend – lediglich behauptet statt begründet wird.

Wenn Dietz – inspiriert von Kurt Flasch – etwa den Weg eines Augustin zeichnet, der von einer positiven Sicht des Menschen als auf Gott hin angelegt und zu ihm strebend, sich im Alter zum finsteren Menschenhasser entwickelte, dann übersieht er, dass die erste Veröffentlichung seiner Erbsündenlehre 397 ins gleiche Jahr fällt, indem er auch seine Bekenntnisse schrieb, die ein Jahr später herausgegeben wurden. Aus eben diesen stammt Dietz Lieblingssatz von Augustin: „Du hast uns zu dir hin geschaffen und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“ Auch ist Augustin nicht der Erfinder dieser Lehre, es gab Vorläufer, die auch zu fassen versuchten, was die Bibel über die Folgen der ersten Sünde für alle Menschen aussagt. Dass der deutsche Name dieser Lehre missverständlich ist, kann Augustin nur teilweise angelastet7 werden, denn er sprach vom „peccatum originale“, was auf die Ursünde oder die Anfangssünde Adams verweist. Tatsächlich hat Augustin in seiner Entfaltung der Lehre das falsche Begehren des Menschen nach dem Sündenfall besonders häufig am sexuellen Begehren verdeutlicht. Deswegen muss man darauf achten, bei ihm nicht jedes Vorkommen von Begehrlichkeit sexuell misszuverstehen, denn es ging ihm um die Begehrlichkeit des Menschen im umfassenden Sinn: Das Begehren, das ihn dazu verführt, selber wie Gott sein zu wollen oder das Geschöpfliche ganz allgemein nicht als Gabe Gottes zu gebrauchen, sondern mit einer Liebe zu lieben, die allein Gott zusteht.

Wenn die Reformatoren von der „Verderbnis der ganzen menschlichen Natur“ sprachen, dann meinten sie gerade nicht, dass der Mensch nur schlecht ist und nur Schlechtes tun kann. Sie bestritten die Hoheit und Würde des Menschen keineswegs, sonst wäre etwa das umfassende Bildungsprogramm der Reformation unverständlich. Aber sie bestanden mit biblischen Argumenten darauf, dass der Mensch auch in seinen höchsten Leistungen Sünder bleibt und er die Herrlichkeit, die er von Gott haben sollte, durch Sünde verloren hat (Röm 3,23-24) und nur durch die Gnade Gottes gerecht werden kann. Deswegen sahen sie in keinem Bereich des Wesens und Tuns des Menschen eine Potenz dafür, dass der Mensch sich bessern und so vor Gott gerecht werden könnte. Gleichzeitig wurde die Genialität des Menschen und das Wunderbare seiner Geschöpflichkeit keineswegs herabge­wür­digt, sondern mit der sündhaften Ver­derbt­heit des gleichen Menschen theologisch in Beziehung gesetzt.8

Bei Dietz scheint man den Menschen nur an seine von Gott geschenkten Möglichkeiten erinnern zu müssen, damit er das Gute tut.

Es ist allerdings richtig, dass der Optimismus im Hinblick auf den Menschen und seine Möglich­kei­ten, der seit der Auf­klärung mit kleinen Unterbrechungen vorherrscht, mit der Theologie der Reformation nicht zu versöhnen ist. Es müsste aber genauso diskutiert werden, inwieweit der humanistische Optimismus gerechtfertigt ist. Nur gab es diese Auseinandersetzung auch in der Reformation, denn bereits die Renaissance vertrat ein positives Menschenbild und die Humanisten in Luthers Tagen erwarteten von der klassischen Bildung die Besserung des Menschen. Mit echtem Interesse an der menschlichen Erfahrung könnte man auch fragen, warum die Menschen der Reformationszeit die Lehre von der Sündhaftigkeit des Menschen als Teil der Rechtfertigungslehre überwiegend als Be­freiung empfanden. Luther hatte sie doch nicht untergeschmuggelt, sondern gegenüber der römischen Kirche und den Huma­nisten offen vertreten. Gerade diese standen doch für die „hellere“ Botschaft mit einer Anthropologie, die dem Menschen zugesteht, er könne sich selber bessern und das Böse in sich überwinden, sei es nun mit klassischer Bildung oder durch sakramentale Buße. Dietz‘ Optimismus geht nun sogar noch darüber hinaus: Man scheint dem Menschen nur sagen zu müssen, wie gut er von Gott geschaffen ist und ihn an seine von Gott geschenkten Möglichkeiten erinnern, dann wird er das Gute in der Welt auch tun, weil er sich im Grunde selber danach sehnt.

Die Analyse von Hanns-Stephan Haas, des weit verbreiteten Umgangs mit der Erb­sündenlehre, wie man ihn auch bei Dietz beobachten kann, trifft es m.E. gut:

„Denn es scheint auf der Hand zu liegen, daß die Erbsündenlehre mit ihrem ganzen Ballast quasibiologischer und sexualitätsfeindlicher Vorstellungen unserer heutigen Zeit völlig unnachvollziehbar geworden ist. Von der Erwähnung der Erbsündenlehre aus ist der denkerische Weg deshalb zur Übernahme von erfahrungsbezogenen ‚quasi harmatiologischen Syndromen‘ besonders kurz.“9

Ich will hier nicht die augustinische oder lutherische oder eine andere Ausführung der Erb­sündenlehre verteidigen. Bevor sie aber mit ein paar Feder­strichen erledigt wird, sollte man sich klar sein, was die Lehre leistet. Dann kann man erkennen, dass sie in einer biblisch begründeten Theologie der Sünde nicht einfach mit dem Hinweis auf die Erfahrungswirklichkeit von Sünde in der zeitgenössischen Kultur ersetzt werden kann und auch nicht ersetzt werden darf.

Betrachten wir das biblische Fundament der Lehre, die oft Erbsündenlehre genannt wird, dann drückt das Wort Erbe die historische Dimension der Sündenlehre aus. Der Mensch ist von Gott nicht als Sünder erschaffen, sondern zum Sünder geworden. Der Mensch war vollkommenes Ebenbild Gottes als Mann und als Frau. Mit der ersten Übertretung des von Gott gegebenen Gebotes trennen sich Adam und Eva aus Misstrauen und Ungehorsam vom lebendigen Gott und seinem Wort. Die Tat selber kann die Drohung und die Folgen nicht begründen. Es ging doch nur um das Essen einer einzelnen Frucht. Mit diesem Ereignis ändert sich für die beiden und die gesamte Welt alles: Der Tod erhält als angekündigte Strafe Macht über die gesamte Schöpfung. Paulus drückt das im Kardinalvers10 für die Erbsündenlehre in Römer 5,12 so aus:

Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben.

Die Bibel sieht das Menschsein als ohne Sünde geschaffen und einen historischen Anfang der Sünde, was Thorsten Dietz als unbliblisch ablehnt.

In Vers 17 bis 19 setzt Paulus dann die Feststellung, dass durch die Sünde des einen Tod, Verdammnis und Ungehorsam in die Welt gekommen sind, in Beziehung zum Sterben des Christus als Gehorsams- und Rettungstat, die Sünde und Übel überwinden kann. Damit ist klar, dass Paulus nichts anderes meinen kann, als dass die erste Sünde Konsequenzen für alle kommenden Generationen der Menschen hatte. Genau das bestreitet Thorsten Dietz als unbiblisch:

„Die Bibel bietet nicht einfach ein historisches Schema, dass ein historischer Übergang von einem unschuldigen Urstand hin zu einer gefallenen Welt dafür verantwortlich sei, dass alle Menschen böse zur Welt kamen. Ein solches Denken ist nicht zuletzt unbiblisch“ (113).

Was das offensichtlich historische Schema der Bibel für eine Wirkung und Be­deutung hat, darüber kann und muss man sich theologisch auseinandersetzen, aber es zu bestreiten, erscheint mir widersinnig. Nur Dietz macht genau das:

„Die menschliche Sünde wurde als Ursache aller Leiden und des Todes in der gesamten Schöpfung betrachtet. Mit der Genesis-Urgeschichte ist diese Tradition nicht in Übereinstimung zu bringen. In Gen 3 ist keine Rede davon, dass der Tod Strafe der Sünde sei“ (ebd).

Aber genau das liest man in 1Mo 2,17 und in Römer 5,12-29 und 6,23. Man muss davon reden, dass mit dem Tod offensichtlich durch die ganze Bibel nicht nur das leibliche endgültige Sterben gemeint ist, sondern auch die ständige Bedrohung des Lebens und vor allem die geistlichen Auswirkungen der Beziehung zu Gott, die zur Feind­schaft wird. Doch darf und kann man das einfach verneinen, wie Dietz es tut? Was ist das für eine Bibelauslegung, die mit dem Hinweis auf Gottes Aufforderung an Kain, er solle sich nicht von der Sünde beherrschen lassen, schließt, dass deswegen Kain kein Sünder war, bevor er seinen Bruder erschlug? Und weil Noah „ein frommer Mann und ohne Tadel zu seinen Zeiten“ war (1Mo 6,9), soll er deswegen kein Sünder im Sinne des Römerbriefs gewesen sein? Vielleicht wäre es angebracht, die ganze Geschichte zu lesen. Heißt es doch ein paar Verse weiter, nachdem Noah aus der Arche stieg und Gott ein wohlgefälliges Opfer gebracht hatte (8,21): „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Die vollständige Geschichte macht deutlich, dass es nicht die bösen Taten sind, die den Menschen böse machen, sondern seine bösen Taten aus einem bösen Wesen kommen. Und genau das hat Jesus auch unterstrichen (Mt 15,19): „Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung.“ Aber gegen all das bestreitet Dietz Auswirkungen der Ursünde auf das Wesen des Menschen:

„Sünde ist ein Beziehungsbegriff. Sie kann nicht als Zersetzung des menschlichen Wesens verstanden werden. … Der Fall aller Menschen in und mit Adam wurde zu einer spekulativen Behauptung, die mit vielen biblischen Geschichten nicht zusammen passte (114).“

Richtig ist, dass Sünde zuerst von der Beziehung zwischen Mensch und Gott handelt. Wenn aber eine We­sensänderung durch Sünde ausgeschlossen wird, dann ergibt das zusammen mit dem Angelegtsein des Menschen auf Gott ein optimistisches Bild des Sünders, das kaum zur Bibel passt.

Wie eine Theologie der Sünde der Bibel gerecht wird, wenn sie klare biblische Aussagen bestreitet, entzieht sich meiner Vorstellungs­kraft.

Wie eine Theologie der Sünde „der Bibel gerecht wird“, wenn klare biblische Aussagen bestritten und in ihr Gegenteil verkehrt werden, entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Dass die biblischen Aussagen theologische Durchdringung he­raus­fordern und allzu einfache Antworten sich verbieten, ist deutlich. Sicher ist es auch angebracht, Spekulationen abzuweisen, die erklären wollen, auf welche Weise Sünd­haftigkeit „vererbt“ wird. Genauso ist es angemessen, zu unterstreichen, dass die Gottebenbildlichkeit nicht durch die Sündhaftigkeit aufgehoben wird. Weil bei Dietz aber offenbar der Maßstab eines positiven Menschenbildes seine Theo­logie bestimmt, kann er keine andere Schluss­fol­gerung ziehen:

„Die Kritik einer problematischen Erbsündentheologie mit ihrer schwarzen Anthropologie, mit einer Sicht auf den Menschen, die diesen entmutigt, sich seiner körperlichen und seelischen Gaben zu erfreuen, ist daher bis heute eine Aufgabe“ (114).

3. Eine post-evangelikale Sündenlehre voller Löcher

Ehe man sich nach dem Vorbild von Thorsten Dietz von der Erbsündenlehre verabschiedet, lohnt es sich doch, zunächst einmal zu fragen, was sie in theologischer Hinsicht leistet. Denn nur so kann man erkennen, welche Löcher man in seine Theologie durch angeblich „notwendige Abschiede“ reißt. Diese Löcher müssten auch wieder gestopft werden. Die klassische Sündenlehre gibt eine historische Antwort auf das Woher der Verfallenheit des Menschen an das Sündigen. Sie mutet dem Menschen zu, dass sein Sündersein nicht eine Sache seiner Entscheidung darstellt, sondern nach dem Sündenfall so zu seinem Wesen gehört, dass er nicht mehr nicht sündigen kann (non posse non peccare). Sie stellt aber auch klar, dass der Mensch nicht als Sünder geschaffen wurde, obwohl das Sündersein jetzt eine alles durchdringende Macht in seinem Wesen zu sein scheint. Gott hat den Menschen ohne Sünde, aber versuchlich im Sinne der Verführbarkeit geschaffen. Die Lehre beantwortet damit auch die Frage, warum der Mensch überhaupt ein ethisches Gewissen hat und sein Handeln als böse erkennen und verurteilen kann. Der Mensch empfindet gewissermaßen einen Verlust eines Zustandes ohne Sünde, ohne sich persönlich jemals darin befunden zu haben.

Aber sie gibt auch eine Antwort darauf, warum der Mensch trotz der Unausweich­lichkeit des Sün­digen­müssens, für seine Sünde verantwortlich ist. Er bleibt doch in der Lage, das Gute zu erkennen und es auch zu tun, aber er entscheidet sich für das Böse. Er bleibt ansprechbar für die Gebote Gottes und damit auch für das Evangelium, aber er hat beides nicht in sich, sondern muss es von außen hören.

Die Erbsün­den­lehre stellt trotz des zeitweiligen Ur­stands Adams dessen erste Sünde als qualitativen Maßstab für jede Sünde dar: Sünde lässt Gott nicht als Gott gelten. Die Schlange verspricht: „Ihr werdet sein wie Gott“. Der Mensch nimmt seinen Stand als Geschöpf nicht als Geschenk der Güte Gottes an, sondern will selber wie Gott sein und macht damit Gott seinen Stand streitig. Er vertraut nicht der Güte Gottes und findet sich im Unglauben wieder. Die Zustand aber lässt sich nicht durch das Gesetz heilen. Es reicht nicht, dem Menschen einfach zu sagen, was er tun soll und wie er es Gott recht machen kann.11

Thorsten Dietz will nun ohne die Erbsündenlehre, von der die Sündenlehre gereinigt wird, trotzdem die „Universalität und Totalität“ der Sünden theologisch bewahren. Er bewegt sich damit innerhalb eines Konsenses in der evangelischen Sündenlehre: „Sünde betrifft alle Menschen, immer schon und gänzlich“ (114). Interessant wird die Frage, was er damit meint und welche Folgen sein „Lückenfüller“ hat, wenn man die historische Dimension der Sündenlehre ablehnt.

„Dass Menschen gänzlich Sünder sind, meine ich nicht im Sinne von ausschließlich; das halte ich für den problematischsten Fehler des klassischen Konzepts, das das Sündersein an die Stelle einer imaginierten Urstandsgerechtigkeit treten lässt“ (114).

Das eigentliche Sündersein kann nie von den Taten des Menschen abgeleitet werden, sondern nur von seiner Beziehung zu Gott.

„Gänzlich“ heißt „reformatorisch“ angeblich nur, dass sämtliche Bereiche des Menschen von Sünde betroffen sind, sein Denken ebenso wie seine fromme Existenz, aber nicht, dass der Mensch ganz und immer Sünder ist. Die Menschen seien „ambivalent“, was bei Dietz wohl heißen soll, dass sie mal Sünder sind und mal nicht, oder zumindest immer dann weniger, wenn sie das Gute tun. Diese Auffassung ist nicht nur eine Verkennung des reformatorischen Verständnisses, das es einerseits ermöglicht, die Würde der Gotteben­bild­lichkeit neben dem totalen Sündersein zu behalten und dann im Blick auf die Erlösung genauso davon zu sprechen, dass der gerechtfertigte Mensch Sünder und Gerechter zugleich (simul justus et peccator) im totalen Sinn ist. Dietz‘ Entscheidung führt aber unweigerlich zu einem moralischen Verständnis des Sünderseins und der Mora­lisierung, wie sie im Sünden­buch zu beobachten ist: Der Mensch tut mal Gutes und mal Böses; sein Sündersein wird dann von den Taten her bestimmt. Das Eigentliche der Sünde und des Sünderseins kann aber nach der Bibel nicht von den Tatsünden her verstanden werden, auch wenn die Tatsünden eng mit der Personsünde verbunden sind, die das Wesen des Menschen bestimmt. Aus der Personsünde werden die Taten geboren und aufgrund dessen kann eine „gute Tat“ trotzdem Sünde sein. Die klassische Sündenlehre fasst damit besser, was in der Bibel scheinbar widersprüchlich über den Menschen gelehrt wird. Ein böser Mensch kann keine guten Früchte hervorbringen. (Mat 7,17-18): „So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen.“ Eine solche Aussage kann nur auf der Grundlage einer Totalsicht des Menschen ihre Berechtigung haben.

Dietz besteht darauf, dass es „keinen Anfang, weder menschheitsgeschichtlich noch individualgeschichtlich“ für die Sünde gibt (114). Dass der Mensch als Sünder geboren wird, kann dann nur daran liegen, dass er auch als Sünder geschaffen wurde.

„Wir können nicht mehr so tun, als ließe sie [die Sünde] sich auf ein datierbares Ereignis zurückführen. Das widerspricht der Intention der Schulderzählungen der biblischen Urgeschichte“ (115).

Dietz führt damit einen Grundzug des Sün­den­verständnisses des modernen „Kir­chen­­­vaters“ Friedrich Schleiermacher12 (1768-1834) in die evangelikale – oder sollte man besser sagen „post-evangelikale“ – Theologie ein. Das Sündersein wird quantitativ. Schleiermacher verband das mit dem Mehr oder Weniger an Gottesbewusstsein in jedem Menschen. Der Mensch ist Sünder nicht im totalen Sinn, sondern je nach Grad der Hemmung seines Gottesbewusstseins. Gott hätte den Menschen „ambivalent“ wohl mit der Hoffnung erschaffen, dass er möglichst wenig Sünder sein sollte. Dietz scheint nicht wahrzunehmen, dass er damit weder der Bibel gerecht wird noch der Erfahrung. Denn auch die menschliche Erfahrung enthält viele Hinweise, die einer solchen Ansicht entgegenstehen.

Nimmt man die Erfahrung nicht als Standbein der Sündenlehre, sondern als Anwendung, dann kann man Beo­bach­tungen machen, die mit einer Erb­sünden­lehre im Einklang stehen, die aber zum Konzept der modernen Theologie nur schwer­lich passen. Obwohl der Mensch Böses tut und sogar Lust am Bösen empfinden kann, kann er zugleich seine böse Tat von sich getrennt sehen. Er ist zugleich Mörder und ein Geschöpf Gottes, das einen Mord begangen hat. Er ist mit der Tat eins und doch auch von ihr getrennt. Auch in seinem Gewissen trennt er sich davon. Das wäre von einem Menschen, der als Sünder geschaffen wurde, nicht zu erwarten. Aber als Folge der sehr guten Schöpfung kann der Mensch seine Taten auch als Beobachter beurteilen. Er empfindet nicht all sein Tun als völlig normal, obwohl es doch sein eigenes Handeln ist.

Andererseits kann er das Wesen seines Sünderseins, nämlich die Trennung von Gott, auf diese Weise nicht empfinden. Er wird durch sein Gewissen zuerst sein eigener Richter. Und erscheinen die eigenen Sünden dann nur als ein Zurückbleiben hinter den eigenen Möglichkeiten oder als Unzulänglichkeit, dann blieben wir nur bei uns selbst. Das Wesen der Sünde kann deswegen nicht „Selbstverfehlung“ sein. Gott würde dabei im besten Fall zum willkommenen Helfer, um die eigene Unzulänglichkeit zu überwinden. Dass ein solcher Gott auch noch Forderungen aufstellt, mit denen er uns erst recht unzulänglich machte, müsste als Ungerechtigkeit erscheinen.

Ist der Mensch von vornherein als Sünder erschaffen, lässt sich auch seine Ver­ant­wortlichkeit schwer begründen. Die Erb­sündenlehre hat im Hauptstrom der christlichen Theologie darauf geantwortet, dass es die Ursünde seit der ersten Sünde Adams ist, dass der Mensch als von Gott getrennt lebt, unter dem Urteil Gottes, das ihn unausweichlich zum Sünder macht. Nun liegt es in seinem Wesen, auch Tatsünden als Folge der Personsünde zu tun, obwohl er ursprünglich von Gott ohne Sünde erschaffen wurde. Nur so kann aber auch niemand sagen, die Tatsünde sei gar nicht seine Tat; es sei eben – vielleicht als Weg des Schicksals – passiert und er habe das Ereignis nur ausgeführt. Er wäre dann mehr Opfer als Täter.

Was Dietz der Erbsündenlehre abspricht, dass sie nämlich die Würde des Menschen und das Wunderbare der Geschöpflichkeit anerkennen könne, das ist gerade eine ihrer Funktionen. Sie stellt klar, dass der Mensch, der unter der Herrschaft des Todes und der Sünde lebt, trotzdem von Gott ansprechbar ist. Er kann das Gebot Gottes hören und dann auch das Evangelium. Darin ist im Hinblick auf die Erlösung seine Gottebenbildlichkeit gewahrt. Überhaupt kann die Bibel die Schönheit der Schöpfung preisen und zugleich wahrnehmen, dass der Tod in ihr die Herrschaft hat. Sie kann die großen Fähigkeiten des Menschen sehen und zugleich wahrnehmen, dass der Mensch seine Klugheit eben auch dazu gebrauchen kann, um eine möglichst effiziente Tötung anderer Menschen auszudenken. Die Erbsündenlehre schließt genau diesen Sachverhalt ein und nicht aus, denn sie hält es für möglich, dass der Sohn Gottes sündloser Mensch werden und als solcher auch auf der Erde leben kann13. Es ist sicher eine theologisch fragwürdige Konsequenz, wenn man sich die Anlage zur Sündhaftigkeit als eine Art Gendefekt vorstellt. Aber die Verirrungen nimmt Dietz nur zum Anlass, um den positiven, biblisch begründeten Gehalt der Erbsündenlehre14 zu überwinden.

Thorsten Dietz reißt mit seiner „Theologie der Sünde“ Löcher in die Sündenlehre, die er nicht wieder stopfen kann. Er will die Würde des Menschen mit dem Abschied von der völligen Sündhaftigkeit retten und scheint nicht zu merken, dass eine Lehre, die den Menschen als erschaffenen Sünder darstellt, der nur mehr oder weniger nach moralischen Maßstäben sündigt, diese Würde viel stärker antastet. Er fordert für seine Theologie der Sünde zu Recht eine „Balance“ von persönlicher „Schuld und Verhängnis“ in der Sündenlehre (116). Wie diese Balance aber gewahrt bleiben soll, das kann Dietz nicht darlegen. Die klassische Sündenlehre, die deutlich macht, dass zwar kein Mensch im Stand Adams sündlos anfängt, weil er jetzt als Sünder in eine sündige Welt hineingeboren wird, aber doch verantwortlich ist, weil er die gleiche Sünde Adams auch tut, bietet dafür eine Denkmöglichkeit an, die nicht leichthin aufgegeben werden sollte.

Es muss ernsthaft gefragt werden, was die Sündenauffassung von Thorsten Dietz für die Erlösungslehre mit der Bot­schaft vom Tod Christi am Kreuz, seiner Stell­vertretung für uns und der dadurch erwirkten Versöhnung mit Gott bedeutet. Dietz will zwar auch die Sündenlehre mit der Botschaft vom Heil durch Christus verbunden wissen. Aber seine Aussagen deuten in eine fragwürdige Richtung:

„Christus gleichgestaltet zu werden, ist die menschliche Bestimmung. Insofern ist Jesus Christus der Erkenntnisgrund nicht nur der Zuwendung Gottes, sondern auch der menschlichen Sünde“ (116)

Christus erscheint nur als Vorbild, an dem die eigene Bestimmung abzulesen ist, aber nicht als Erlöser, der für die Sünde bezahlt hat und in dem der Glaubende ein neuer Mensch wird.

Im Zusam­men­hang mit den früheren Aussagen im Sündebuch (Sünde, 190-191. 205. 210) erscheint Christus auch hier nicht als Erlöser, der durch seinen Sühnetod die Sünde überwindet, sondern als Vorbild, das dem Menschen seine „Bestimmung“ zeigt und dann auch seine „Selbstverfehlung“. Wie im Sündebuch fällt wieder die Ab­wesenheit der Erlösung von Sünde empfindlich auf. Die Erlösung scheint so gravierend umgedeutet, ihrer Bedeutung und Substanz beraubt, dass sie keinen herausragenden Platz bekommt. Sündenlehre verkommt so zu einer tendenziell harmlosen Erfahrungstheologie.

So sehr es zu begrüßen ist, dass Thorsten Dietz die Evangelikalen an die Bedeutung der Theologie der Sünde erinnert und vor Fehldeutungen in der Sündenauffassung warnt, so sehr ist es auch zu beklagen, dass er die Sündenlehre nicht nur von tatsächlichen Irrtümern reinigen will, sondern auch Grundlagen beseitigt, um das klassische Sündenverständnis mit dem der modernen Theologie zu vereinen. Warum das ein Fortschritt sein soll, kann Dietz nicht überzeugend darlegen. Die moderne Theologie hat sich mit ihrer Entscheidung zu einer Sündenlehre, die konsequent in der Erfahrung des Menschen gründet, zahlreiche Probleme geschaffen. Wenn Dietz behauptet, er wolle trotzdem „der Bibel gerecht“ werden, dann bleibt das ein Wunsch, der offensichtlich nicht erfüllt wird.


  1. Akzente für Theologie und Dienst 4/2018. S.108-118. 

  2. Thorsten Dietz. Sünde: Was Menschen heute von Gott trennt. 2. Aufl. Witten: SCM Brockhaus, 2017. 

  3. Meine ausführliche Besprechung dazu in Bibel und Gemeinde 3/2018 unter dem Titel „Unbekannte Sünde – Warum ein neuer Versuch, Sünde zu erklären, gescheitert ist“. 

  4. Hanns-Stephan Haas. Bekannte Sünde: e. systematische Untersuchung zum theologischen Reden von der Sünde in der Gegenwart. Neukirchen, 1992. S. 5. Dort auch eine ausführliche Darstellung dieses Grundtypus und anderer Typen und eine Kritik an diesem Ansatz (S. 9-40). 

  5. In seinem Buch redet Dietz genauso: „Wir verfehlen unsere Bestimmung in der Verdrängung der Wahrheit, unserer Abkehr von der Liebe, in der Flucht vor der Freiheit und in der Verweigerung des Vertrauens. So verfehlen wir Gott, indem wir uns selbst verfehlen“. (Sünde, 131)  

  6. „In einer multireligiösen Gesellschaft ist der Verweis auf Gebote Gottes keine Klärungshilfe mehr. Diese Funktion haben längst die Menschenrechte und das Bekenntnis zur Menschenwürde als Basis gemeinsamer Werte übernommen“ (Sünde, 32). 

  7. Risto Saarinen macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Augustin „die Begrifflichkeit des ‚Erbens‘ nicht endgültig präzisiert“. Auch wäre eine „detailliert biologische Deutung der augustinischen“ Erbsündenlehre „anachronistisch, obwohl die physische Sexualität für Augustin wie schon für Tertullian in der Übertragung der E[rbsünde] durchaus eine ausschlaggebende Rolle spielt“. Im Mittelalter trat das Moment des Erbens als Vorgang weiter zurück. RGG4, Bd. 2,1395. 

  8. Luther hat in seiner Genesisvorlesung bei der Diskussion über die Gottebenbildlichkeit allerdings tatsächlich das meiste Interesse an der ungetrübten Gemeinschaft Adams mit Gott und dem Heil dieser Gottesnähe. Über den Verlust dieser Gemeinschaft kommt er schnell zum Evangelium, weil durch das Werk Christi die Versöhnung mit Gott hergestellt wird. An vielen anderen Stellen aber spricht er von notwendiger Bildung und ermahnt Eltern und Fürsten, Menschen in ihren Fähigkeiten zu fördern, damit sie damit dem Gemeinwohl dienen. Mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat Luther Sexfeindlichkeit anzudichten, passt zwar ins von Dietz gezeichnete Bild, es ist aber falsch. Man lese dazu nur seine differenzierte Schrift „Über Ehe und Ehelosigkeit“, wo er darlegt, dass Gott die Ehe gegeben hat, damit jeder sein geschlechtliches Begehren leben kann und dabei „mit gutem Gewissen leben und mit Gott seine Straße ziehen“. 

  9. Haas, Bekannte Sünde, S. 17. 

  10. Es ist sicher richtig, dass Augustins Inter­pretation des letzten Versteils ἐφʼ ᾧ πάντες ἥμαρτον als „in ihm [Adam] haben alle gesündigt“ nicht notwendig und auch nicht die beste von acht oder neun Möglichkeiten des Verständnisses darstellt. Es ist aber irreführend, wenn Dietz mit der zweifelhaften Auslegung Augustins auch die zweifelsfreien Aussagen des Abschnitts verwirft. Es gilt weiter: „Die Sünde kam nicht ‚durch Adam‘ in die Welt, weil Adam irgend ‚ein Mensch‘ war, der gesündigt hat, sondern weil er der erste Mensch ist, von dem alle anderen Menschen abstammen, d.h. der Prototyp, dessen Tat dazu geführt hat, dass alle Menschen Sünder sind. […] Die primäre Ursache ist der Ungehorsam Adams, durch den der Tod in die Welt kam, der seit Adam alle Menschen erfasst. Eine sekundäre Ursache für den Tod des einzelnen Menschen ist die individuelle Sünde jedes Menschen“. Schnabel, Eckehard. Der Brief des Paulus an die Römer: Kapitel 1–5. 2. Aufl. Witten; Giessen: SCM R. Brockhaus; Brunnen Verlag, 2018, zur Stelle. Dort auch Diskussion und Literatur. 

  11. Das stellt E. Schnabel in seiner Auslegung zu Römer 5,12 zurecht heraus: „Wer die Existenz von faktisch Gerechten unter den Nachkommen Adams leugnet, leugnet die Heilsmacht der Tora. Und gerade dies tut Paulus. Er leugnet die Heilsmacht des Gesetzes, indem er bestreitet, dass es auch nur einen Menschen gibt, der als Mensch, als Kreatur, gerecht ist und von Gott als gerecht anerkannt werden würde (Röm 1,18–3,20; 5,18). In 5,12–21 entspricht der Radikalität der Sünde Adams in ihrer Universalität die Radikalität der Gnade Gottes in Jesus Christus, die Gottlose rechtfertigt. Die paulinischen Aussagen über die Gnade Gottes bzw. Jesu Christi stehen im Widerspruch zum Grundaxiom der jüdischen Adam-Tradition, nach der das Gesetz die Gegenmacht zur Sünde ist.“ 

  12. vgl. Sierszyn, Armin. Das Sünde- und Schuldproblem im dogmatischen Denken Schleiermachers. Diss. Erlangen, 1973. 

  13. Dass es in diesem Zusammenhang in der Kirchengeschichte unnötige Spekulationen darüber gab, wie eine Empfängnis ohne Sünde möglich wäre und dass dazu – nicht von Augustin – schließlich auch Maria zur Sündlosen gemacht wurde, sind Verirrungen, die aus Missverständnissen der Erbsündenlehre erwachsen sind. 

  14. Man könnte erwägen, hier von der Ur-Sünde oder der Personsünde zu reden, wie es verschiedentlich getan wurde, um etwa den Irrtum einer Vererbung von Sünde durch den Sexualakt auszuschließen. Für notwendig halte ich das nicht, da das Gemeinte in jedem Fall erläutert werden muss.