ThemenGelebte Bibeltreue, Kultur und Gesellschaft, Zeitgeist und Bibel

In der Welt – nicht von der Welt

Die christliche Gemeinde findet in der jeweiligen Kultur statt, in der Menschen zum Glauben an Christus fanden. Einerseits werden etablierte kulturelle Elemente in das christliche Leben übernommen und integriert, andererseits aber wird der christliche Glaube die bestehende Kultur auch kritisch hinterfragen. Manches werden Christen verändern, anderes durch ganz Neues ersetzen und auf einzelnen Gebieten werden vielleicht neue kulturelle Bereiche erschaffen. Die Entwicklung der westlichen Gegenwartskultur fordert Christen gegenwärtig wieder neu heraus, sich der Aufgabe der Kulturkritik zu widmen.

Der Begriff „Kultur“ umfasst im weitesten Sinne jeden Umgang des Menschen mit dem, was ihm Gott in der Schöpfung vorgegeben hat. Der Mensch soll bebauen und bewahren, was Gott ihm anvertraut hat, und das wird er auf eine bestimmte Weise tun. Gott macht es selbst vor und „pflanzt einen Garten“ in Eden. Menschen entwickeln Regeln für Ackerbau und Viehzucht. Sie „erfinden“ das Musizieren und bilden Systeme von Regeln und Gewohnheiten, die ihr Zusammenleben und Verhalten bestimmen. So entstandene kulturelle Systeme sind natürlich nicht wertneutral, sondern müssen an den biblischen Geboten und Gottes Maßstäben gemessen werden. Christen haben in der Vergangenheit die westliche Kultur entscheidend mitgeprägt. In neuerer Zeit ist eher der Eindruck entstanden, dass der Einfluss der Christen abgenommen hat. Die christliche Gemeinde hat sogar teilweise ihre Werte aufgegeben und sich der Gegenwartskultur angepasst, ohne kritisch genug zu hinterfragen, was sie dabei übernimmt.

Im Folgenden gebe ich einige Beo­bach­tungen und Thesen von Timothy Keller und Rod Dreher wieder, die als hilfreiches Denkfutter dienen können, um die Herausforderungen anzunehmen, die sich aus den Konflikten mit der gegenwärtigen Kultur ergeben.

Der entscheidende Wandel

Timothy Keller ist überzeugt, dass hinter vielen theologischen Streitigkeiten die Frage steckt, wie sich Christen zur Kultur verhalten sollten. Während die Generation meines Großvaters und meines Vaters, geboren zwischen 1920 und 1950, noch auf eine Umgebung mit christlichem Vorwissen abstützen konnte, leben wir heute in einem kulturellen Kontext, in der die Botschaft des Evangeliums zunehmend unverständlicher wird. Es ist nötig, zuerst über Existenz und Wesen Gottes sowie der Bibel und eine christliche Sicht auf Welt und Leben zu sprechen. Das heißt, es drängt sich uns im frühen 21. Jahrhundert automatisch die Frage auf, in welcher Art wir unsere Beziehung zur umgebenden Kultur gestalten sollten.1

Die Vernachlässigung der Reflexion über den Umgang mit der umgebenden Kultur hat zur Folge, dass Christen trotz gegenteiliger Absichten die Werte ihrer Kultur unkritisch übernehmen.

Ganz anders sind unsere Väter und Großväter geprägt. „Kultur war schlicht kein Thema. Die Beschäftigung damit galt als Ablenkung vom Eigentlichen.“ Es wurde seinerzeit dazu aufgefordert, „möglichst zahlreich in den vollzeitlichen Dienst zu gehen, um die Welt zu evangelisieren“. Dies trifft auch für die pietistisch geprägte Gemeindelandschaft des deutschsprachigen Raumes zu. Die Vernachlässigung der Reflexion über den Umgang mit der Kultur hatte zur Folge, dass Gemeindeglieder anfingen, „unkritisch die Werte ihrer Kultur zu übernehmen“. So passten sich Christen trotz gegenteiliger Absichten und heiliger Beteuerungen an die Kultur an. In den USA entstanden zeitgleich zwei unterschiedliche Reaktionen: Die Religiöse Rechte versuchte, „die Kultur offensiv zu verändern, während die sucherorientierte Bewegung die Christen“ dazu aufrief, kulturrelevant zu sein. Auf diese beiden Bewegungen der 70er- und 80er-Jahre folgte die Generation der „Emerging Church“, die sowohl die kulturelle Gleichgültigkeit des Pietismus, den Triumphalismus der Religiösen Rechten als auch den Mangel gedanklicher Tiefe der sucherorientierten Gemeinde ablehnten.

Vier theologische Modelle

Keller unterscheidet zwischen vier Modellen2 als Reaktion auf die kulturelle Krise der Evangelikalen:

  • Transformationsmodell

Nach diesem Selbstverständnis sollten die Christen in jedem Lebensbereich „ausdrücklich als Christen denken und handeln, denn alles kulturelle Handeln setzt (zumindest implizit) ein System religiöser Überzeugungen voraus.“ Wenn sie sich ihrer christlichen Überzeugungen bewusst sind, werden diese „alles prägen, was ich im Leben tue. Mein Beitrag in der Kultur wird die Gesellschaft in eine bestimmte Richtung bewegen und ich werde damit die Kultur verändern.“ Das Erlösungswerk Christi wird sowohl auf das individuelle Seelenheil wie auch auf die Erneuerung der materiellen Welt bezogen.

  • Relevanzmodell

Christsein wird in diesem Denkrahmen als grundsätzlich kompatibel mit der umgebenden Kultur betrachtet. „Seine Vertreter glauben, dass Gott auch in solchen kulturellen Bewegungen erlösend wirkt, die gar nichts ausdrücklich mit dem christlichen Glauben zu tun haben.“ Die Ethik der Kultur wird mit der Ethik des Evangeliums „synthetisiert“, anstatt die Ethik der Kultur durch das Evangelium zu transformieren. „Die Welt gibt der Gemeinde ihre Agenda vor.“

  • Modell der Gegenkultur

Vertreter dieser Richtung „sagen geradeheraus, dass keine dauerhafte Verbesserung der Gesellschaft zu erwarten ist, und hegen wenig Hoffnung, dass die Kultur entsprechend christlicher Werte transformiert werden könnte.“ „Das Beste, was die Gemeinde für die Welt tun kann, ist, ihr das Reich Christi zu zeigen – und zwar am ehesten durch Gerechtigkeit und Frieden innerhalb ihrer Gemeinschaft.“ „Gemeinde ‚fördert‘ weder das Reich Gottes noch ‚baut‘ oder ‚bringt‘ sie es, sondern ist ein Zeichen für das künftige Reich.“

  • Zwei-Reiche-Lehre

Nach diesem Modell existiert ein doppelter Rahmen für Gottes Herrschaft. Auf der einen Seite gibt es das ‚weltliche Reich‘, das durch den Bund mit Noah in 1. Mose 9 errichtet worden ist. Neben diesem weltlichen gibt es das ‚geistliche Reich‘, das durch den Bund mit Abraham in 1. Mose 12 begründet wurde. Christen sollten nicht versuchen, ihre Tätigkeit auf eine besonders christliche Art und Weise zu gestalten. Der säkulare, neutrale Staat ist „von Gott gewollt – aber gerade nicht als der Verordner religiöser Werte“.

Verbindung der Modelle als Weg

Die erlösende Gnade schafft Denken und Sprechen, Kunst und Wissenschaft, Wirtschaft und Finanzen nicht ab, sondern erneuert, was verloren gegangen ist.

Keller schlägt eine übergeordnete Evaluation vor.3 Diese ist von zwei Grundfragen geleitet: „Sollen wir die Möglichkeit zur Veränderung der Kultur eher pessimistisch oder optimistisch sehen? … Ist die gegenwärtige Kultur an sich gut und offen für Erlösung oder grundlegend gefallen?“ Hier spielt wiederum das Metanarrativ der biblischen Heilsgeschichte von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung eine entscheidende Rolle. „Während uns … die Lehre von der Schöpfung die Güte der Arbeit und der sogenannten säkularen Berufe vor Augen führt und uns eine Vision für den Aufbau von Kultur vermittelt, bewahrt uns die Lehre vom Sündenfall vor utopischem Größenwahn.“ Die erlösende Gnade „schafft Denken und Sprechen, Kunst und Wissenschaft, Theater und Literatur, Wirtschaft und Finanzen nicht ab, sondern erneuert und ersetzt, was verloren gegangen ist.“

Das Reich Gottes, ein Schlüsselbegriff für unser Thema, umfasst a) hauptsächlich „die verfasste Gemeinde, deren Hauptaufgabe darin liegt, durch Wort und Sakrament Menschen zu gewinnen und in ein Leben als Jünger Jesu einzuführen“ und b) das Leben von Christen in der Gesellschaft zur Ehre Gottes. Keller sieht unser Verhalten „unter gleichzeitiger und ständiger Kontrolle“ durch die ganze Bibel. Das bedeutet, sich des eigenen Standortes und dessen Schwächen bewusst zu werden.

Zuerst soll aus den vier Modellen die Mitte gesucht werden: Der Christ nimmt Abschied von Egoismus und Selbstgerechtigkeit und dient in seiner Umgebung. Er denkt und lebt in allen Lebensbereichen auf eine spezifisch christliche Weise. Er sieht die Gemeinde als besten Platz für die Entwicklung einer christlichen Weltsicht und das Wirken in der Welt. Ebenso legt er Wert auf sichtbare Qualitätsarbeit in seinem Beruf.

Es ist zu bedenken, dass die westliche Kirche sich im Herbst einer Kultur befindet, die die Relevanz des Glaubens in Frage stellt.

Dabei ist zu bedenken, in welcher „Jahreszeit“ sich die Gemeinde seines Landes und seiner Zeit befindet: Im Winter einer schwer angefochtenen und geistlich schwachen Gemeinde; im Frühling einer verfolgten und wachsenden Gemeinde; im Sommer einer hoch angesehenen Kirche oder im Herbst einer Kultur, welche die Relevanz des Glaubens zunehmend in Frage stellt.

  • Den eigenen Standpunkt erkennen

Der Einzelne bleibt sich bewusst, dass er aufgrund seiner Biografie und seiner Gaben ein bestimmtes Modell bevorzugt. In meinem eigenen ist dies die kindliche Prägung durch das Modell der Gegenkultur sowie die bewusste Wahl eines gemäßigt transformatorischen Ansatzes neocalvinistischer Prägung. Überreaktionen aufgrund von eigenem Erleben führen je nach Lebensphase zu bestimmten Reaktionen und Übertreibungen. Bei mir war das in den jungen Erwachsenenjahren die Übernahme einer moderaten Form des Relevanzmodells. Es ist zudem zwischen Grund­posi­tion (Hal­tung) und der be­wussten Übernahme von Elementen anderer Modelle (Gesten) zu differenzieren. Meine eigene Grundposition ist, wie gesagt, eine moderat-transfor­ma­torische, wobei ich jedoch vor allem Elemente des Modells der Gegenkultur, aber auch des Relevanzmodells integrieren will.

Ein Modell einer Gegenkultur neu bedacht

Rod Dreher, Jahrgang 1967, möchte mit seinem Buch Die Benedikt-Option: eine Strategie für Christen in einer nachchristlichen Gesellschaft die Alarmglocken läuten und uns Christen aufzeigen, dass größte Gefahr von der liberalen, säkularen Ordnung ausgeht, die wir übernommen haben, und wir eine Gegenkultur entwickeln sollten.

„(G)erade der Umstand, dass wir das nicht verstehen, hält uns in unserer kulturellen Geiselhaft fest und fördert die unaufhaltsam scheinende Assimilation der nächsten Generation.“ (372)

2017 sorgte dieses Buch für Furore in den USA. Jetzt wurde es vom katholischen fe-medienverlag in der deutschen Übersetzung herausgebracht4. Dreher schreibt als Journalist. Das entlastet den Text von komplizierten philosophischen Überlegungen, macht ihn auf der anderen Seite natürlich auch verwundbarer für Einwände. Der Autor übernimmt die Position eines verantwortungsbewussten Gesellschaftskritikers. Das heißt, er bezieht sich selbst, z.B. als Mann zum Thema Sexualität, als dreifacher Familienvater zum Thema Bildung oder als Berufstätiger zur Technologie mit ein. Dabei möchte er nicht in Alarmismus verfallen (keine „handelsübliche Wehklage über den Untergang des Abendlandes“, 19), sondern nüchtern Thesen begründen und Handlungsoptionen ableiten.

„Die Realität unserer Situation ist in der Tat alarmierend, aber wir können es uns nicht leisten, in eine Untergangshysterie zu verfallen. Es steckt ein verborgener Segen in dieser Krise, wenn wir sie nur wahrhaben wollen.“ (41)

Dreher ist es ein Anliegen, nicht von der anderen Seite vom Pferd zu fallen:

„Wenn eine Gemeinschaft die Disziplin zu sehr schleifen lässt, löst sie sich auf. Wenn sie aber zu starr ist, macht sie die Leute wahnsinnig.“ (125)

Bei seiner Entfaltung einer neuen christlichen Gegenkultur sieht er die Christen vor allem von der Gegenwartskultur durch Sex und Technologie eingesackt. Weshalb? Die sexuelle Revolution hat der christlichen Lehre über die menschliche Person „einen Hieb versetzt … und … die grundlegende christliche Konzeption von Gesellschaft, Familie und menschlicher Natur niedergerissen“ (319). Die Kirche ist diesem radikalen Wechsel nicht entschieden genug entgegen gestanden, sondern hat ihn zeitverzögert übernommen.

„Seit Generationen hat die Kirche es weitgehend kampflos zugelassen, dass die säkulare Kultur die Jugendlichen in ihrem Sinn katechisiert hat.“ (310)

Der zweite Dammbruch ereignete sich auf dem Gebiet der Technologie.

„Technologie zu nutzen bedeutet, an einer kulturellen Liturgie teilzunehmen, die uns, wenn wir nicht aufpassen, daran gewöhnt, die zentrale These der Moderne zu akzeptieren: dass der einzige Sinn, den es in der Welt gibt, derjenige ist, den wir selbst … den Dingen zuschreiben.“

„Technologie zu nutzen bedeutet, an einer kulturellen Liturgie teilzunehmen, die uns, wenn wir nicht aufpassen, daran gewöhnt, die zentrale These der Moderne zu akzeptieren: dass der einzige Sinn, den es in der Welt gibt, derjenige ist, den wir selbst … den Dingen zuschreiben.“ (346)

„Durch die Brille der Technologie sehen wir nicht die Realität, sondern sehen nur uns selbst. …. Wenn Gefühl die Realität definiert, ist Kontemplation nutzlos, Widerstand. Wenn wir so leben, als wäre Langeweile das größte Übel, werden wir nicht in der Lage sein, uns zu wehren.“ (370)

  • Die Einschätzung: Wo wir geschichtlich stehen

Dreher basiert seine gesellschaftliche Analyse auf fünf geistesgeschichtliche Veränderungen, die er in Kapitel 2 („Die Wurzeln der Krise“) beschreibt, nämlich

  1. Den Verlust des integralen Zu­sam­men­hangs zwischen Gott und Schö­pfung. Unsere Beziehung zur Welt wird nicht mehr durch die Beziehung zu Gott vermittelt (und umgekehrt). Dafür müssen wir den Dingen aus uns selbst heraus einen Sinn geben. Der letztgültige Sinn ist nicht mehr in einer transzendenten Ordnung verbürgt.
  2. Den Zusammenbruch religiöser Einheit durch die Reformation: „Keiner der Reformatoren befürwortete eine private Schriftauslegung, aber es fehlte ihnen an einem überzeugenden Instrumentarium, um festzulegen, wessen Interpretation die richtige war.“ (61)
  3. Die Aufklärung mit dem Kult der Vernunft und Privatisierung des Glaubens. Die Wissenschaft funktionierte eigenständig, ohne theologische Auseinandersetzung. Der Mensch durchdrang in eigenem Interesse die Schöpfung, um sein Leben zu verbessern. „Im Kern war die Aufklärung der Versuch europäischer Intellektueller, eine von der Religion unabhängige gemeinsame Basis dafür zu finden, wie moralische Wahrheit zu definieren sei.“ (65)
  4. Industrielle Revolution und Kapitalismus. „Progressive Kräfte verdrängten das religiöse Establishment aus den Universitäten und den anderen führenden Institutionen.“ (73)
  5. Sexuelle Revolution: „Das Streben nach Glück war keine Suche nach Einheit mit Gott und keine aufopferungsvolle Hingabe an ein Ziel, das größer ist als wir selbst, sondern vielmehr eine Suche nach Befriedigung des Selbst.“ (75)

An dieser Stelle ließe sich natürlich diskutieren, ob dies wirklich die entscheidenden Wendepunkte der Ideengeschichte sind bzw. ob die Veränderungen zutreffend erfasst worden seien. Das geht jedoch über das Ziel des Buches hinaus. Es ist für uns wichtiger, die Frage zu bedenken, wie er die Auswirkungen auf die Kirche sieht.

  • Wie das säkulare Denken die Kirche angesteckt hat

Rod Dreher liefert eine schonungslose Analyse, wie die Kirchen in den letzten Jahrzehnten weithin auf die Entwicklung der Gegenwartskultur reagiert haben:

„Die Veränderungen, die den Westen in der modernen Zeit ergriffen haben, haben absolut alles revolutioniert – sogar die Kirche, die nicht mehr Seelen formt, sondern Egos verpflegt.“ (26)

Es geht hauptsächlich darum, «das eigene Selbstwertgefühl und das subjektive Glücksempfinden zu steigern und gut mit anderen auszukommen». (28) Der Westen hat «das Begehren spiritualisiert und sich einem säkularen ‘Evangelium der Selbsterfüllung’ verschrieben.» (76) So ähnlich hatte allerdings schon Benedikt von Nursia (480-547), Begründer des Bene­dik­tinerordens und Verfasser der benediktinischen Regel, nach dem Untergang des römischen Imperiums seine Zeitgenossen beschrieben: „Immer unterwegs, nie beständig, sind sie Sklaven ihres Eigenwillens.“ (112)

Die strikte Orientierung am Selbst wirkte sich desaströs für die Gemeinschaft aus. „Die Wurzel­losigkeit des zeit­genös­sischen Lebens hat Gemeinschafts­bin­­dungen ausfransen lassen.“ Die Konsum­haltung des Einzelnen der Gemeinschaft gegenüber „reproduziert die Fragmentierung, die die Christenheit in der gegenwärtigen Welt erschüttert.“ (115)

Diese pointierte Analyse entspricht jedoch nicht dem Selbstbild der meisten Kirchen:

„Viele Kirchen, die weiterhin offen bleiben, werden von einer heimtückischen Art von Säkularismus ausgehöhlt, der dazu führt, dass dort eine Version von Christentum gelehrt wird, der jedwede Kraft und Lebensfähigkeit fehlt.» (27)

„Deine Kirche könnte im Begriff sein, Selbstmord zu begehen, und dabei gar nicht bemerken, was sie tut.“

„Deine Kirche könnte im Begriff sein, Selbstmord zu begehen, und dabei gar nicht bemerken, was sie tut. Oberflächlich mag alles tadellos aussehen, aber tief im Innern bildet vielleicht ein Krebsgeschwür Metastasen in ihren Knochen, deren Brüchigkeit auf schmerzhafte Weise offenbar werden wird, wenn es zur Bewährungsprobe kommt.“ (163)

Die Bindung der gegenwärtigen Kirche zur Geschichte (der Kirche) scheint weitgehend gekappt, so dass dieses Korrektiv entfällt. Im Hinblick auf die Evangelikalen schreibt Dreher: «Es ist nicht etwa so, dass das evangelikale Christentum die grundlegenden theologischen Schriften der frühen Christenheit ablehnen würde, … sie werden einfach nie erwähnt.» (168) Ein psychologisiertes Christentum ohne tiefe vertikale und horizontale Bindungen wird deshalb vom Strom der Zeit mitgerissen.

„Wenn keine wirkliche Teilhabe am Ewigen stattfindet – das heißt, wenn wir die Materie, und letzten Endes auch die Zeit, nicht als fest verwurzelt in der Realität Gottes begreifen -, dann kann das Leben der Kirche schwerlich dem reißenden Strom der liquiden Moderne standhalten.“ (175)

Der Komfort schmeichelt und betäubt. Wir leben in einer Zeit und an einem Ort „unvorstellbarer Annehmlichkeiten …, dem es aber zugleich an Bedeutung und Zusammenhang mangelt. Der Westen hat den goldenen Faden verloren, der uns mit Gott, der Schöpfung und einander verknüpft.“ (84)

Dreher hält es für notwendig, dass es zu wesentlichen Veränderungen in den Kirchen kommen muss, die sie zu ihren Wurzeln zurückführt:

„Wenn die heutigen Kirchen das neue dunkle Zeitalter überleben wollen, müssen sie aufhören, ‘normal zu sein.’“ (166)

„In dem Maß, wie die Kirche ihr kulturelles Ansehen verliert, wird sie frei, in ihrer Glaubenstreue radikaler zu werden.“ (165)

Ich übersetze diese For­de­rung auf europäische Ver­hältnisse: Nur in dem Maß, wie sie sich nicht mehr anzubiedern sucht, kann die Kirche zu ihren Wurzeln zurückkehren.

Dies hat Konsequenzen für den Alltag: So sind z.B. Selbstbeherrschung und Verzicht wieder gefragt:

„Ein Christ, der Askese praktiziert, übt sich darin, Nein zu den eigenen Begierden und Ja zu Gott zu sagen. Diese Einstellung ist in der modernen Zeit im Westen so gut wie verschwunden.“ (109)

Wer nicht bereit ist, um des Besseren und der wahren Freude willen Selbst­b­eherrschung zu üben, hat eine wichtige Dimension der Heiligung nicht erkannt.

Ich füge aus der Perspektive des Evangeliums hinzu: Wer nicht bereit ist, um des Besseren und der wahren Freude willen Selbstbeherrschung zu üben, hat eine wichtige Dimension der Heiligung nicht erkannt. Nun haben wir den Rubikon von der Analyse zu den Handlungsfeldern bereits überschritten.

  • Eine neue Denk- und Lebensart

Es geht Rod Dreher um eine Denk- und Lebensart nach der Art der Benediktiner-Mönche. Er möchte die christliche Kirche keineswegs zum Kloster machen, sondern umgekehrt die Philosophie des Benedikt von Nursia für die heutige Gemeinschaft fruchtbar machen. Dreher ist davon überzeugt, auf diese Weise nicht länger zu versuchen, der Flut zu widerstehen, sondern eine Arche zum Schwimmen zu bauen (31). Er war zu diesem Zweck in der heute bestehenden Benediktinerabtei in Nursia, die von manchen US-amerikanischen Patres bevölkert wird.

Bei der inneren und äußeren Ordnung geht es darum, das eigene Herz darin zu üben, das Richtige und Wahre zu lieben und zu begehren, ohne ständig darüber nachdenken zu müssen.

Die Benedikt-Option, die seinem Buch den Namen gab und die er aus seinen Studien entwickelt hat, ist eine „Strategie, die sich auf die Autorität der Schrift und die Weisheit der Alten Kirche beruft, um eine Art ‚innere Emigration‘ anzunehmen und dadurch eine lebendige Gegenkultur zu bilden.“ (40)

Wie eine aktuelle Benedikt-Regel aussehen kann, wenn man sie auf das Leben von Christen außerhalb eines Klosters überträgt, beschreibt der Autor in Kapitel 3 („Eine Regel zum Leben“):

  1. Ordnung: Es beginnt mit der Wiederherstellung der inneren Ordnung. „Dabei, das eigene Tun zu ordnen, geht es letztlich darum, das eigene Herz darin einzuüben, das Richtige, das Wahre zu lieben und zu begehren, ohne darüber nachdenken zu müssen. Es geht darum, sich Tugend als Gewohnheit anzueignen.“
  2. Gebet: Zur Ordnung gehört das anhaltende Bewusstsein von Gottes Gegenwart. Nach Marshall McLuhan beginnt Glaubensabfall oft damit, dass die betreffende Person aufhörte zu beten (104).
  3. Arbeit: „Gute Arbeit ist Frucht eines gesunden Gebetslebens. … Die Arbeit muss nicht uns dienen, sondern Gott und Gott allein.“ (104-105) Durch Arbeit wird Gottes Herrschaft im Leben der Einzelnen verwirklicht.
  4. Askese: Einer Gesell­schaft, die nicht mehr Selbst­be­herr­schung übt, tut ein Einüben in körperliche Härten gut. „Ein Christ, der Askese praktiziert, übt sich darin, Nein zu den eigenen Begierden und Ja zu Gott zu sagen.“ (109)
  5. Beständigkeit „veran­kert dich und gewährt dir eine Freiheit, die darin besteht, nicht dem Wind, den Wellen und den Strömungen des täglichen Lebens unterworfen zu sein“. Stabilität ist das Gegengift zur unablässigen inneren Suchbewegung zur Glücksmaximierung.
  6. Gemeinschaft: Das Zu­sam­menleben schafft die Bedin­gung für gegenseitige Korrektur. Konflikte lehren, sich mit der eigenen Gebrochenheit auseinanderzusetzen.
  7. Gastfreundschaft: Es geht nicht darum, für sich selbst zu leben, sondern Außenstehenden zu dienen.
  8. Ausgewogenheit: Es gilt darauf zu achten, nicht obsessiv streng zu werden, autoritären Machtstrukturen vorzubeugen. Dies wäre höchst schädlich für die Gemeinschaft.

Der Rest des Buches besteht aus der Anwendung dieser Prinzipien auf verschiedene Lebensbereiche. Denn: „Wie auch immer die Umstände sein mögen, ein Christ kann nicht in Treue leben, wenn Gott nur einen Teil seines Lebens ausmacht, ausgeklammert vom übrigen Leben. Letztendlich steht entweder Christus im Mittelpunkt unseres Lebens oder das Selbst und die Götzen, die es errichtet.“ (127)

  • Handlungsfelder Politik, Kirche, Dorf, Bildung und Arbeit

„Wir werden eine tiefere Hingabe an unseren Glauben entwickeln müssen, und wir werden das in einer Weise tun müssen, die in den Augen der Zeitgenossen sonderbar erscheint“.

Ich gebe einen summarischen Einblick in einige Ideen zum Leben der Gegenkultur.

  1. Politik: Die US-Amerikaner müssen sich daran gewöhnen, dass die Christen politisch an den Rand gedrängt werden. Wir Europäer haben uns längst daran gewöhnt. Uns gilt deswegen die Mahnung. „Die Kirche darf sich nicht vor ihrer Verantwortung scheuen, für politische Führerpersönlichkeiten zu beten und prophetisch zu ihnen zu sprechen.“ (137)
  2. Kirche: „Wir werden eine tiefere Hingabe an unseren Glauben entwickeln müssen, und wir werden das in einer Weise tun müssen, die in den Augen der Zeitgenossen sonderbar erscheint. Indem wir die Vergangenheit neu entdecken, den Sinn für Liturgie und Askese zurückgewinnen, unser Leben auf die kirchliche Gemeinschaft ausrichten und die kirchliche Disziplin festigen, werden wir, mit Gottes Gnade, wieder zu den eigenartigen Leuten werden, die wir immer hätten sein sollen.“ (166)
  3. Dorf: Dreher sieht das Zuhause als häusliches Kloster. „Erzieh‘ deine Kinder so, dass sie wissen, dass ihre Familie anders ist als andere – und dass das nichts ist, wofür man sich entschuldigen müsste.“ (205) Dennoch darf die Familie nicht zum Selbstzweck und damit zum Götzen werden. Dreher empfiehlt, in der Nähe anderer Gemeindeglieder zu leben und sich dazu auch nicht davor zu scheuen umzuziehen.
  4. Bildung: „Bildung und Erziehung müssen im Zentrum des christlichen Überlebenskampfs stehen.“ (233) Dreher wird sehr konkret und empfiehlt die Gründung von privaten christlichen Schulen, und dies bis zu einer Strategie für Hochschulbildung. Wir Europäer sollten (wieder) beginnen, uns aktiv Gedanken darüber zu machen.
  5. Arbeit: Die Bereitschaft zu harter Arbeit unter sich verschlechternden Bedin­gungen ist eine weitere Folge eines veränderten Denkens. Es gilt zurückzustecken und auch in unattraktive Gebiete zu ziehen.

Denkfutter heißt Weiterarbeiten

Bereits die Überlegungen von Timothy Keller zeigen, wie notwendig es ist, das Thema „Christlicher Glaube und Kultur“ zu bearbeiten. Dabei geht es einerseits darum, dass wir uns nicht gedankenlos an die uns umgebende Kultur anpassen. Andererseits können wir dem Anpassungsdruck nur widerstehen, wenn wir selber gesunde Alter­nativen für unsere Zeit aus dem Evan­gelium und einer biblischen Ethik und Weis­heit entwickeln. Rod Dreher legt einen Entwurf vor, der aus der Perspektive des katholischen Amerikaners geschrieben ist. Dass solche Entwürfe eine kulturelle Färbung haben, liegt in der Natur der Sache. Darum wäre sehr bequem, das Etikett „zu amerikanisch“ auf diese Gedanken zu kleben und das als Vorwand zu nehmen, um es wegzulegen. Die Grundgedanken der Analyse treffen auf Europa m.E. sogar noch stärker zu. Das Bewusstsein dafür verbindet sich bei mir mit dem Unbehagen, dass es bei uns für ein Umdenken schon zu spät sein könnte.

Dies führt mich zum nächsten Einwand: Ermutigt Dreher nicht zur Weltflucht? Nur eine oberflächliche Betrachtung mag dies zu bejahen. Die – zugegeben ungemütliche – Konkretisierung konfrontiert uns mit der Mahnung, nicht mehr wegzuschauen, sondern zu handeln. Es geht um das Leben einer Gegenkultur. Das mutige Anderssein wird uns zahllose Gelegenheiten zum Zeugnis und zum Handeln in unserem direkten Umfeld geben.

Allerdings, und hier setzt mein we­sent­licher Kritik­punkt an Dreher ein, kann dies nicht ohne die Kraft des Evangeliums geschehen. Dreher betont zwar, dass sein Buch keine Formulierung des Evangeliums sein solle, sondern nur eine Strategie zur Umsetzung anbiete. Aber ohne die Entfaltung des Evangeliums und die direkte Ableitung konkreter Schritte aus dem Evangelium fehlt am Ende die konkrete Verknüpfung aller Lebensbereiche mit diesem Kraft-Reservoir.

Ohne das Evangelium mit seiner Kraft besteht die Gefahr, dass eine Gegenkultur nur dazu führt, dass wir uns selbst nur zu Moralisten mit einem neuen Farbton entwickeln.

Ich sehe die Gefahr nicht gebannt, dass wir uns so nur selbst zu Moralisten „in neuem Farbton“ entwickeln. Das wäre schade und sogar gegen das Evangelium von Jesus Christus.

Andererseits steht für mich zweifelsfrei fest: Dieses Buch füllt eine Lücke in dem großen Vakuum, genauer über das Verhältnis Kultur und Glauben nachzudenken. Ich sehe uns europäische Christen als kulturell versklavt an. Insofern bietet Rod Dreher wichtiges Denkfutter für Familien und Gemeinden. Carl Trueman empfiehlt als Kirchenhistoriker dieses Buch zur Ausein­ander­setzung. Dieser Empfehlung schließe ich mich an.

Es gilt auch für uns, Abschied zu nehmen von einem bequemen Komfort, der durch falsche Kompromisse erkauft wurde. Dreher beschreibt die Konsequenzen so:

„Junge Christen, die davon träumen, Anwalt oder Arzt zu werden, werden diese Hoffnung vielleicht aufgeben müssen und eine Laufbahn ein­schlagen, in der sie sehr viel weniger Geld verdienen. Viel­ver­sprechen­de christ­liche Aka­demiker werden sich vielleicht mit dem schmalen Salär und dem geringen Ansehen eines Lehrers an einer klassisch christlichen Schule [in den USA verbreitetes privates Schulmodell, das sich an der klassischen Bildung orientiert] abfinden müssen. Christliche Familien werden vielleicht gezwungen sein, ihr Geschäft zu verkaufen oder zu schließen, wenn sie sich bestimmten staatlichen Weisungen nicht beugen wollen. …

Wenn man bedenkt, wie sehr wir in unserer Gesellschaft an Mittelklasse-Komfort, Freiheit und Stabilität gewöhnt sind, steht zu erwarten, dass Christen schwer versucht sein werden, alles dafür zu sagen und zu tun, dass wir behalten, was wir haben. Aber das ist der Weg zum geistlichen Tod.“ (307)


  1. Timothy Keller. Center Church. pulsmedien: Worms, 2015. 5: Christen und Kultur. S. 177-229. In Anführungszeichen wörtliche Zitate. 

  2. Ebd. Kapitel 16. Ich gehe hier nicht auf die Kritik der einzelnen Modelle ein, die hier nur holzschnittartig dargestellt werden. 

  3. Ebd. Kapitel 17. 

  4. Tobias Klein ist eine sorgfältige Übersetzung gelungen. Als Europäer kündigt er bereits im Vorwort an, dass nicht alle Details für Europa zutreffen. Dies betrifft wohl zur Hauptsache die politische Entwicklung der „Moral Majority“ in den USA. Zweitens wäre die vorgestellte private Bildung inkl. Universität zu nennen.