In diesem Artikel will ich mit Ihnen über die Begriffe: Selbstliebe, Nächstenliebe und Gottesliebe nachdenken.1 Doch zunächst fragen wir: Wer oder was ist der Mensch? und blicken auf die Schöpfung.
„Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich.“ (1Mo 1,26)
„Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ (V. 31)
Im Schöpfungsbericht finden wir die folgende Ausgangslage vor: Ein perfekter Mensch in einer perfekten Welt in einer perfekten Beziehung zu seinem liebenden Schöpfer!
Nur etwas fehlte: eine perfekte Liebesbeziehung zu einer Frau – und so schuf Gott Eva. Ehe und Familie sind wunderbare Geschenke Gottes.
Doch dann kam es zum Sündenfall. Die ersten Menschen lehnten sich gegen ihren Wohltäter auf und verdarben seine perfekte Schöpfung durch ihre Sünde. Alles Schlechte, Sündige und Zerstörerische, wie wir es heute kennen, kam damals in unsere Welt hinein.
Adam und Eva waren immer noch Gott ähnlich, doch sie waren durch ihre Sünde unglücklich geworden. Sie schämten sich, sie lehnten sich selbst ab, sie hatten Angst, sie versuchten, sich vor ihrem Wohltäter zu verstecken.
Das Selbstbild wird unsicher
Seither hat der Mensch Mühe, sich so anzunehmen, wie er ist. Das Selbstbild des Menschen ist seitdem geprägt von Selbstentfremdung, Selbstablehnung und Selbsthass:
„Ich genüge nicht. Ich bin nicht so, wie ich sein möchte. Ich entspreche den Erwartungen der anderen nicht. Ich bin auch nicht so, wie mich Gott haben wollte. Ich fühle mich schlecht. Ich bin so mangelhaft und unvollkommen.“
Mit der ersten Sünde wurde auch das Selbstbild des Menschen beschädigt, so dass es seitdem bei vielen von Selbstentfremdung und Selbsthass geprägt ist.
Und dann vergleichen wir uns immer wieder mit anderen. Vielleicht haben das unsere Eltern auch schon so gemacht. Sie sagten vielleicht, dass meine Schwester lieber und hübscher sei als ich. Sie waren stolz darauf, dass mein Bruder das Abitur schaffte und studierte – und ich? Ich bin halt zu dumm dafür!
Der Weg vom Kind zum Erwachsenen war für viele von uns ein steiniger und dornenreicher Weg. Er war gepflastert mit Unsicherheit, Nichtverstandensein, Enttäuschung und Minderwertigkeitsgefühlen. Die Jahre im Alter von etwa 12 bis 18 waren vielleicht die komplizierteste Zeit unseres Lebens.
Ich begriff nicht, was mit mir geschah: Zweifel an sich selbst, eine übersteigerte Empfindlichkeit, Angst vor Spott und Versagen, Angst, von Gleichaltrigen nicht akzeptiert und vom anderen Geschlecht nicht beachtet zu werden, beherrschen das Leben eines Teenagers.
Außerdem malen uns die modernen Massenmedien täglich ein perfektes Bild der Schönen, Intelligenten, Sportlichen, Erfolgreichen und Reichen vor Augen. Doch ich bin nicht so.2
Wer vergleicht, merkt schnell, dass es immer einen anderen Menschen gibt, der hübscher, gescheiter und erfolgreicher ist als er selbst. Und so fällt mein Selbstwert in den Keller und ich habe Mühe, mich anzunehmen.
Doch wie kommt man vom Minus zum Plus? Was kann ich tun, damit die anderen mich wenigstens gut finden, wenn ich mich schon selbst ablehne?
- Ich könnte mich ja perfekt kleiden und (als Frau) auffällig schminken.
- Ich könnte mich mit unglaublichem Ehrgeiz weiterbilden oder Karriere machen.
- Ich könnte extrem fleißig und aktiv sein.
- Ich könnte knallhart jahrelang trainieren, um im Sport erfolgreich zu sein.
- Ich könnte selbstsicher und frech auftreten, angeben und dominant sein oder das andere Geschlecht zur Aufwertung meiner Person missbrauchen.
- Oder ich könnte mir einen Platz im Verein, im Freundeskreis, in der Partnerschaft erarbeiten, indem ich mich immer charmant, liebenswert und hilfsbereit gebe.
Die Aufzählung könnte immer so weitergehen. Und es fällt tatsächlich so schwer, den anderen anzunehmen, wenn man sich selbst nicht angenommen hat!
Selbstliebe als Ausweg?
In diesem Zusammenhang fällt uns vielleicht auch das Wort Jesu ein: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“
Könnte das die Lösung sein? Seit über 50 Jahren rufen uns berühmte Psychologen wie Carl Rogers und Erich Fromm – zusammen mit unzähligen ihrer Schüler und Buchautoren – zu, dass wir uns selbst lieben sollten.3 Ich habe da zum Beispiel in einer Illustrierten folgende populär-psychologischen Lebenshilfe-Tipps gelesen4:
„Lieben Sie sich selbst! Sie möchten einfach glücklich sein und ein erfülltes Leben führen? Das ist gar nicht so schwer. Der Schlüssel dazu heißt Selbstliebe! Stellen Sie sich vor einen Spiegel. Betrachten Sie in Ruhe die Person, die Ihnen entgegenblickt. Wie stehen Sie zu ihr? Blicken Sie nun Ihrem Spiegelbild in die Augen und sagen Sie: Ich liebe dich. Wie fühlt sich das an?“
„Sich selbst mögen: So gehen Sie am besten vor: Behandeln Sie sich so, wie Sie es von der besten Freundin wünschen. Lockern Sie den Griff der Selbstkritik, indem Sie sich mindestens täglich dreimal loben… Worte sind kraftvolle Energien, deshalb achten Sie auf Ihre Wortwahl: Machen Sie sich nicht klein, und sprechen Sie gut über sich.“
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Das sagte ja auch Jesus im größten Gebot! Und immerhin finden wir diese Aussage neunmal in der Bibel! (3 Mo 19,18.34; Mt 19,19; 22,39; Mk 12,31; Luk 10,27; Röm 13,9; Gal 5,14; Jak 2,8)
Sich selbst lieben – ist das ein wichtiger Befehl Christi oder ist das egoistisch, ungeistlich und unbiblisch? Wie würden wir spontan diese Frage beantworten?
Ich habe als junger Mann das Büchlein von Walter Trobisch: „Liebe dich selbst, Selbstannahme und Schwermut“5 gelesen. Manches fand ich darin hilfreich und anderes war für mich nicht nachvollziehbar.
Zur Zeit der Bibel sollen seiner Meinung nach die Menschen sich noch gern gehabt haben, weil sie viel mehr in sich selber ruhten und weniger neurotisch waren. Darum hätte Jesus zu ihnen gesagt: „Wie ihr euch selbst liebt, so sollt ihr auch eure Nächsten lieben.“ Bei uns sei das nun völlig anders. Wir müssten es zunächst wieder lernen, uns selbst zu lieben. Erst dann könnten wir auch unseren Nächsten annehmen und lieben.6
Mit Hilfe psychologischer Überlegungen machen manche aus dem größten Gebot und dem Doppelgebot der Liebe eine Aufforderung zur Selbstfindung und Selbstliebe.
Und so macht man psychologisierend aus dem größten Gebot und dem Doppelgebot der Liebe eine Aufforderung zur Selbstfindung, Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung: „Liebe zunächst dich selbst!“
Dies wäre aber ein drittes Gebot, doch Jesus spricht nur von zwei Geboten, von der Gottesliebe und von der Nächstenliebe.
Selbstliebe biblisch vorausgesetzt
Die Liebe zu sich selbst wird als vorhanden vorausgesetzt. Genauso wie Paulus in Epheser 5 dem Ehemann schreibt, dass er seine Frau wie seinen eigenen Körper lieben soll:
„Wer seine Frau liebt, der liebt sich selbst. Niemand hasst seinen eigenen Körper. Vielmehr ernährt und pflegt er ihn. So sorgt auch Christus für seine Gemeinde.“ (V. 28.29)
Was meint Paulus hier? In der Neuen Genfer Übersetzung liest sich das so:
„Genauso sind nun auch die Männer verpflichtet, ihre Frauen zu lieben und ihnen Gutes zu tun, so wie sie ihrem eigenen Körper Gutes tun. Ein Mann, der seine Frau liebt und ihr Gutes tut, tut sich damit selbst etwas Gutes. Schließlich hat noch nie jemand seinen eigenen Körper gehasst; vielmehr versorgen wir unseren Körper mit Nahrung und pflegen ihn, genau wie Christus es mit der Gemeinde macht.“
Die Botschaft des Neuen Testamentes ist also ganz klar: Weil du dich selbst liebst, liebe auf dieselbe Weise deinen Nächsten oder deine Frau! So wie du dir selbst jeden Tag viel Gutes tust, tue auf dieselbe Weise deiner Frau und deinem Nächsten Gutes!
Ich finde in der Bibel kein neues, drittes Gebot: „Du sollst dich selbst lieben!“
Das wichtigste Argument gegen diese Uminterpretation der Aussage Jesu finden wir jedoch im 2.Timotheusbrief 3,1.2:
„Das sollst du wissen: In den letzten Tagen werden schwere Zeiten anbrechen. Die Menschen werden selbstsüchtig sein, habgierig, prahlerisch, überheblich, bösartig, ungehorsam gegen die Eltern, undankbar, ohne Ehrfurcht…“
Genau das sind die Probleme des Menschen unserer Tage. Nicht dass er sich zu wenig lieben würde und nur immer an den Nächsten denkt! Im Gegenteil: „Die Menschen werden selbstsüchtig7 sein“, prophezeit Paulus.
Wir sind umgeben von einem fast grenzenlosen Ich-Kult. Es kann nicht richtig sein, wenn manche Christen dann zur Selbstliebe auffordern.
Wir sind umgeben von einem fast grenzenlos gewordenen Ich-Kult, Egoismus, Narzissmus und Selbstverliebtheit des Menschen. Der Mensch sieht sich als Mittelpunkt des Universums: „Das gönn ich mir, es muss für mich stimmen, Bedürfnisse der anderen sind mir egal, mein bester Freund, dem ich nichts vorenthalten will, bin ich.“
Und in einer solchen Zeit, die von Selbstsucht geprägt ist, kommen nun manche Christen und sagen uns: „Sei doch lieb zu dir selbst, genieße das Leben, tu, was dir Spaß macht, wieso treu und pflichtbewusst Gott und den Menschen dienen? Leb nach dem Lustprinzip und gönn dir all das Gute, das unsere Konsumgesellschaft zu bieten hat. Liebe dich selbst!“
Diese Lebenseinstellung ist eines Nachfolgers Jesu Christi unwürdig. So wird es nichts mit unserem Christsein. Sie ist genau das Gegenteil von dem, was Jesus im größten Gebot von uns verlangt:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe und mit deinem ganzen Verstand.“ Und: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Mt 22,27.39)
Gottesliebe biblisch gefordert
Darum geht es also. Wir sollen Gott mit allem, was wir sind und haben, lieben, dienen und ehren. IHN über alles stellen.
ER ist die Nr. 1. ER sollte im Mittelpunkt stehen, niemals der Mensch. Wir sollten in unseren Augen an Bedeutung abnehmen, damit uns Gott immer größer werden kann. Auch das macht die Bibel sehr deutlich:
„Nicht uns, HERR, nicht uns, deinen Namen bringe zu Ehren! Denn du bist gnädig und treu.“ (Ps. 115,1)
„Wenn jemand auf etwas stolz sein will, soll er auf das stolz sein, was Gott für ihn getan hat!“ (1Kor 1,31)
„Was bringt dich überhaupt dazu, so überheblich zu sein? Ist nicht alles, was du hast, ein Geschenk Gottes? Wenn es dir aber geschenkt wurde, warum prahlst du dann damit, als hättest du es dir selbst zu verdanken?“ (1Kor 4,7)8
Unser Herz sollte nicht mit Selbstliebe oder mit der Suche nach eigener Ehre, Anerkennung und Bedeutung erfüllt sein, sondern mit Liebe zu Gott. IHM gebührt alle Ehre!
Unser Herz sollte nicht mit Selbstliebe oder mit der Suche nach eigener Ehre, Anerkennung und Bedeutung erfüllt sein, sondern mit Liebe zu Gott. IHM gebührt alle Ehre!
Wenn Gefühle im Weg stehen
Doch wie können wir das tun? Unsere Gefühle sind uns da nämlich oft im Weg. Wenn Paulus9 vor „Selbstsucht“ warnt, dann gebraucht er das griechische Wort „philia“10 für Liebe. Bei dieser Art von Liebe liegt die Betonung auf Zuneigung, Sympathie, einem Gefühl natürlicher Liebe. „Philia“ ist eine natürliche, spontane Freude an einer anderen Person. Man hat sich einfach gern.
Doch so könnten wir Gott nicht immer lieben, denn manchmal fühlen wir uns von ihm schlecht behandelt oder im Stich gelassen. Und wenn wir sogar unsere Feinde lieben sollen, dann kann damit auch nicht ein Gefühl der Sympathie, der natürlichen Liebe und der Zugehörigkeit gemeint sein. Wenn es nur um meine Gefühle gehen würde, könnte ich viele Menschen niemals lieben. Und dann wäre es wirklich so, wenn ich kein gutes Gefühl mir gegenüber habe, dann kann ich auch keine guten Gefühle anderen gegenüber haben.
Doch wenn Jesus von Gottesliebe und Nächstenliebe spricht, benutzt er meistens das griechische Wort „Agape“. Bei der „Agapeliebe“11 geht es nicht in erster Linie um Gefühle, die man ja durch ein Gebot gar nicht verlangen kann, sondern um die Bereitschaft zum Handeln.12
Die Heilsgeschichte zeigt uns, wie Gott „Liebe“ versteht: ER befreite sein Volk Israel aus der Knechtschaft und bewahrte sie immer und immer wieder. Und ER sandte seinen einzigen Sohn, um uns durch seinen stellvertretenden Tod am Kreuz zu erlösen.
Der Wille zur Liebe
Liebst du diesen wunderbaren Gott, der dich zuerst geliebt hat, „von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe und mit deinem ganzen Verstand“? Hörst du auf seine Stimme? Tust du seinen Willen? Ehrst du ihn durch deinen Lebensstil? Pflegst du die Gemeinschaft mit ihm und betest ihn an? Liebst du ihn wirklich?
Lesen wir die Evangelien, dann stellen wir fest: „Auch für Jesus ist Liebe eine Sache des Willens und der Tat.“13
Liebe handelt, sie packt zu und hilft. Wie du dir selbst Gutes tust, so tue auch deinem Nächsten Gutes.
Als Beispiel für Nächstenliebe erzählt er uns die Geschichte vom barmherzigen Samariter14. Da sehen wir: Liebe handelt, sie packt zu, sie hilft und sorgt für den anderen. Wie du dir selbst Gutes tust, so tu auch deinem Nächsten Gutes. Dann liebst du ihn wie dich selbst! Jesus gebietet uns, den Bedürfnissen unseres Nächsten so einfühlsam und helfend zu begegnen, als wären sie unsere eigenen Bedürfnisse.
Jener Samariter musste sich sicher mit verschiedenen negativen Gefühlen auseinandersetzen. Der Verletzte war aus einer verfeindeten Bevölkerungsgruppe, die Räuber konnten noch in der Nähe sein und es war zeitaufwändig und mühsam, in der Wüste Erste Hilfe zu leisten und einen Krankentransport zu organisieren. Er half trotzdem – und Jesus zeigt uns dadurch, wie unsere Liebe zum Nächsten aussehen sollte.
Lasst uns diese zwei Dinge mitnehmen:
„Unser Leben – einschließlich unserer Meinung, unserer Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse – ist nicht wertvoller und wichtiger als das anderer Menschen.“15
Doch manchmal ist es verführerisch und einfacher, sich mit seinen Bedürfnissen und Wünschen immer zurückzustellen und das zu tun, was andere von uns möchten oder erwarten. Darum gilt auch das Zweite:
„Unser Leben – einschließlich unserer Meinung, unserer Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse – ist nicht weniger wertvoll und wichtig als das anderer Menschen.“16
Man könnte mir nun entgegnen: O.K., eine Frage ist dann jedoch immer noch nicht beantwortet. Wie ist das nun mit meinem Selbstwert? Was kann ich tun, wenn ich mich hässlich und dumm finde? Was kann ich tun, wenn ich mich selbst nicht ausstehen mag? Was kann ich tun, wenn ich voller Selbstablehnung, Selbstzweifel, Selbstunsicherheit, vielleicht sogar Selbsthass bin?
Vom Selbsthass zur Erkenntnis der Liebe Gottes
Bitte versuch dann nicht, dir die Liebe Gottes und deiner Mitmenschen zu verdienen. So erhältst du niemals die Anerkennung, nach der du dich so sehr sehnst. Und krankhafte Suche nach Anerkennung ist ja auch wieder nur Selbstsucht.
Eine gesunde Selbstannahme entsteht nur, wenn wir uns mit der Liebe Gottes beschäftigen und unsere Identität in Jesus Christus finden.
Eine gesunde Selbstannahme entsteht, wenn du dich mit der Liebe Gottes beschäftigst und deine (neue) Identität in Jesus Christus findest.17 Gott liebt dich, darum bist du wertvoll!
Martin Luther sagte zu Recht:
„Gott liebt uns nicht, weil wir wertvoll sind; wir sind wertvoll, weil Gott uns liebt.“18
Was für ein Recht hast du, jemanden zu verachten, der von Gott geliebt wird (Röm 8,31-15), der von Gott wunderbar geschaffen wurde (Ps 139,13-16), den Gott als wertvoll erachtet (Jes 43,4; Röm 5,7-9), für den Gott sorgfältig einen Plan für sein Leben schuf (Eph 1,3-5)?
Die Bibel ist in erster Linie nicht dazu da, dir zu zeigen, was für ein unmöglicher Christ du bist, sondern sie will dir Gottes unbegreifliche und unverdiente Liebe groß machen.19
Gerhard Tersteegen hat das in seinem bekannten Lied 1757 so ausgedrückt:
„Ich bete an die Macht der Liebe,
die sich in Jesus offenbart;
ich geb mich hin dem freien Triebe,
wodurch auch ich geliebet ward;
ich will, anstatt an mich zu denken,
ins Meer der Liebe mich versenken.“
Konkrete Schritte zur richtigen Selbsteinschätzung
Wir erkennen unseren Wert nicht dadurch, dass wir nach innen, sondern nach oben schauen. Schau ich auf mich, dann drückt mich entweder mein Versagen zu Boden oder meine Begabungen und mein Erfolg machen mich stolz und eingebildet. Und so kann ich weder Gott noch den Nächsten wirklich lieben.
Eine gesunde Selbsteinschätzung wächst bei uns dadurch, dass wir Jesus unser Versagen und unsere Schwächen übergeben und ihm für unsere Gaben und Erfolge dankbar die Ehre geben. Unser Denken muss mehr von seinem Wort geprägt sein als vom Drehen um das Selbst.
Ich habe erlebt, dass uns dadurch eine gesunde Selbsteinschätzung wächst, dass wir unser Inneres von Gott heilen lassen. Wir müssen ihm unsere Vergangenheit, unsere Sünden und Schwächen übergeben, ihm für unsere Gaben und Erfolgserlebnisse dankbar alle Ehre geben und unsere Gedanken von seinem Wort und nicht mehr von den falschen Maßstäben der Welt prägen lassen. Dies geschieht nicht von heute auf morgen, sondern in einem ständigen Wachstumsprozess.
Ein Freund (M. Burkhart) von mir hat das einmal so ausgedrückt:
„Wer vor Gott über sich und seine Gaben und Grenzen zur Ruhe gekommen ist, wer vor Gott ein JA zu sich gefunden hat, der hat es viel einfacher, andern Menschen in Liebe zu begegnen.
Wer vor Gott und Menschen über sich und seine Eigenschaften nicht zur Ruhe gekommen ist und im Defizit lebt, meint, er komme zu kurz und ‚muss‘ dafür sorgen, dass sein Defizit aufgefüllt wird. So eine Person hat Mühe, andern Menschen in echter Liebe zu begegnen.“
Hast du dich in diesem Sinne angenommen? Mit deinen Gaben und deinen Grenzen? Mit deinem Geschlecht und mit deiner Ursprungsfamilie? Mit deiner Sexualität und mit deinem Zivilstand? Mit deinen gesundheitlichen Problemen und mit deinem Äußeren? Mit deiner Stellung im Beruf und mit deiner materiellen Situation?
- Bist du barmherzig und vergebungsbereit deinen Mitmenschen gegenüber, so wie Jesus dich (wenn Du glaubst) mit deinem ganzen Versagen angenommen hat (Röm 15,7)?
- Kannst du die Vergebung von Jesus wirklich innerlich annehmen – oder bist du dazu zu stolz und klagst dich an, obwohl Jesus dir vergeben hat?
- Hast du begriffen, dass alles nur Gottes unverdiente Gnade ist?
- Und bist du fähig und bereit, dich von Gott und anderen Menschen lieben zu lassen?
Dann lass dich selbst los, um für Gott und andere zu leben! Denn Jesus sagt:
„Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden“ (Mt 16,25)
Der Arzt und Psychotherapeut, Michiaki Horie, erklärt das so20:
„Wenn ich mich verliere, dann vergesse ich mich, weil meine Gedanken mit einer wertvolleren Sache beschäftigt sind. Ich bin nicht mehr Ziel meines Strebens. Und darum brauche ich meine Zeit nicht mehr damit zu verschwenden, an mir selbst herumzuglätten.“
Selbstliebe und Selbstverwirklichung sind psychologische Konzepte, bei denen der Mensch und nicht Gott im Mittelpunkt stehen. Selbsthingabe und Selbstverleugnung sind der biblische Weg zur Ehre Gottes und zur Freiheit. Ein solches Leben lohnt sich, gelebt zu werden.
Wenn wir jedoch versuchen, uns selbst zu gewinnen, dann können wir nur verlieren und werden enttäuscht. Wenn wir jedoch bereit sind, uns selbst an Christus zu verlieren, selbstlos zu werden, dann werden wir unser Leben und unsere Seele bewahren.21
Fazit: „Man kann einen Menschen nicht zu einem besseren Selbstwertgefühl bewegen, indem man seinem Ego schmeichelt.“22
Während meiner Zeit im Gymnasium trat in unserer Aula eine Sing-Out-Gruppe der Moralischen Aufrüstung auf und sang begeistert das Lied: „Ein Hoch auf den Menschen“.
Ich liebe Menschen. Trotzdem will ich nicht den Menschen hoch leben lassen, sondern Gott. So wie die Sonne im Zentrum ist und ihre Planeten anstrahlt und erwärmt, so soll allein Gott im Zentrum stehen, von dessen Liebe und Wertschätzung wir leben. Wir sind wertvoll, weil Gott uns liebt.
Ich habe von einem Gemeindeglied die Empfehlung einer Youtube-Predigt des leider viel zu früh tödlich verunfallten Leiters des Fackelträgerzentrums Tauernhof in Schladming, Hans Peter Royer, zum Thema „Selbstliebe, Nächstenliebe, Gottesliebe“ erhalten. Diese Predigt war für mich der Anlass, mich noch einmal gründlich mit diesem wichtigen Thema zu befassen. Das Ergebnis ist dieser Artikel, der auf meiner Sonntagspredigt vom 26.8.2018 in Sitterdorf fußt. ↩
Und die echten Stars und Models sind das eigentlich auch nicht, ihre Fotos sind Kunstprodukte durch Adobe Photoshop usw. ↩
Paul Brownback, Selbstliebe. Eine biblische Stellungnahme. Asslar: Herold-Bücher im Verlag Schulte und Gerth, 1988, führt dies sehr gut aus. ↩
Tushita M. Jeanmaire in: GlücksPost Nr. 46, 16. November 2006, S. 38. ↩
Walter Trobisch, Liebe dich selbst – Selbstannahme und Schwermut, Wuppertal: Brockhaus Verlag, 1975. ↩
Trobisch, ebd., S. 12. ↩
Griechisch: phílautos ↩
Vgl. auch Mt 5,3 & Spr 27,2! ↩
In 2. Timotheus 2,3 ↩
Frédéric Godet, Kommentar zu dem Evangelium des Johannes, Gießen: Brunnen Verlag, 19034, 1987, S. 138, definiert „philia“ mit „Liebhaben, Lieben im Sinn der persönlichen Zuneigung“. Vgl. dazu auch Brownback, a.a.O., S. 53-59! ↩
Walter Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zum Neuen Testament, Berlin: Walter de Gruyter, 1971, Sp. 10, spricht in diesem Zusammenhang von „Liebeserweis, Wohltat“. Im Hebräischen wird dafür das Wort „ahav“ (‘hb) gebraucht. Vgl. Jenni/Westermann, Hrsg., Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, Bd. 1, München: Chr. Kaiser Verlag, 1978, Sp. 60ff! ↩
„Die Liebe Gottes zu Israel (Dt 7,13) ist nicht Trieb, sondern Wille; die Liebe zu Gott und dem Nächsten (Dt 6,5; Lv 19,18), die dem Israeliten geboten wird, ist nicht Rausch, sondern Tat.“ (Ethelbert Stauffer: ‚Lieben im Judentum‘, in: Gerhard Kittel, Hrsg., Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart: Kohlhammer, 1933, S. 38) ↩
Ebd. S. 45. ↩
Luk 10,25-34 ↩
William Backus/Marie Chapian, Befreiende Wahrheit. Praxis kognitiver Seelsorge, Hochheim/Main: Projektion J, 1983, S. 99. ↩
Ebd. ↩
Hilfreich empfinde ich in diesem Zusammenhang das Buch von Neil T. Anderson, Neues Leben – neue Identität, Lage: Logos-Verlag, 1994. ↩
Brownback, a.a.O., S. 105, zitiert hier John R. W. Stott: „Must I Really Love Myself?“, Christianity Today, 5May 1978, p. 35. ↩
Doch auch das macht die Bibel deutlich: Wir sind nicht nur nach dem Bild Gottes geschaffen, sondern auch Sünder. M. Horie, a.a.O., S. 76, beschreibt das gut unter der Überschrift: „Sei, wer du bist, und tu, was dran ist.“ Wir brauchen Korrektur von Gott und von unseren Mitmenschen. Eine gesunde christliche Erziehung gibt Lob, Annahme und Anerkennung, jedoch auch Korrektur des falschen Verhaltens – jedoch alles in Liebe. Und eine biblische Predigt- und Seelsorgepraxis enthält auch den Zorn Gottes über unsere Sünde, die Konsequenzen des Ungehorsams und das Gericht. Das Transaktionsmodell „Ich bin o.k.- Du bist o.k.“ (Bestseller von Thomas A. Harris) fußt auf einem einseitigen humanistischen Bild des Menschen und steht im Gegensatz zur realistischen Anthropologie der Bibel (z. B. in 1. Mose 6,5; 8,21; Jer 17,9; Mt 15,19 usw.) Da hilft alles Schmeicheln des Egos und alle selbstverbessernde Kosmetik des Selbstwerts nichts. Einsicht, Umkehr, Vergebung suchen und gewähren sind gefragt. ↩
Michiaki u. Hildegard Horie, Das verlorene Ich. Vom Minderwertigkeitsgefühl zur Selbstfindung, Wuppertal: Brockhaus Verlag, 1982, S. 89. ↩
Vgl. dazu Jay Adams, Ich liebe mich. Selbstverwirklichung aus biblischer Sicht, Asslar: Verlag Schulte und Gerth, 1987. ↩
Anderson, a.a.O., S. 33. ↩