ThemenHeilsgeschichte

Landverheißung und Staatsgründung. Gedanken zum 70-jährigen Bestehen des modernen Staates Israel

Die Staatsgründung Israels vor 70 Jahren ist für viele ein Anlass, Gott für seine Treue und seine Verheißungen zu danken. Der Blick in die Bibel zeigt, dass die Landverheißungen an Israel tatsächlich eine zentrale Stellung einnehmen. Die Verheißungen auf eine Wiederherstellung Israels sind aber mit dem Erlöser und Christus verbunden, der nur Jesus sein kann. In Jesus sind darum auch alle Verheißungen „Ja“ und „Amen“ und mit ihm stehen auch die zukünftigen Erfüllungen der noch offenen Versprechen Gottes in Verbindung.

In den letzten rund 100 Jahren ist in Israel manches Erstaunliche und sogar Wundersames geschehen. Dazu gehört das „Wunder der Gründung des Staates Israels“ vor 70 Jahren.1 Damit stellt sich die Frage, was das mit biblischen Verheißungen zu tun hat. Obwohl die Rückkehr der Juden in das „Heilige Land“ seit 1882 (erste „Alijah“) kaum mit der biblischen Landverheißung begründet wurde, sondern vor allem durch den wachsenden Judenhass verursacht wurde, stellt sich doch die Frage, welche Aktualität die Landverheißung Gottes an die israelitischen Väter und ihre Nachkommenschaft „zum ewigen Besitz“ (Gen 17,7; vgl. auch z.B. Ps 105,10f.) hat. Wie steht es mit dieser Verheißung Gottes im Zeitalter des Neuen Bundes, den Gott durch Jesus Christus gestiftet hat? Und wie steht es mit der verheißenen Wiederherstellung Israels im Neuen Bund?

Das sind Themen, die immer noch kontrovers behandelt werden. Es wird im Folgenden nicht möglich sein, eine ausführliche exegetische Antwort darauf zu geben. Es soll lediglich darum gehen, einzelne Gedanken und Anregungen anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Neubegründung des Staates Israel im Jahr 1948 weiterzugeben.

Die bleibende Erwählung Israels

Gottes Heilsplan für die Welt und damit auch für die „heidenchristliche“ Gemeinde ist nicht ohne seinen Heilsplan für Israel zu denken.2 Als „Heidenchristen“ dürfen wir dankbar anerkennen, dass Gott Israel berufen hat, um den Menschen seinen Heilsplan mitzuteilen (vgl. z. B. Röm 3,2). Zur samaritischen Frau sagt Jesus am Jakobsbrunnen: „Ihr betet an, was ihr nicht kennt; wir [d. h. die Juden] beten an, was wir kennen, denn das Heil/die Rettung kommt aus den Juden“ (Joh 4,22).

Für Paulus ist damit die bleibende Bedeutung Israels für das Heil der Welt verbunden (vgl. z.B. Röm 15,27).3 So betont er in Röm 11,18b den Heidenchristen gegenüber:

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“

Der Grund für die bleibenden Verheißungen Gottes ist nicht in der Treue Israels, sondern in der Treue Gottes begründet.

Mit der „Wurzel“ bezieht sich der Apostel offenbar auf die Heilsverheißungen, die Gott den „Vätern“ Israels und ihren Nachkommen gegeben hat (vgl. Röm 11,16; Jes 51,1f.).4 Wenn Paulus mit dem Argument die Heidenchristen auffordert, sich nicht „gegen die Zweige“, welche „wegen ihres Unglaubens ausgebrochen sind“ (Röm 11,17ff.), zu rühmen (Röm 11,18a), so bringt er damit die bleibende Bedeutung der Väter in Bezug auf unser Verhältnis als „Heidenchristen“ Israel gegenüber zum Ausdruck.5 Der Grund für diese bleibende Bedeutung der Verheißungen Gottes, die Gott den „Vätern“ für ihre Nachkommen­schaft gegeben hat, ist also keineswegs in der Treue Israels begründet, sondern in der Treue Gottes, wie Paulus in Röm 11,29 betont: „Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind nicht zu bereuen“, d. h. Gott kann und wird sie nicht bereuen (vgl. auch z. B. Ps 89,29.35; Jer 32,20f.).

In Röm 11,25 betont Paulus, dass Israel „zum Teil Verstockung widerfahren ist, bis die Fülle der Nationen eingegangen sein wird“. Damit besagt Paulus, dass die Verstockung erstens nicht alle Juden betrifft und dass sie zweitens ein Ende haben wird. Als Folge davon6, dass „die Fülle der Nationen [ins Volk Gottes] eingegangen ist“, wird „ganz Israel gerettet werden“ (Röm 11,26). Die „Verstockung“ ist also nicht endgültig und hebt die bleibende Erwählung Israels nicht auf (vgl. Röm 11,1f.). Bereits die alttestamentlichen Propheten haben diese Verstockung immer wieder angesprochen (vgl. z. B. Jer 11,8.10; 16,12; 18,12; 23,17; Hes 3,7), ebenso auch Jesus Christus (vgl. z. B. Mk 3,5; 6,52; Joh 12,40). Der Grund dafür, dass Israel nicht auf Gottes Wort hört, ist demnach das verstockte Herz der Menschen, auch wenn in Jes 63,17 gefragt wird, warum Gott „unser Herz“ verhärtet (vgl. Jer 7,26; 17,23; 19,15). Diese Verhärtung vonseiten Gottes hängt immer damit zusammen, dass die Menschen nicht auf Gott hören (wollen). Andererseits verheißt Gott die zukünftige Errettung von „ganz Israel“. Nachdem Jesaja von einem „Stumpf“ gesprochen hatte (vgl. Jes 4,2; 6,13; 11,1), betont er z. B. in Jes 60,21:

„Und dein Volk, sie alle werden Gerechte sein, werden das Land besitzen auf ewig, ein Schössling (nezer) seiner Pflanzung, ein Werk seiner Hände, sich zu verherrlichen.“7

Und in Jes 45,25 lesen wir: „In Jahwe wird der ganze Same Israels gerecht sein und sich rühmen.“ Ermöglicht wird dieser Zustand durch das Leiden des verheißenen Welterlösers und durch seine Herrschaft in Israel (vgl. z. B. Jes 53,10-12; Jer 23,5f.).

Die Frage nach der Aktualität der Landverheißung

Die Landverheißung an Abraham und seine Nachkommen spielt in der Bibel eine zentrale Rolle.

In der Bibel spielt das dem Abraham und seinen Nachkommen verheißene Land eine zentrale Rolle.8 Gott sandte Abraham (Abram) aus dem Ur der Chal­däer und aus Haran in ein Land, „das ich dir zeigen werde“, wo Gott Abrahams Nachkommenschaft „zur einer großen Nation machen“ wollte (Gen 12,1.2). In diesem Land, dem Land Kanaan, schloss Gott mit Abraham einen Bund, indem er „dieses Land“ Abrahams Nachkommen gab (Gen 15,18).

Dabei wies Gott allerdings auch darauf hin, dass diese Nachkommen zuerst einmal 400 Jahre in einem anderen Land (Ägypten) wohnen würden, „denn [das Maß der] Schuld des Amoriters ist bis jetzt noch nicht voll“ (Gen 15,13-16). Gott erneuert diesen Bund später mit der Verordnung der Beschneidung, wobei er betont, dass es sich um einen „ewigen Bund“ handelt (Gen 17,13) und dass er Abraham und seinen Nachkommen „das Land deiner Fremdlingschaft gegeben“ habe, und zwar „das ganze Land Kanaan, zum ewigen Besitz“ (Gen 17,8). Vor der Rückkehr der Israeliten aus Ägypten weist Gott erneut auf diesen Bund hin, „ihnen das Land Kanaan zu geben, das Land ihrer Fremdlingschaft, in dem sie sich als Fremdlinge aufgehalten haben“ (Ex 6,4). Und auf der Wanderung zu diesem Land betont Gott: „Aber selbst auch dann, wenn sie in dem Land ihrer Feinde sind, werde ich sie nicht verwerfen und sie nicht verabscheuen, ein Ende mit ihnen zu machen, meinen Bund mit ihnen ungültig zu machen; denn ich bin Jahwe, ihr Gott“ (Lev 26,44).

Das Exil bedeutet Gericht über Israel auf Grund der Sünden des Volkes. Durch diese Sünden hat Israel „den ewigen Bund ungültig gemacht“ (Jes 24,5). Das bedeutet aber keineswegs, dass Gott den Bund seinerseits nun auch bricht bzw. ungültig macht. Vielmehr will Gott erneut „einen ewigen Bund“ mit dem Volk schließen (vgl. z. B. Jes 55,3; 61,8), und zwar „zur Zeit des Wohlgefallens“, wenn er das Land durch den kommenden Welterlöser „aufrichten“ will (Jes 49,8).

„Denn deine Trümmer­stätten, deine verödeten Orte und dein zerstörtes Land – ja, nun wird es dir zu eng werden vor [Menge an] Bewohnern; und die dich verschlangen, werden fernbleiben“ (Jes 49,19).

Gott wird Israel „noch einmal erwählen und sie in ihr Land setzen“ (Jes 14,1; vgl. auch z. B. Hes 37,11ff.). Dabei werden die Ausländer, die sich Jahwe anschließen werden, ebenfalls in das Volk integriert werden (vgl. z. B. Jes 14,1f.; 56,3.6; 61,4ff.).

Für diese Zeit verheißt Gott die Rückkehr Israels aus den Nationen (vgl. z. B. Jer 31,8; Hes 36,24; 37,11ff.; 39,28; Sach 8,7f.; vgl. zudem Lk 21,24-28). Das schließt die Wiederherstellung im verheißenen Land mit ein (vgl. z. B. Jer 16,15; 23,8; 24,6; 50,19; Hos 11,11),9 und zwar unter der Herrschaft Jahwes bzw. des Messias,10 der in Israel „König“ sein wird (vgl. z. B. Mi 4,7f.). Gemäß Hos 3,5 werden die Söhne Israels „danach umkehren und Jahwe, ihren Gott, und David, ihren König, aufsuchen und sich am Ende der Tage zitternd zu Jahwe und zu seiner Güte wenden“.

Israel soll unter dieser Herrschaft ein „Segens­zen­trum“ für den ganzen Erdkreis werden (vgl. z. B. Jes 19,24f.; Sach 8,13.20-23; 14,16; vgl. auch Röm 12,12ff.). Zu der Zeit wird es keinen Streit mehr um das „heilige Land“ geben.11

Die Wieder­herstellung Israels im verheißenen Land findet unter der Herrschaft des Messias als König Israels statt.

Für die erwähnte Zeit verheißt Gott den Israeliten, dass sie „in ihrem Land das Doppelte besitzen“ werden, weil ihre Schande „doppelt war“ (Jes 61,7; vgl. Sach 8,13). Als „Nachkommen der Gesegneten Jahwes“ (Jes 65,23), d. h. der Erzväter, denen Gott das Land verheißen hat (vgl. Gen 12,1-3; 24,31.35; 26,29), werden sie im verheißenen Land wohnen und den Segen Gottes an die Nationen weitergeben (vgl. auch Ps 37,22). Diesen Segen werden also auch die „Fremden“ und „Ausländer“ im Land Israel erleben, indem sie in Israel integriert werden (vgl. z. B. Jes 14,1; 56,6; 60,10; 61,4ff.; Sach 8,23). In Bezug auf diese Zeit verheißt Gott:

„Und ihre Nachkommen werden bekannt werden unter den Nationen und ihre Sprösslinge inmitten der Völker. Alle, die sie sehen, werden erkennen, dass sie Nachkommen sind, die Jahwe gesegnet hat“ (Jes 61,9).

Auch wenn „ewig“ in diesen biblischen Zusammenhängen nicht im Sinn von „zeitlos“ zu verstehen ist12, so ist doch zu beachten, dass die Wiederherstellung Israels im Land Israel bei den alttestamentlichen Propheten ein zentrales Thema ist. Dabei legt u. a. Hesekiel dar, dass diese Wiederherstellung zuerst „physisch“ und erst zu einem späteren Zeitpunkt geistlich geschehen wird (vgl. Hes 37,11ff.).

Die „nationale Wiedergeburt“ Israels

Gemäß Mt 19,28 sagte Jesus zu seinen Jüngern/Aposteln:

„Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, ihr werdet bei der Wiedergeburt, wenn der Sohn des Menschen auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen wird, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.“13

Es ist eine herausfordernde Frage, inwiefern die Verheißungen einer Wiederher­stellung Israels mit der Staatsgründung vor 70 Jahren verbunden werden können.

In Lk 22,29-30 ergänzt Jesus, dass er ihnen ein „Reich“ (eine „Königsherrschaft“) anvertrauen wird und „dass ihr an meinem Tisch in meinem Reich/meiner Königsherrschaft esst und trinkt und auf Thronen sitzt, die zwölf Stämme Israels zu richten“ (vgl. auch Offb 20,4). Jesus spricht offensichtlich von der „nationalen Wiederherstellung“ Israels, die mit seiner Wiederkunft zusammenhängt, wie sie Jesus auch anderswo zum Ausdruck bringt (vgl. z. B. Lk 19,11ff.; Apg 1,6f.), und nach Pfingsten hat auch der Apostel Petrus das verstanden (vgl. Apg 3,19-21). Eine herausfordernde und gleichzeitig schwerwiegende Frage ist nun, inwiefern die Wiederentstehung des Staates Israels vor 70 Jahren damit verbunden werden kann bzw. sollte.

Ben Gurion, der vor 70 Jahren den Staat Israel ausrief, bemerkte später:

„Die Wiedergeburt Israels war niemals und wird niemals auf die Wiedererlangung der Souveränität durch die jüdische Nation in lokalem Sinne eingeengt werden. Sie wird ihren vollständigen und wichtigsten Ausdruck in der Offenbarung ihres ewigen Geistes und in der Erfüllung ihrer historischen Mission für die Erlösung der gesamten Menschheit erhalten … Wir bauen einen Staat mit prophetischer Vision und mit messianischer Sehnsucht, als ein Beispiel und ein Modell für alle Menschen. Die Worte des Propheten sind für uns immer Wahrheit: ‚Ich werde dich zu einem Licht unter den Völkern machen, auf dass du meine Erlösung bis zum Ende der Welt sein wirst‘ [Jes 49,6].“14

In der Unabhängigkeitserklärung Is­raels wird betont, dass Israel „ein Staat wie alle anderen“ (d. h. ein demokratischer Staat) sein soll.15 Gleichwohl sollte Israel nach seinem Begründer und ersten Ministerpräsidenten Ben Gurion ein „Musterstaat“ sein, „ein Licht unter den Völkern“. Gemäß der Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948 wird der Staat Israel

„sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern, ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinigten Nationen treu bleiben.“16

Die spannende Frage der Gegenwart ist, inwiefern das heutige Israel primär ein „prophetischer Staat“ oder ein demokratischer Staat „wie alle anderen“ ist, bzw. nach welchen Maßstäben wir ihn messen sollten. Dabei sollte beachtet werden, dass die Wiederherstellung Israels im Sinn der göttlichen Verheißungen, u. a. wie wir sie im Buch Jesaja ausführlich vorfinden, durch den Welterlöser geschieht, und diese Verheißungen werden aus der Sicht des Neuen Testaments durch Jesus Christus erfüllt.

Wenn biblische Verheißungen auf den modernen Staat Israel bezogen werden, dann sollte der zentrale Aspekt beachtet werden, dass die Verheißungen durch Jesus Christus erfüllt werden.

Damit ist nicht gesagt, dass der moderne Staat Israels nichts mit biblischen Verheißungen zu tun hat. Wenn allerdings biblische Verheißungen auf den modernen Staat Israel bezogen werden, sollte der (zentrale) Aspekt beachtet werden.17 „Licht der Nationen“ wird Israel im Kontext der Verheißung von Jes 49,6 durch den kommenden Welterlöser sein. Durch ihn wird Israel „der Dritte mit Ägypten und Assur sein, ein Segen inmitten der Erde“ (Jes 19,24; vgl. auch Sach 8,13).

Natürlich kann und soll Israel heute schon ein Segen für die Welt sein. Aber noch mehr kann und wird Israel das sein, wenn die Israelis den Messias Jesus erkennen und durch ihn ein neues Leben empfangen (vgl. Röm 12,12-15.26f.). Denn auf alle Verheißungen Gottes hat Gott durch Jesus „das Ja“ und „das Amen“ (2 Kor 1,20) gegeben.

In dem Sinn betont Paulus, dass Gott seine Gnadengaben und seine Berufung nicht bereut (aufhebt) (Röm 11,29; vgl. auch u. a. Röm 11,11ff.). Nach Röm 11,28 sind die Mitglieder des Volkes Israel zwar „dem Evangelium gemäß Feinde wegen euch, gemäß der Auserwählung aber Geliebte durch die Väter“. Damit bringt Paulus zum Ausdruck, dass die Verheißungen Gottes, die er den Erzvätern für ihre Nachkommenschaft gegeben hat, bestehen bleiben (vgl. auch Röm 9,4f.; 11,1f.). Gleichzeitig betont Paulus, dass nur diejenigen, die im Glauben leben, zur tatsächlichen Erwählung gehören (vgl. Röm 9,6-8; 11,7).

Auch wenn in Römer 9 – 11 mit „Israel“ das ethnische Israel gemeint ist, macht doch Paulus eine Unterscheidung zwischen denen, die glauben und denen, die sich dem Glauben an Christus verschließen.

Übrigens herrscht in der Römer-Auslegung im deutschsprachigen Raum heute weitgehender Konsens darüber, dass in Röm 9–11 mit „Israel“ das ethnische Israel gemeint ist.18 Dabei macht Paulus jedoch eine Unterscheidung zwischen dem gläubigen Teil in Israel und denen, die sich dem Glauben (an Jesus Christus) gegenüber verschlossen haben.

Andererseits ist der Apostel überzeugt, dass am Schluss der ganze „Überrest“ zum Glauben an Jesus Christus kommen wird und dass Gott somit auch seine Bundes-Verheißungen an Israel erfüllen wird.19 Dieser „Überrest“ Israels ist offensichtlich in Röm 11,26 gemeint, wobei Paulus an eine Fülle von prophetischen Verheißungen anknüpfen kann. So betont Gott z. B. gemäß Jes 6,13, dass er durch das Gericht hindurch einen „Stumpf“ in Israel übriglassen will, und zwar als „heiligen Samen“ (vgl. z. B. Jes 4,2; 10,20ff.; 11,11; 28,5; Mi 4,6ff.; Sach 8,11f.). Es bleibt nicht bei einem Stumpf, wie z. B. Jes 60,21 betont: „Und dein Volk, sie alle werden Gerechte sein, werden das Land besitzen auf ewig, ein Schössling (nezer) seiner Pflanzung, ein Werk seiner Hände, sich zu verherrlichen“ (vgl. Jes 11,1). Oder Jes 45,25: „In Jahwe wird der ganze Same Israels gerecht sein und sich rühmen.“ Ermöglicht wird dieser Zustand durch das Leiden des verheißenen Welterlösers und durch seine Herrschaft in Israel (vgl. z. B. Jes 53,10-12; Jer 23,5f.).

Abschließende Gedanken

Abschließend möchte ich nochmals die Frage stellen, ob der moderne Staat Israel auf biblische Verheißungen zurückzuführen ist. Ich finde weder im Alten noch im Neuen Testament eine Grundlage dafür, u. a. die erwähnten biblischen Verheißungen zu „vergeistlichen“. Dabei ist zu beachten, dass es bereits im Alten Testament nicht um einen „einseitigen Zionismus“ geht. In dem Sinn betont Paulus, dass die an Jesus Christus gläubigen „Heiden“ in den „Ölbaum“ der Verheißungen „eingepfropft“ werden (Röm 11,17ff.) bzw. dass sie nicht mehr dem „Bürgerrecht Israels“ sowie den „Bündnissen der Verheißungen“ entfremdet sind (Eph 2,12). Trotzdem „gehören“ die Bündnisse und die Verheißungen Israel (vgl. Röm 9,4f.). Wenn Paulus nun in Bezug auf Israel von „ihrer Fülle“ spricht (Röm 11,12), so bezieht er sich damit offenbar auf Israels Wiederherstellung im Land Kanaan durch den kommenden Erlöser und Herrscher, wie sie im Alten Testament verheißen wurde (vgl. z. B. Jes 11,1ff.; Jer 32,40ff.; 47,2; Hes 36,24ff.; Sach 8,9ff.), und den damit verbundenen verheißenen geistlichen und materiellen Segen. Israel wird dann in Frieden, Gerechtigkeit und auch in wirtschaftlichem Wohlstand leben.

Gleichzeitig sollte beachtet werden, dass solche Verheißungen nicht Ungerechtigkeiten vonseiten Israels z. B. gegenüber den „Palästinensern“ rechtfertigen. Vielmehr sind sie in der Bibel eng mit der Verheißung von Frieden und Gerechtigkeit im Land verbunden. Sie sollten ebenfalls nicht dazu führen, Personen wie den US-Präsident Donald Trump zu verherrlichen, weil er Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennt20 – was eigentlich für alle (demokratischen) Länder selbstverständlich sein sollte, zumal Israel wie jedes andere Land das Recht hat zu entscheiden, welches die eigene Hauptstadt sein soll, und West-Jerusalem auch im internationalen Recht nicht umstritten ist.21 Gleichzeitig ist es wichtig, dass sich Pilger im Heiligen Land ein Bild von der tatsächlichen Realität im Land machen – eine Realität, die sicher komplex ist,22 jedoch in vieler Hinsicht nicht dem verzerrten Bild entspricht, das von vielen Medien verbreitet wird23. Und zum Schluss: Wer in dem Land der Bibel unterwegs ist, darf staunen über das, was der „Gott Israels“ in den letzten rund 100 Jahren getan hat und wie biblische Verheißungen angefangen haben, konkret Gestalt anzunehmen.

Wir können über Gottes Wirken in Israel staunen, ohne dabei Israel einseitig zu verherrlichen. Israel kann uns eine starke Bestätigung der Treue Gottes seinen Verheißungen gegenüber sein.

Statt über Israel-Theologien zu streiten, fangen wir doch an, über Gottes Wirken in Israel zu staunen und seine Herrlichkeit zu erkennen, ohne dabei Israel einseitig zu verherrlichen. Für mich als Christ und Theologen ist Israel heute eine starke Bestätigung der Treue Gottes seinen Verheißungen und seiner Berufung gegenüber, und wir dürfen gespannt sein, wie Gott weiter zu seinem Ziel gelangen wird.

Literatur

  • Baram, N., Im Land der Verzweiflung. Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete (Übersetzung: Markus Lemke), München: Hanser, 2016
  • Brenner, M., Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute, München: Beck, 2. Aufl. 2017
  • Dahl, N. A., Das Volk Gottes. Eine Untersuchung zum Kirchenbewusstsein des Urchristentums, Darmstadt: WBG, 1963
  • Eckert, W./Levinson, N. P./Stöhr, M., Jüdisches Volk – gelobtes Land. Die biblischen Landverheißungen als Problem des jüdischen Selbstverständnisses und der christlichen Theologie, München: Kaiser, 1970
  • Klappert, B., Die Wurzel trägt dich. Einführung in den Synodalbeschluss der Rheinischen Landessynode, in: B. Klappert/H. Strack (Hg.), Umkehr und Erneuerung. Erläuterungen zum Synodalbeschluss der Rheinischen Landessynode 1980 „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1980, S. 23–54
  • Kraus, W., „Eretz Israel“. Die territoriale Dimension in der jüdischen Tradition als Anfrage an die christliche Theologie, in: M. Karrer/W. Kraus/O. Merk (Hg.), Kirche und Volk Gottes (FS für Jürgen Roloff), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2000, S. 19–41
  • Mußner, F., Traktat über die Juden, München: Kösel, 1979 (neu erschienen bei Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009)
  • Rendtorff, R., Israel und sein Land. Theologische Überlegungen zu einem politischen Problem (Theologische Existenz heute 188), München: Kaiser, 1975; F.-W. Marquardt, Gottes Bundestreue und die biblischen Landverheißungen, in: W. Strolz (Hg.), Jüdische Hoffnungskraft und christlicher Glaube, Freiburg: Herder, 1971, S. 80–133
  • Schwarz-Friesel, Monika/Reinharz, Jehuda, Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert (Europäisch-jüdische Studien 7), Berlin: Walter de Gruyter, 2012
  • Thiessen, J., Biblische Glaubenslehre. Eine Systematische Theologie für die Gemeinde, Nürnberg: VTR, 2004
  • Thiessen, J., Gott hat Israel nicht verstoßen. Biblisch-exegetische und theologische Perspektiven in der Verhältnisbestimmung von Israel, Judentum und Gemeinde Jesu (EDIS 3), Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2010
  • Thiessen, J., Israel und die Gemeinde. Die Wiederherstellung Israels – eine hermeneutische und exegetische Herausforderung, Hammerbrücke: Jota, 4. Aufl. 2010 (1. Aufl. 2007
  • Thiessen, J., Auf Jesu Spuren im Heiligen Land. Historischer und theologischer Reisebegleiter, Ansbach: Logos Editions, 2018
  • Vieweger, D., Streit und das Heilige Land. Was jeder vom israelisch-palästinensischen Konflikt wissen sollte, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 5. Auf. 2015
  • Wallace, C. D., Foundations of the International Legal Rights of the Jewish People and the State of Israel: And the Implications for the proposed new Palestinian State, Lake Mary, Florida: Creation House, 2012
  • Wolffsohn, M., Wem gehört das Heilige Land? Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern, München: Piper, 14. Aufl. 2018

Der Artikel erschien zuerst im Juni 2018 in der STH Perspektive und wurde für Bibel und Gemeinde überarbeitet.


  1. Vgl. dazu Brenner, Israel, S. 132ff. „Bis heute wird Israel auch außerhalb orthodoxer Kreise in übernatürlicher Terminologie beschrieben“, stellt Brenner fest (ebd., S. 134). 

  2. Vgl. zum Folgenden auch Thiessen, Gott hat Israel nicht verstoßen, S. 134–137. 

  3. Vgl. zum Folgenden auch ebd., S. 31ff. 

  4. Vgl. dazu ebd., S. 116ff.; zu den verschiedenen Deutungen vgl. ebd., S. 117, Anm. 536. 

  5. Vgl. dazu auch u. a. Klappert, Wurzel, S. 23–54. 

  6. „Und so“ in Röm 11,26 ist nicht nur im Sinn von „danach“ und schon gar nicht im Sinn von „und dadurch“ (nämlich dass die Fülle der Heiden eingeht) zu verstehen, sondern im Sinn von „und als Folge davon“, wie der Ausdruck allgemein im Neuen Testament und besonders bei Paulus gebraucht wird (vgl. u. a. Apg 7,8; Röm 5,12; 1. Thess 4,17). Paulus betont in Röm 11,26, dass die Errettung von „ganz Israel“ als Folge davon, dass die Fülle der Heiden ins Volk Gottes eingegangen sein wird, geschehen wird, und zwar hängt diese Errettung offenbar eng mit der Wiederkunft Jesu zusammen (vgl. Röm 11,27). 

  7. Gemäß Jes 11,1 wird der kommende Welterlöser als Schössling (nezer) aus den Wurzeln Isaïs Frucht bringen. Die kommende Verherrlichung Israels nach den Verheißungen im Buch Jesaja hängen eng mit der Verherrlichung des verheißenen Welterlösers und damit auch mit der Beziehung Israels zu diesem Welterlöser zusammen. 

  8. Vgl. dazu und zum Folgenden Thiessen, Gott hat Israel nicht verstoßen, S. 160ff.; Eckert/Levinson/Stöhr, Jüdisches Volk – gelobtes Land, 1970; Rendtorff, Israel und sein Land, 1975; Marquardt, Gottes Bundestreue, S. 80–133; Kraus, „Eretz Israel“, S. 19–41. 

  9. Vgl. auch Dahl, Volk Gottes, S. 39: „Der beherrschende Gedanke ist aber, dass der neue Exodus und der neue Bund auf eine neue Landnahme hinzielt.“ 

  10. Vgl. dazu auch u. a. Mußner, Traktat über die Juden, S. 30; vgl. zudem Dahl, Volk Gottes, S. 40ff. 

  11. Zur Frage nach der heutigen Bedeutung der göttlichen Landverheißung an Israel vgl. auch Thiessen, Auf Jesu Spuren, S. 193ff. 

  12. Das hebräische Wort ‘olam, das im Neuhebräischen im Sinn von „Welt“ gebraucht wird, bezeichnet im Alten Testament oft die Zeit dieser Welt, d. h. die Zeit bis zur Vollendung aller Dinge. Die Wurzel des Wortes hat die Bedeutung „verborgen sein“. 

  13. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Thiessen, Gott hat Israel nicht verstoßen, S. 149ff. 

  14. Brenner, Israel, S. 140f. 

  15. Vgl. auch ebd., S. 135: „Der israelischen Unabhängigkeitserklärung, die ganz klar die Gleichheit aller Staatsbürger, egal welcher Nationalität oder Religion garantiert, kommt bis heute ein großer Stellenwert zu, da der Staat niemals eine Verfassung erhielt.“ 

  16. Zitiert nach Vieweger, Streit und das Heilige Land, S. 162. 

  17. Übrigens spricht sogar der Koran das „Heilige Land“ den Juden zu (vgl. z. B. Sure 5,20f.; 10,94; 14,4-16; 21,72ff.; 24,56; 26,58; vgl. dazu auch u. a. Wolffsohn, Wem gehört das Heilige Land?, S. 43–47). So lesen wir z. B. in Sure 10,94: „Wir hatten den Kindern Israels eine dauerhafte Wohnung [im Land Kanaan] bereitet.“ 

  18. Vgl. dazu auch Thiessen, Israel und die Gemeinde, S. 47ff.; ders., Gott hat Israel nicht verstoßen, S. 31ff. 

  19. In Röm 9,27 und 11,5 ist der vorläufige „Überrest“ gemeint. 

  20. Am 6. Dezember 2017 verkündete Präsident Trump, die Botschaft der USA in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen zu wollen und Jerusalem damit offiziell als Hauptstadt Israels anzuerkennen. Dieses Versprechen wurde inzwischen eingelöst; andere Länder wie Guatemala und Paraguay folgten. Trotzdem ist nicht Dunald Trump der „Friedefürst“, wie er z. B. in Jes 9,5f. verheißen wird. 

  21. Zur internationalen rechtlichen Lage Israels vgl. Wallace, Foundations, 2012 (das Buch soll demnächst auch in deutscher Übersetzung erscheinen). Auf der folgenden Internetseite findet man einen interessanten Vorschlag zur Lösung des Land-Problems in Israel: http://www.federation.org.il. Zu den Hintergründen der Problematik vgl. u. a. Brenner, Israel, 2. Aufl. 2017; Vieweger, Streit um das Heilige Land, 5. Aufl. 2015; Wolffsohn, Wem gehört das Heilige Land?, 14. Aufl. 2018. 

  22. Zur Situation unter den nicht ganz einfachen Bedingungen im Land Israel vgl. Baram, Im Land der Verzweiflung, 2016. 

  23. Vgl. dazu Schwarz-Friesel/Reinharz, Sprache der Judenfeindschaft, 2012.