ThemenKultur und Gesellschaft, Orientierung, Zeitgeist und Bibel

Der charismatische Turbo der ökumenischen Bewegung

Die Annäherung zwischen den Protestanten und der römisch-katholischen Kirche ging nicht von dieser aus, sondern hat ihren Ursprung in den Missionsbewegungen, die von konservativen Christen getragen wurden, die wir heute zu den Evangelikalen zählen. Der gemeinsame Wunsch, Menschen mit der Botschaft von Christus zu erreichen und sie „zu Jüngern zu machen“, war aber nur ein Antrieb und der führte auch nicht zu einer wirklichen Vereinigung. Die charismatische Bewegung hat viel mehr zur Einheitsbewegung der Christen beigetragen.

Als Junge und Teenager zogen Autos meine Aufmerksamkeit auf sich. Natürlich waren es schnelle Serienwagen, welche mich interessierten. Ich hatte noch dazu das Plus eines älteren Bruders, der sich ebenfalls für Autos interessierte. In meinen Teenager­jahren kamen dann die Turbomotoren auf. Dabei erhöhte ein Turbolader die normale Leistung eines Verbrennungsmotors, sowohl was die PS-Zahl, als auch was die Beschleunigung und Endgeschwindigkeit betraf.

Es war natürlich ein Traum, später selbst einen Turbo zu fahren, der andere stehen ließ. Mein Traum war damals, später einmal einen Ford Capri mit Turbolader zu fahren. Ich kann mich noch daran erinnern, als ich das erste Mal in einem Auto mit Turbolader am Steuer saß. Wenn der Turbo richtig einsetzte, war die Beschleunigung faszinierend im Vergleich zu anderen Autos.

Nun beschäftigte uns im Zusam­men­hang mit dem Reformations­jubi­läum auch der ökumenische Prozess, die Annährung zwischen den Protes­tanten und Rom. Diesen Prozess möchte ich einmal mit der Leistung eines normalen Ver­bren­nungs­motors ver­gleichen. Das Öku­mene­vehikel bewegt sich vorwärts, zunächst sehr behäbig. Mit dem Aufkommen der charismatischen Bewegung hatte dieser Prozess aber einen regelrechten Turbolader bekommen, der alles in einem unglaublichen Tempo zu beschleunigen begann. Wenn wir dann auch von der Annäherung der Evan­geli­kalen an Rom sprechen, können wir dies nicht tun, ohne die Rolle der charismatischen Bewegung zu beachten. Um diesen Zusammenhang soll es in meinem Referat gehen.

Um dieses Thema besser zu verstehen, möchte ich zunächst einen Überblick über mehrere Entwicklungen geben

1. Von den Weltmissions­kon­ferenzen bis zum Ökumenischen Rat der Kirchen

a) Der Begriff Ökumene

Heute verbinden wir mit diesem Begriff automatisch die Annährung zwischen verschiedenen Kirchen und Konfessionen, namentlich auch die Annährung zwischen den Protestanten bzw. Evangelikalen und der römisch-katholischen Kirche.

Ökumene kann in der Bibel den bewohnten Erdkreis bezeichnen, dem das Evangelium verkündet werden soll.

Oikoumene meint zunächst die bewohnte Erde oder den Erdkreis mit allen Menschen. In diesem Sinn wird dieses Wort im Neuen Testament verwendet. So gebraucht es Paulus auch im Zusammenhang mit der weltweiten Evangeliumsverkündigung in Römer 10,18. Auch in Matthäus 24,14 finden wir den Begriff:

Und dieses Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreis, allen Nationen zu einem Zeugnis, und dann wird das Ende kommen.

Im Buch der Offenbarung wird das Wort im Zusammenhang mit den letzten Ereignissen und der antichristlichen Verführung verwendet (Offb 12,9; 16,14). In Offenbarung 3,10 bekommt die Gemeinde in Philadelphia die Verheißung:

Weil du das Wort vom Harren auf mich bewahrt hast, werde auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen, die auf der Erde wohnen.

Halten wir fest. Ökumene meint ursprünglich die ganze Menschheit. Der Begriff kann in der Bibel sowohl im Zusammenhang mit der weltweiten Evangeliums­ver­kündigung stehen als auch mit der weltweiten Verführung oder einfach nur den bewohnten Erdkreis bezeichnen. Heute steht er in erster Linie für eine Annäherung der Kirchen und Religionen.

So ging es in der ökumenischen Bewe­gung am Anfang um die Rückbesinnung auf die geistliche Einheit. Das ist ja ein Thema, welches von der Bibel aus betrachtet, seine Berechtigung hat. Grenzen wir uns nur von anderen Gemeinden und Glaubens­geschwistern ab, oder streben wir auch nach der Einheit im biblischen Sinn? Wie können wir die Einheit der Gemeinde Jesu fördern? Das sollte auch uns ein Anliegen sein. Was aus diesen Bestrebungen geworden ist, können wir aber als äußerst traurig und verhängnisvoll bezeichnen.

b) Die Entstehung der großen Weltmissionskonferenzen

Um es vorwegzunehmen: Die ökumenische Bewegung hat ihre Wurzeln nicht in Rom, sondern in dem, was heute der evangelikale Bereich und die damit verbundene Weltmission ist.

Das 19. Jahrhundert gilt als das große Jahrhundert der Weltmission. In diesem Jahrhundert entstanden u. a. verschiedene Glaubensmissionen. Namen wie Hudson Taylor, A. T. Pierson, K. Gützlaff, D. L. Moody sind damit verbunden. Das führte zu großen Missionskonferenzen, zunächst noch auf nationaler Ebene, aber dann auch international. Es ging um die Frage, wie die Menschheit durch Zusammenarbeit mit dem Evangelium erreicht werden kann. Arthur P. Johnston stellt in seinem Buch «Umkämpfte Weltmission» fest, dass das Schriftverständnis und die Evangelisationsfrage zunächst noch klar waren. Unter Ökumene verstand man damals etwas völlig anderes. Ich zitiere dazu A. T. Pierson, der ein Förderer der Glaubensmissionen war. Er sagte bei einer Bibelkonferenz 1885 in Massachusetts:

Wir brauchen eine Weltmissions­konferenz. Wir wollen aus allen Teilen der Welt Zeugen kommen lassen, die uns berichten, was der Herr tut, damit wir auf den Altären unsers Herzens neu Feuer der Hingabe entfachen können … Lasst uns ein ökumenisches Konzil abhalten, auf dem alle evangelikalen Kirchen vertreten sein sollen, um diese weltweite Kampagne zu planen und die frohe Botschaft allen Menschen in der kürzesten Zeit zu verkündigen.1

Hier meint Ökumene etwas völlig anderes als heute. Ökumene stand für die weltweite Evangeliumsverkündigung und damit verbundene Zusammenarbeit der christlichen Kirchen. Es hatte noch nichts mit dem späteren Verständnis zu tun. Das Ganze stand auch in keiner Beziehung zur römisch-katholischen Kirche.

Als erste große Missionskonferenzen können wir Liverpool 1860, London 1888 und New York 1900 erwähnen. Hudson Taylor warnte schon damals in New York davor, dass man Methoden, Technik und Finanzen zu viel Beachtung schenke, aber zu wenig einem Erfülltsein mit dem Heiligen Geist.2

Dann kam es zur großen Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh. Immer noch stand das evangelistische Anliegen im Vordergrund. Aber durch diese Missionskonferenz kam es zu einer verhängnisvollen Veränderung.

Bibelkritik hat auf der Missions­konferenz in Edinburgh ihre Spuren hinterlassen. Die sollte nicht mehr alleinige Autorität für den Glauben sein.

Liberalismus und Bibelkritik hatten bei Teilen der Evangelikalen, vor allem in der christlichen Studentenbewegung (SCM), ihre ersten Spuren hinterlassen. Dazu kam eine durch den Methodismus begünstigte Sicht, dass Gott und Mensch im Blick auf das Heil zusammenwirken. Man spricht vom Synergismus. Dieses Denken findet sich auch in Teilen der Erweckungs- und Heiligungs­bewegung. Damit haben wir ein Beispiel, wie grundlegend die biblische Sicht vom Menschen und vom Heil ist.

Damit verbunden kam ein soziales Evan­gelium auf, welches als Ziel die Aufrichtung der Herrschaft Gottes in der Gesellschaft sah und ein soziales Engagement gleichwertig zur Evangelisation ansah.

Die Einflüsse der Bibelkritik zeigten sich auch darin, dass die persönliche Erfahrung mehr und mehr zur Basis des Glaubens wurde. Die Bibel war dazu nur noch Mittel zum Zweck und deshalb nicht mehr die alleinige Autorität des Glaubens. Wohlgemerkt spreche ich von den Einflüssen vor und dann auf die Missionskonferenz in Edinburgh und nicht davon, dass dies dort alles offen vertreten wurde.

Unter der Leitung von John Mott kam es dann in Edinburgh zu verhängnisvollen Weichenstellungen. Als Folge davon wurde der Glaube an die Verbalinspiration der Heiligen Schrift als maßgebend aufgegeben. Mott hatte auch die anglikanische Kirche eingeladen und, um ihre Teilnahme zu sichern, Zugeständnisse gemacht. So wurden anglikanisch dominierte Länder, wie auch orthodoxe und römisch-katholische Gebiete, nicht mehr als Missionsgebiete angesehen. Trennende Lehrfragen der teilnehmenden Denominationen sollten nicht endgültig geklärt werden. Alles war nach aussen hin noch evangelikal verpackt. Aber das Verständnis der Evangelisation und Mission begann sich zu verändern. A. Johnston bezeichnet die Missionskonferenz 1900 in New York noch als wirklich evangelikal, während Edinburgh 1910 die erste ökumenische Konferenz war, jetzt im Sinn, wie wir das Wort heute gebrauchen – Einheit auf Kosten der Wahrheit und einer klaren Theologie.

c) Von Edinburgh nach Amsterdam

John Mott, dem Leiter von Edinburgh, schwebte vor, dass alle Missions­gesellschaften unter einer Leitung zusam­mengefasst würden. Er entwickelte im Zeichen der Weltmission auch den Gedanken einer Weltkirche. Als Folge von Edinburgh entstanden der Internationale Missions­rat, eine Arbeitsgruppe für Glaube und Kirchenverfassung und eine für Praktisches Christentum. Während des Ersten Weltkriegs verließen einige Glaubensmissionen wegen der Differenzen den Internationalen Missionsrat, beispielsweise die China-Inland-Mission. Die schillernde Person von John Mott war eine der Triebfedern des Ganzen. Mott bekam 1946 den Friedensnobelpreis.

Nun machen wir einen Sprung. Aus den drei Strängen, die sich in Edinburgh gebildet hatten – der Internationale Missionsrat, die Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung sowie die Konferenz für Praktisches Christentum –, entstand 1948 in Amsterdam der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK). Somit hatte der ÖRK ursprünglich bis zur Internationalen Weltmissionskonferenz 1900 gute evangelikale Wurzeln. Die falsche Weichenstellung erfolgte 1910 in Edinburgh. Übrigens ist die römisch-katholische Kirche bis heute kein Vollmitglied des ÖRK, wenn sie auch mit ihm zusammenarbeitet und in einigen Kommissionen des ÖRK vertreten ist.

d) Der ÖRK und die ACK

Mit dem ÖRK ist in Deutschland die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) verbunden, die sich in der Schweiz als AGCK abkürzt. In Deutschland gehören zur ACK als Mitglieder neben der evangelischen und der katholischen Kirche auch der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten) und der Mühlheimer Verband. Zu den Gastmitgliedern und ständigen Beobachtern gehören u. a. der Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland, der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden und die Siebenten-Tags-Adventisten.

In der AGCK Schweiz sind bisher von den Freikirchen die Baptisten und Methodisten vertreten. Gaststatus haben die Siebenten-Tags-Adventisten und die Neuapostolische Kirche. Freikirchen wie die Freien Evangelischen Gemeinden, die Chrischona-Gemeinden, die Freien Missionsgemeinden oder die Gemeinschaft Evangelisch Taufgesinnter sind neben Pfingst- und charismatischen Gemeinden im Verein Freikirchlicher Gemeinden Schweiz (VFG) vertreten. Diese Freikirchen gehören wie die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA) nicht zur AGCK. Aber die Spitzen der SEA und der VFG haben sich 2016 mit der AGCK getroffen, um die Zusammenarbeit zu verstärken. Verschiedene Veranstaltungen werden von der AGCK wie auch der SEA unterstützt. So können wir die ACK und AGCK in gewisser Weise als ein Bindeglied zum Ökumenischen Rat der Kirchen und der damit verbundenen Bewegung sehen.

e) Die Lausanner Missionsbewegung

Wie erwähnt, traten immer mehr evan­gelikale Werke aus dem Internationalen Missionsrat aus. 1966 kam es dann als Alternative zum ÖRK zum Weltkongress für Evangelisation in Berlin. Hier wurde im Prinzip die noch gute internationale Missionskonferenz New York (1900) fortgesetzt. Es gab weitere Anschluss­kongresse. Daraus entstand 1974 die sogenannte Lausanner Bewegung für Weltevangelisation.

Die Lausanner Erklärung wollte ein klares Bibelbe­kenntnis als Grundlage behalten, aber öffnete auch eine kleine Tür für ein anderes Schriftver­ständnis.

In Edinburgh 1910 war die Bibelfrage gebrochen worden. In der Lausanner Erklärung war dagegen ein Bibelbekenntnis festgehalten, welches für sich genommen klar ist und die Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift betonte. Als es in gedruckter Form vorlag, entdeckte Francis Schaeffer aber einen kleinen Passus, der in diesem Bibelbekenntnis die Hintertür für die Bibelkritik öffnete, je nachdem wie man ihn auslegt. Obwohl die Lausanner Erklärung hier viel deutlicher ist als Edinburgh, ist es ein Drama, dass sich die Geschichte in gewisser Weise wiederholte und auch die Lausanner Erklärung – je nach Interpretation – die Tür für ein anderes Schriftverständnis öffnete.

2. Die Entstehung der Pfingstbewegung

Unabhängig von der Weltmissions­kon­ferenz in Edinburgh entstand um die vorletzte Jahrhundertwende die Pfingstbewegung. Die Vertreter der charismatischen Bewegung und der damit verbundenen Gemeindewachstumsbewegung sprechen heute von drei «Wellen des Heiligen Geistes».3

a) Die Vorgeschichte der Pfingstbewegung

Um die vorletzte Jahrhundertwende entstand die klassische Pfingstbewegung als erste Welle.4 Zur Vorgeschichte der Pfingstbewegung gehören Männer wie John Wesley, Charles Finney, Dwight L. Moody und Reuben A. Torrey. Es geht nicht darum, über diese Männer ein Pauschalurteil zu sprechen, der Herr gebrauchte sie auch zweifelsohne, um viele Menschen zu erretten. Auch gibt es zwischen diesen Männern Unterschiede.

Eins aber hatten sie gemeinsam. Sie erlebten alle eine sogenannte Geistestaufe oder ein «Second Blessing» (einen zweiten Segen). Es ging um ein Erlebnis, welches den Geretteten angeblich auf eine höhere geistliche Stufe stellte, ihn zu einem besonderen Leben in der Heiligung befähigte, bis hin zu einem Stand der Sündlosigkeit, der sogenannte Perfektionismus. Rechtfertigung und Heiligung werden dabei als zwei verschiedene Dinge angesehen.

Eine falsche Sicht vom Menschen und seinen Möglichkeiten beim Heil mitzuwirken, war eine wesentliche Weichen­stellung.

Daran können wir sehen, wie wichtig ein biblisches Menschenbild und Heilsverständnis ist, wie wir es in der Reformation finden. B. Peters macht im Buch «Das verschleuderte Erbe» deutlich, wie die falschen Lehren sowohl der Heiligungsbewegung, als auch der Pfingstbewegung mit einer falschen Sicht des Menschen und des Heils zusammenhängen. Erinnern wir uns kurz daran, dass ich im Zusammenhang mit Edinburgh 1910 einen verhängnisvollen Synergismus erwähnte, nämlich dass Gott und der Mensch beim Heil zusammenwirken. Um nicht auf falsche Wege zu kommen, gibt es nichts Besseres wie die Rechtfertigungslehre «Allein aus Gnade», wie sie Luther und die anderen Reformatoren wieder neu ans Licht gebracht haben.

Die Vorgeschichte zur Pfingstbewegung war also eine falsche Lehre der Geistestaufe oder des zweiten Segens, welche zusätzlich zur Errettung gelehrt wurden.

b) Die Entstehung der Pfingstbewegung und der Heiligungsbewegung

ba) Die Pfingstbewegung in den USA

Als Anfang der Pfingstbewegung können wir den 9. April 1906 nennen. Damals fiel angeblich in Los Angeles, Azusa Street 312, «Feuer vom Himmel», wie an Pfingsten. Es geschah unter der Leitung von W. J. Seymour, als nach Gebet und Fasten eine Heiligungsgruppe der Kirche des Nazareners ihre Geistestaufe erhielt und in Zungen redete.5 Hier haben wir zum ersten Mal die Kombination von Geistestaufe und Zungenrede, die typisch für die Pfingstbewegung ist.

Diese Bewegung breitete sich wie ein Lauffeuer in Los Angeles aus. Dazu gehörten Jauchzen und Wonnegefühle, Ekstase, Prophetien und auch ein angebliches vom Heiligen Geist Geschlagen­werden. Dieses Phänomen finden wir auch wieder in der dritten und vierten Welle. Das Ganze war mit einer Zwei- oder Dreistufenlehre verbunden. Die Dreistufenlehre funktionierte so: Als Erstes kam die Bekehrung (Rechtfertigung), dann die völlige Hingabe, bis schließlich die Geistestaufe und Zungenrede als dritte Stufe zündeten. Der Mensch wirkt mit und bekommt als Belohnung für seine Frömmigkeit die Geistestaufe. Das ist etwas anderes als die stufenlose biblische Rechtfertigungslehre, in der das Heil ausschließlich von Gott ausgeht. Dazu kam dann auch noch ein schwärmerisches Verständnis von Heilungen.

bb) Die Heiligungs­bewegung

Am Anfang der Heiligungsbewegung stand Robert Pearsall Smith. Er lud 1874 zu einer Konferenz in Oxford ein, bei der man auf eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes wartete. Smith selbst hatte zwei Jahre zuvor seine Geistestaufe erlebt. Auf dieser großen Konferenz waren auch Schweizer und deutsche Vertreter wie Inspektor Rappard, Otto Stockmayer und Theodor Jellinghaus.

Die Heiligungsbewegung entstand aus der Erweckungs­bewegung des 19. Jahr­hun­derts. Es ging um ein ernstes Streben nach Heiligung, welches dann aber leider in eine falsche Richtung führte. Angeblich wurden die Gläubigen durch eine Erfahrung zu einem Leben in völliger Hingabe befähigt. Durch Vertreter der Allianzkreise wurde Robert Pearsall Smith nach Deutschland und in die Schweiz eingeladen. So fasste die Heiligungsbewegung auch in Deutschland und der Schweiz Fuß. Das Ganze war mit einer Sehnsucht nach Erweckung, Hingabe, Evangelisation und Heiligung verbunden. Es gab neben einem leider in die falsche Richtung gehenden Heiligungsstreben auch viel Gutes an erwecklichem Leben, an Evangelisation, Mission, Diakonie, die Entstehung von Verlagen, Liedern, Werken usw. Das Buch von Stephan Holthaus «Heil – Heilung – Heiligung»6 gibt hier einen ausgezeichneten Über- und Einblick. Was Pearsall Smith betrifft, ist sein Leben schon ab 1875 – dem Jahr, in welchem er durch Deutschland und die Schweiz reiste – ein tragisches Kapitel.7

bc) Die Pfingstbewegung

Neben der Heiligungsbewegung kam auch die Pfingstbewegung nach Europa. Der Norweger Thomas B. Barrat brachte von einer USA-Reise die Geistestaufe und Zungenrede nach Norwegen. Nach Norwegen reiste wiederum der Leiter der Strandmission in Deutschland, Emil Meyer. Dieser nahm zwei norwegische Frauen mit nach Hamburg, die eine Geistestaufe erlebt hatten und in Zungen redeten.

Fast parallel fand eine Bibelwoche statt, auf welcher sich führende Vertreter der Gemeinschaftsbewegung über die Erweckung in Wales, Kalifornien und Norwegen austauschten. Pastor Jonathan Paul berichtete begeistert von seinen Erlebnissen in Norwegen mit der Zungenbewegung. Er verkündigte schon damals perfektionistische Gedanken. Die Brüder bei dieser Bibelwoche hatten den Wunsch (u. a. Michaelis, Stockmayer, von Viebahn, Haarbeck), dass diese «Geistesbewegung» sich auch in Deutschland Bahn brechen sollte. Heinrich Dallmeyer, ein Vertreter der Gemeinschaftsbewegung, lud die beiden Norwegerinnen von Hamburg nach Kassel ein. Dort begannen dann im Juli 1907 Veranstaltungen mit angeblichen Geistesmanifestationen wie Geistestaufe und Zungenrede. Anfangs waren auch Männer wie Elias Schrenk davon begeistert.

Mit der Zeit liefen die Veranstaltungen aus dem Ruder. Frauen wurden zu Boden geworfen, ein Zungenredner schlug in Ekstase mit der Bibel auf andere ein. Ein anderer bewegte sich am Boden wie eine Schlange. Dazu kamen angebliche Prophetien. Schließlich wurden die Veranstaltungen auf Bitten der Polizei abgebrochen. Die beiden Norwegerinnen reisten nach Zürich weiter. Das Ganze führte zu einer Krise.

Mit der Trennung von der Pfingstbewegung zweifelte man nicht am Ernst und an der Gotteskindschaft der Pfingstler, aber hielt die Erscheinungen nicht für göttlich.

Heinrich Dallmeyer, der die Frauen nach Kassel geholte hatte, distanzierte sich von der Bewegung. Inzwischen sprach auch Jonathan Paul selbst in Zungen. Die deutsche Pfingstbewegung wuchs aus der Heiligungs­be­we­gung heraus, da diese mit ihrem Streben nach Heili­gung und Geistes­belebung einen guten Nähr­boden dafür gab. Schließlich kam es 1909 zur Berliner Erklärung, in der sich etwa 60 Brüder der Allianz- und Gemeinschaftsbewegung klar von der Pfingstbewegung distanzierten. Sie sprachen den Pfingstlern nicht die Gotteskindschaft ab, bezeichneten die Pfingstbewegung in der Berliner Erklärung aber klar als «nicht von oben, sondern von unten».

Rückblickend können wir sagen, ein Kennzeichen der klassischen Pfingstbewegung war Spaltung. Obwohl viele Pfingstler noch eine klare Inspirationslehre der Schrift vertraten, gab es durch die Irrlehren der Pfingstbewegung – wie Geistestaufe, Zungenrede, Prophetie, Visionen, Of­fen­barungen, Kran­kenheilung – zahlreiche Spaltungen. Auf der einen Seite war die evangelikale Bewegung, auf der anderen Seite die Pfingstbewegung.

bd) Eine wichtige Person der ersten Welle

Die Pfingstbewegung begann sich weltweit auszubreiten. Hier könnte man verschiedene Namen nennen. Ich möchte nur eine Person herausgreifen, die praktisch noch der klassischen Pfingstbewegung entstammte und im Zusammenhang mit unserem Thema eine wichtige Rolle spielt, der Südafrikaner David du Plessis, auch Mister Pentecost (Pfingsten) genannt. In seiner Biographie «Man nennt ihn Mister Pentecost», finden sich nicht nur alle klassischen Irrlehren der Pfingst­bewegung, natürlich als etwas Gutes dargestellt (Geistestaufe, Zungenrede, Prophetie, Krankenheilung). Es wird auch deutlich, wie es durch die Pfingstbewegung zu Spaltungen kam.

David du Plessis lebte von 1905 bis 1986. Aufgrund einer Prophetie des Pfingst- und Heilungspredigers Smith Wigglesworth nahm du Plessis eine entscheidende Rolle bei der Überwindung der Abgrenzung zu anderen Denominationen ein. Wir können ihn als ein Bindeglied zwischen der ersten und der zweiten Welle bezeichnen. Er wurde zugleich auch eine Brücke zwischen der Pfingstbewegung und der katholischen Kirche. Du Plessis ist mit ein Bahnbrecher der Ökumene, welche die Pfingstbewegung bis dahin ablehnte.

3. Die Entstehung der charismatischen Bewegung

Mit der Entstehung der charismatischen Bewegung stehen wir bei der zweiten Welle.

a) Der Beginn der zweiten Welle

Ende der 1950er Jahre, Anfang der 1960er Jahre, begann die zweite Welle, auch die charismatische Bewegung genannt. Als Vater der charismatischen Bewegung gilt der Anglikaner Dennis Bennett, der sich selbst als Anglikaner mit «anglo-katholischer Auffassung» verstand (drei Strömungen in der anglikanischen Kirche).8 Er erlebte in den USA eine Geistestaufe und empfing durch Handauflegung die Gabe des Zungenredens.

Die zweite Welle hat viele etwas erleben lassen, das sie als Geistestaufe bezeichneten. Diese konnten sie aber auch schon vor der Bekehrung erleben.

Damit haben wir ein wichtiges Merkmal der zweiten Welle. Die angebliche Geisteserfahrung ist ausschlaggebend und ein Mann mit «anglo-katholischen Auffassungen» erlebt sie. Ein kurzer Sprung zur vierten Welle und zu Johannes Hartl. In seinem Buch «Feuer in meinem Herzen» schreibt er, wie er bei einem charismatischen Kongress den Heiligen Geist empfing. Er nennt es so, dass Gott ihn an diesem Abend geküsst hat und er wusste, dass es der Heilige Geist war. Das Ganze geschah, als ein junger Mann mit ihm betete und die Hand auf die Schulter legte.9 Ein halbes Jahr sei dann vergangen, bis er sein Leben Jesus übergeben hat.10 Auch bei Hartl steht am Anfang eine Geistestaufe, und erst danach kommt die Entscheidung für Jesus. Schon die Reihenfolge lässt alle Alarmglocken läuten. Abgesehen davon, dass er bis heute im Prinzip kein Problem mit den Lehren der katholischen Kirche hat.

Zurück in die 1960er Jahre. Zur zweiten Welle gehörten auch David du Plessis, Larry Christenson (ein lutherischer Pfarrer), Michael Harper aus der anglikanischen Kirche in England, David Wilkerson und andere. In Deutschland war Volkhard Spitzer bekannt sowie der lutherische Pfarrer Arnold Bittlinger. Jugend mit einer Mission kam auch mit der zweiten Welle und arbeitet interkonfessionell. Ehemalige Mitarbeiter haben mir bestätigt, dass in den Ausbildungszentren von JMEM nichts Abwertendes über andere Konfessionen gesagt werden darf. Auch Campus für Christus steht in einer Verbindung zur charismatischen Bewegung. Mit der zweiten Welle sind ebenfalls Jesus People verbunden, die auch von Billy Graham gefördert wurden.

Damit stehen wir bei einem weiteren Kennzeichen der charismatischen Be­we­gung im Gegensatz zur klassischen Pfingst­bewegung. Während die Pfingst­bewegung zu Spaltungen und Separation führte, hat die charismatische Bewegung das Ziel, in den jeweiligen Denominationen zu bleiben und sie als Sauerteig zu durchdringen. Im Gegensatz zur klassischen Pfingstbewegung finden wir in Teilen der zweiten Welle auch ein liberales Bibelverständnis. Dies und anderes führte zu Spannungen mit der klassischen Pfingstbewegung. Ich kannte einen Pastor, welcher der klassischen Pfingst­bewegung angehörte, der mir gegenüber aber seine Bedenken wegen der zweiten und dritten Welle zum Ausdruck brachte. Die charismatische Bewegung war also nicht mehr auf Trennung aus, wenn sie auch Spaltungen verursachte, sondern auf In­fil­tration mit Geistestaufe, Zungenrede, Gaben­lehre, Prophetie, Krankenheilung u. a.

b) Die Entstehung der katholisch-charismatischen Bewegung

Die charismatische Bewegung breitete sich im Gegensatz zur Pfingstbewegung innerhalb der Konfessionen aus. So begann 1966 die katholisch-charismatische Bewegung an einer Universität in Pittsburgh.11 Mit dazu beigetragen hatte das Buch von David Wilkerson «Das Kreuz und die Messerhelden». Die Studenten beteten darum, wie Wolfgang Bühne schreibt:

«… dass der Heilige Geist in ihnen alle Gnaden der Taufe und Firmung aufwecken möge mit dem machtvollen Leben des auferstandenen Herrn».12

Von dort aus breitete sich die charismatische Bewegung innerhalb der katholischen Kirche aus. Es kam zu Tagungen der charismatischen Erneuerung in der katholischen Kirche. Auf der ersten Tagung 1969 in Notre Dame/USA waren es 450 Teilnehmer. Die 7. Tagung 1974 in Notre Dame/USA fand mit 25.000 Teilnehmern in einem Fussballstadion statt. 1975 zählte man bereits 3.500 charismatische Gebetsgruppen mit 400.000 Mitgliedern in über 50 Ländern.

ba) Das Zweite Vatikanische Konzil und die charismatische Bewegung

Bei ihrem Reformkonzil hat sich die römische Kirche zwar ein neues Gesicht geben wollen, aber keine der widerbiblischen Lehren widerrufen.

Die katholisch-charismatische Bewe­gung steht auch in einem Zusammen­hang mit dem II. Vatikan-Konzil (1962–1965), welches von Johannes XXIII. als ökumenisches Konzil einberufen und von Paul VI. fortgeführt wurde. In diesem sogenannten Reformkonzil zeigte Rom ein neues Gesicht, ohne seine grundlegenden widerbiblischen Lehren zu widerrufen. So wollte man beispielsweise nicht mehr den Bann gegenüber nichtkatholischen Lehren betonen wie beim Konzil in Trient, sondern das Glaubensgut positiv darstellen.13 Auch nannte man Angehörige anderer Konfessionen nicht mehr Häretiker, sondern getrennte Brüder. Bei allem gaben die katholische Kirche und der Papst ihren Selbstanspruch nie auf.

Johannes XXIII. sprach nicht nur davon, dass alle Menschen Brüder sind. Er konnte auch gegenüber den Juden sagen: «Ich bin Joseph, Euer Bruder.»14 Welche Vermessenheit, sich Israel gegenüber als der verkannte Bruder zu präsentieren. Es ist gut, sich diesen Satz im Zusammenhang mit Papst Franziskus zu merken. Franziskus sagte im Prinzip dasselbe, nur an andere Adressaten gerichtet. Johannes XXIII. sah sich vom Heiligen Geist geführt, dieses Konzil einzuberufen, um nicht nur den Katholiken, sondern allen Menschen zu dienen.15 Es ging mit darum, den Weg zur Einheit aller Christen zu beschreiten und die historischen Wälle zu überwinden. Schon vor der Eröffnung des Konzils hatte Johannes XXIII. das Sekretariat für die Einheit der Christen gegründet.16

Johannes XXIII. starb 1963 und das Konzil wurde von seinem Nachfolger Paul VI. fortgeführt und beendet. Zu den Beobachtern anderer Kirchen, die dazu eingeladen wurden, gehörte auch David du Plessis, den ich schon erwähnt habe. Er hatte auch schon 1954 an der zweiten Vollversammlung des Weltkirchenrats teilgenommen, dem uns bekannten Strang der Ökumene.

bb) David du Plessis und die Ökumene

Als noch jüngerer Mann hatte du Plessis die Weissagung von Wigglesworth empfangen. Er, du Plessis, sollte eine wichtige Rolle bei einer kommenden weltweiten Erweckung und neuer Geistausgießung spielen, welche die Einstellung von Führern in der christlichen Welt gegenüber der Pfingstbewegung verändern werde.17

Du Plessis Weg verlief zunächst innerhalb der klassischen Pfingstbewegung, bis er sich aufgrund von Wigglesworth‘ Prophetie dazu berufen sah, auch Kontakt mit der ökumenischen Bewegung und der katholischen Kirche aufzunehmen. Dies führte dazu, dass er 1962 von den Assemblies of God, dieser großen Pfingstkirche in den USA, ausgeschlossen wurde.

Durch Pater Bernard Leeming kam der Kontakt von du Plessis nach Rom zustande. Wieder einmal ging es um das Thema Geistestaufe.18 Schließlich war er im September 1964 im Petersdom bei einer Session des II. Vatikanischen Konzils unter Papst Paul VI. anwesend. Du Plessis meinte damals zu spüren, wie ein frischer Hauch des Heiligen Geistes wehte.19 Als der Papst die Christen um Vergebung bat, berührte dies du Plessis zutiefst. In seiner Biographie spricht du Plessis von Einheit und der Bereitschaft zu vergeben, ohne dass irgendwo die Lehrfragen der katholischen Kirche berührt werden. Interessant, wie er selbst seine Annäherung an die katholische Kirche beschreibt. Bei seinem ersten Besuch im Vatikan hatte zuvor ein Priester namens Dr. Murray Kontakt mit ihm aufgenommen. Du Plessis:

Ich legte den Hörer auf. «O, Herr.» Ich stand wie angenagelt da. «Lieber Herr Jesus, er erwartet einen Mann voll Liebe und Heiligen Geistes (Anm. d. Verf.: Du Plessis meint hier sich selbst.)» Es schien mir, als lastete ein riesiges Gewicht auf mir und als erstickte ich. «O Herr, ich habe noch nie Katholiken gemocht, und Du weisst es. Ich bin es nicht anders gelehrt worden. Hilf mir.» […]

Da redete der Herr zu mir. «Ich habe dich nie zum Richter der Geschichte gemacht. Ich habe gesagt, du sollst sie lieben und ihnen vergeben.»

Aber wie? «Herr Jesus, mir bleiben nur noch 20 Minuten. Reinige mich. Läutere mich. Reinige mich von all meinen Vorurteilen und von aller Bitterkeit. Hilf mir, die Vergangenheit zu überwinden. Du hast mich von meiner Bitterkeit den Protestanten gegenüber geheilt. Hilf mir bitte auch bei den Katholiken.»20

Hier zeigt sich, dass es nicht um den Geist der Wahrheit geht. Die ganzen widerbiblischen Lehren der katholischen Kirche spielen bei du Plessis keine Rolle. Scheinbar ist alles nur eine Sache von fehlender Vergebungsbereitschaft und fehlender Sympathie, die überwunden werden muss. Als du Plessis dann diesem Priester begegnete, merkt er an, wie der Segen Gottes reichlich auf sie hinabströmte.21 Seine Einheit mit der katholischen Kirche besteht dann auch nicht in Lehrfragen, sondern in der Erfahrung von Geistestaufe, Zungenrede und den Geistesgaben. Das ist übrigens auch ein Grund, warum dann später Vertreter der klassischen Pfingstbewegung die Annäherung mit Rom suchten. Es geht immer um die Erfahrung und die angebliche Liebe.

Du Plessis berichtet auch ergriffen vom 3. Internationalen Kongress der katholisch-charismatischen Bewegung 1975 im Petersdom in Rom. Während der Eucharistiefeier war Zungensingen zu hören. Scheinbar waren die meisten vom Heiligen Geist berührt.22 Dann beschreibt er, wie Paul VI. seine Zustimmung zur charismatischen Bewegung ausdrückte «als ein Zeichen für das als Gebetserhörung geschenkte Erneuerungswerk des Heiligen Geistes». Er zitiert den Papst mit folgenden Worten:

«Dieser starke Wunsch, euren Platz in der Kirche einzunehmen, ist ein authentisches Zeichen für das Wirken des Heiligen Geistes.» […] «Denn Gott wurde Mensch in Jesus Christus, dessen Leib die Gemeinde ist. Und ihr wurde der Geist Christi mitgeteilt, als er auf die im Obersaal versammelten Apostel, zusammen mit Maria, der Mutter Jesu, herabkam.

Wie wir bereits im letzten Oktober vor einigen von euch sagten: Die Kirche und die Welt haben es nötiger denn je, dass dieses Pfingstwunder eine Fortsetzung in der Geschichte erfährt.» […] «Nichts braucht diese mehr und mehr säkularisierte Welt so sehr wie das Zeugnis von dieser ‹geistlichen Erneuerung›, die der Heilige Geist vor unseren Augen in den verschiedenen Regionen und Milieus wirkt.»23

Hier sehen wir, welch wichtiger Faktor die charismatische Erneuerung für die Ökumene spielt. Später nahm Papst Johannes Paul II. die katholisch-charismatische Bewegung sozusagen unter seinen Schutz. Zugleich war er ein glühender Marienverehrer. Aber das ist angesichts des angeblichen Wirkens des Heiligen Geistes alles kein Problem mehr. Schon 1975 rief der bekannte evangelikale Theologe John Stott, der zu den führenden Köpfen der Lausanner Bewegung für Weltevangelisation gehörte, zum fruchtbaren Dialog mit der charismatischen Bewegung auf.24

Die sogenannte zweite Welle, die charismatische Bewegung, war damit nicht nur ökumenisch, sie schlug auch Brücken zu Teilen der evangelikalen Bewegung, die sich bisher von der Pfingstbewegung abgegrenzt hatte.

c) Die dritte Welle

Die charismatische Bewegung setzte sich in der dritten Welle fort. Als die klassische Pfingstbewegung abflachte, kam die charismatische Bewegung. Als diese ihren Zenit erreichte, begann Anfang der 1980er Jahre die dritte Welle. Sie steht auch in einem Zusammenhang mit dem Fuller Theological Seminary in den USA. Dort wirkten zwei führende Personen der dritten Welle, Peter Wagner und John Wimber. Eine weitere herausragende Person ist der inzwischen wegen Steuerhinterziehung verurteilte Südkoreaner Yonggi Cho, Pastor der damals größten Kirche der Welt.

Das Kennzeichen dieser Bewegung war die sogenannte Power Evangelism mit Heilungen, Zeichen und Wundern, welche die Evangelisation begleiten sollten. Später kamen noch die Prophetenbewegung und die Geistliche Kriegsführung dazu.

Es entstanden die Vineyard-Gemeinden. Auch die ICF-Bewegung mit ihrem Anstoßgeber Heinz Strupler, der selbst in Fuller ein Zusatzstudium absolvierte, kann als Kind der dritten Welle angesehen werden. Zur dritten Welle gehören außerdem der Torontosegen, das sogenannte Ruhen im Geist. Reinhard Bonnke, Wolfram Kopfermann und Peter Wenz sind bekannte Vertreter der dritten Welle im deutschsprachigen Raum. Die Jesus-Märsche hängen ebenfalls damit zusammen. Zu nennen ist auch Kenneth Hagin und die «Wort des Glaubens»-Bewegung. Dazu kam das Wohlstandsevangelium.

Wie schon die zweite Welle war das Ganze auch mit stark ökumenischen Tendenzen verbunden, beispielsweise der Initiative «Evangelisation 2000», die Johannes Paul II. ins Leben rief. Das evangelikale Gegenüber war AD 2000. Dazu gehören Namen wie Thomas Wang, Floyd McClung u. a. Beide Bewegungen wollten die Welt bis zum Jahr 2000 evangelisieren und trieben die Öffnung der evangelikalen Bewegung zur katholischen Kirche weiter voran.

Die dritte Welle der charismatischen Bewegung hat ihr Ziel erreicht und tatsächlich weite Teile der evangelikalen Bewegung erfasst.

Die dritte Welle wollte konservative nicht-charismatische Evangelikale erreichen, welche von den ersten beiden Wellen unberührt blieben. Die zweite Welle erfasste schon Teile der evangelikalen Bewegung. Die dritte Welle stieß noch weiter vor. Und sie erreichte tatsächlich ihr Ziel. Als Beispiel dafür möchte ich den Bund der Freien Evangelischen Gemeinden, die Vereinigung Freier Missionsgemeinden und die Chrischona-Gemeinden in der Schweiz nennen. Den ersten Gemeindebaukongress 1993 veranstalteten diese drei Denominationen noch als eine Alternative zum Vineyard-Kongress in Bern. Ich war selbst anwesend, als Karl Albietz, der Leiter des Chrischona-Gesamtwerkes, in seinem Referat damals den anticharismatischen Wind aus den Segeln nehmen wollte. Er erklärte, dass dieser Kongress kein Gegenkongress zu John Wimber wäre.

Auf einem späteren Kongress dieser Werke sprach dann sogar Wolfram Kopfermann aus Hamburg. Nun gab es beispielsweise im Bund der FEG Schweiz Pastoren, welche eine klare ablehnende Haltung zur Charismatik hatten. In persönlichen Gesprächen stellte ich aber fest, dass eine Reihe von ihnen diese klare, ablehnende Haltung zur charismatischen Bewegung aufgaben. Man hielt zwar nicht alles für gut, wollte sich aber auch nicht mehr so scharf abgrenzen.

d) Von der vierten Welle zur „Dauerwelle“

Wir können vorsichtig von einer vierten Welle reden. Der Übergang von der dritten Welle aus ist fließend. Zu dieser Welle gehört die Kansas-Prophetenbewegung, u. a. mit Mike Bickle, der die Gebetshausbewegung ins Leben rief. Damit in Verbindung steht wiederum die Neue Apostolische Reformation, welche der inzwischen verstorbene Peter Wagner gründete. Diese Bewegung vertritt die Ansicht, dass eine Zeit anbricht, in welcher es keine Denominationen mehr gibt, sondern nur noch ein Netzwerk von «geisterfüllten» und «vollmächtigen» Gemeinden, die unter der Führung von Aposteln und Propheten stehen.25 Dabei geht es wieder um eine weltweite endzeitliche Erweckung, wie dies die Pfingstbewegung schon lange behauptet.

Auch die vierte Welle der Bewegung erwartet eine große Erweckung und will sie fördern.

Daneben wurden andere Gruppen und Personen bekannt, die wir nicht klar einer vierten Welle zuordnen können, die aber das pfingstlich-charismatische Gedankengut vertreten und auch die evangelikale Welt immer mehr „rocken“. Ich nenne hier nur Hillsong, die Bethel Church mit Bill Johnson und Heidi Baker. An der Bezeichnung „Dauerwelle“, die von Alexander Seibel als humorvolle Bemerkung gemeint war, ist viel dran. Durch den charismatischen Turbo wurde der ökumenische Prozess dramatisch beschleunigt.

Die Wahrheitsfrage wird immer mehr einem Gefühls-, Erlebnis- und charismatischen Erfahrungschristentum geopfert, was wiederum jede Grenze zur Ökumene überwindet.

Paulus warnt in dem am Anfang gelesenen Text aus 2Kor 11,1-4 vor einem anderen Jesus, einem anderen Geist und einem anderen Evangelium. Durch die drei bis vier Wellen wurde das immer mehr in die Gemeinde Jesu hineingetragen. Anfangs waren die ganzen Abweichungen nicht sichtbar. Denken wir nur daran, wie die klassische Pfingstbewegung eine klare Bibelhaltung hatte. Aber durch diese zusätzlichen und angeblichen Erfahrungen wie Geistestaufe, Zungenrede, Visionen u. a. wurde die Tür nicht nur für alle Schwärmerei, sondern auch für die Annäherung an die katholische Kirche geöffnet.


  1. A. P. Johnston, Umkämpfte Weltmission, Hänssler Verlag Neuhausen. S. 28. 

  2. ebd., S. 29. 

  3. Die dritte Welle kann man auch in eine vierte Welle unterteilen. Um es mit Alexander Seibel auszudrücken, nach der vierten Welle kam die Dauerwelle. Wolfgang Bühne hatte zwei sehr gute Bücher zu den drei Wellen geschrieben, die leider vergriffen sind: «Das Spiel mit dem Feuer» und «Die Propheten kommen!» 

  4. Im Buch von Wolfgang Bühne «Das Spiel mit dem Feuer», CLV 1997, findet sich eine hervorragende Darstellung dazu. 

  5. W. Bühne, Das Spiel mit dem Feuer, S. 23 

  6. Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, 2. Aufl. TVG Brunnen, 2016. 

  7. Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde, R. Brockhaus, Bd. 3, S. 1850. 

  8. W. Bühne, Das Spiel mit dem Feuer, S. 69 

  9. J. Hartl, In meinem Herzen Feuer, SCM Brockhaus, 8. Aufl. 2017, S. 18–19 

  10. ebd., S. 20 

  11. W. Bühne, Das Spiel mit dem Feuer, S. 72 

  12. ebd., S. 72 

  13. vgl. H. Stadler, Päpste und Konzilien, S. 327 

  14. vgl. http://www.sendbote.com/content/ich-bin-josef-euer-bruder 

  15. vgl. http://www.glaubensinformation.de/begeg01.htm 

  16. R. Wagner, Alle in einem Boot, S.101 

  17. vgl. D. du Plessis, Man nennt ihn Mr. Pentecost, S. 8–9 

  18. ebd., vgl. S. 194–196 

  19. ebd., vgl. S. 205 

  20. ebd., vgl. S. 198 

  21. ebd., vgl. S. 199 

  22. ebd., vgl. S. 225 

  23. ebd., S. 227 

  24. W. Bühne, Das Spiel mit dem Feuer, S. 75 

  25. vgl. G. Walter, Der Angriff auf die Wahrheit, CLV 2009, S. 230.