ThemenNachfolge, Themen der Bibel

Alles gut! oder was? Warum wir uns wieder eingehend mit der Theologie der Sünde beschäftigen sollten

Der Begriff und das Verständnis von Sünde und dem Sündersein des Menschen ist für den christlichen Glauben wesentlich. Wenn aber gerade dieser Begriff umgedeutet wird, dann können die Grundlagen des Glaubens ins Wanken geraten. Darum ist eine Neubesinnung auf dieses Thema unumgänglich, die hier begonnen werden soll.

Eine der frühesten „Razzien“ der Aufklärung bestand in der Ab­schaf­fung des Sündenbegriffs bzw. der Verbannung aus einzelnen Lebens­bereichen. Bereits Mitte des 19. Jahr­hunderts mochte ein protestantischer Volks­schullehrer in der Kirche den Begriff zwar oft noch hören, wurde aber in der beruflichen Welt gehalten, sich nicht mehr an ein solches Menschenbild zu halten. Der bahnbrechende Einfluss von J.-J. Rousseau (1712-1778) kommt uns in den Sinn, der die Sünde vom Wesen des Menschen in seine Umgebung verlagerte. Am Anfang des 21. Jahrhunderts treffen wir nochmals eine völlig andere Ausgangslage an. Der Sündenbegriff im Sinne einer Schuld, in welcher sich der Mensch ursprünglich vorfindet, ist auch aus der Kirche weitgehend entfernt worden. Die relationale Seite ist völlig umgedeutet worden: Entweder ist Sünde eine „tiefe Beziehungsstörung“, in der die Beziehung zu Gott auch eine Rolle hat:

„Der Mensch ist Sünder: Er lebt in einer gründlichen Zerrüttung der ihn tragenden Beziehungen“1.

Ganz individualistisch ist dann diese zeitgemäße Deutung: „Ich werde an meinem einzigen Leben schuldig, wenn ich nicht ein Optimum an persönlicher Erfüllung erreiche.“2 Sünde wird so zur Verfehlung an der optimalen Erfül­lung seiner selbst.

Eine Neu­be­stim­mung bzw. –besinnung ist notwendig und für jeden Pastor und Seelsorger, aber auch für jeden Christen in seiner Berufung als Ehe­partner, Eltern, Ar­beit­nehmer und Ge­­mein­de­mitglied un­umgänglich.

Alan Jacobs, Pro­fes­sor für englische Literatur am Wheaton College und seit 2012 an der Baylor University, hat 2008 eine Kultur­geschichte der Erbsünde geschrieben. Ein Band aus der Reihe Theology in Community unternimmt den Versuch einer Theologie der Sünde. Beide Werke haben dazu beigetragen, meinen Blick für die Auswirkung der Sünde in sämtlichen Lebensbereichen zu schärfen.

Eine Kulturgeschichte der Erbsünde

Alan Jacobs. Orginal Sin. A Cultural History. Harper Collins: New York, 2008. 304 Seiten. Euro 11,20 (Euro 7,13 Kindle-Format)

  • Weltweites Bewusstsein

Was haben die alten Griechen mit den Polynesiern gemeinsam? Zu jeder Zeit und an jedem Ort plagte den Menschen das Bewusstsein, dass nicht alles so ist, wie es sein sollte. Gleich zu Beginn präsentiert der Autor sechs kurze Geschichten, die ein beredtes Zeugnis dieses universalen Bewusstseins ablegen.

Alle Kulturen haben ein Bewusstsein davon, dass der Mensch und die Welt nicht so sind, wie sie sein sollten.

Das Schöne am Buch ist das wellen­artige Vorwärtsschreiten. Wer sich auf die Geschichten einlässt, wird durch sie vorwärts getragen. Nach den Einstiegs­geschichten geht es zurück zur Basis, nämlich zur Geschichte Davids, den Schriften von Paulus und dann zu Augustinus. Der Autor bekennt sich zu den Grundpositionen des Alten und Neuen Testaments sowie zum Kirchenvater, der im fünften Jahrhundert intensiv zu dieser wesentlichen Frage des Menschseins gerungen hatte.

Man kann das Lesen dieses Buches mit einer großen Wand vergleichen, die Stück für Stück mit eindrücklichen Bildern behängt wird. Zu den eindrücklichsten Erzählungen des Buches gehören: Die Auseinander­set­zung Augustinus mit Julian im 5. Jahr­hundert; die Auseinander­set­zung zwischen dem Janseniten Pascal und den Jesuiten im 17. Jahrhundert; Auf­­bau und Scheitern „Harmonias“, eines utopischen Stadtstaates, durch den Unter­nehmer und Frühsozialisten Robert Owen (1771-1858); der Positionswechsel der Schriftstellerin Rebecca West in ihrem Epos über Jugoslawien in den 1930er Jahren.

  • Einer Welle von großem Optimismus folgte die Ernüchterung auf dem Fuß

Mit Eugen Rosenstock Huessy (1888-1973), deutsch-amerikanischem Rechts­historiker und Soziologe, ist Jacobs überzeugt, dass „einige der größten Revolutionen in der Geschichte Europas“ nicht politischer, sondern intellektueller bzw. geistlicher Natur sind (Pos. 1148). Dies war zum Beispiel der Moment, als die Weltgeschichte als universale Ordnung und eine „erste universelle Demokratie“ von Sündern entdeckt wurde (1212). Jacobs bringt sie überraschend mit dem katholischen Feiertag von „Allerseelen“ in Verbindung, der Ende 10. Jahrhundert von der Benediktinerabtei in Cluny initiiert wurde. Dem interessierten Leser empfehle ich besonders die Lektüre des vierten Kapitels.

Wer etwa in die Mitte des Buches vorgerückt ist, stößt – wie oft an einer unerwarteten Stelle – auf einen kurzen Panoramablick des Autors. Ich bemühe mich um eine Übersetzung des in wunderschönem Englisch gehaltenen Abschnitts (2045-2064):

„Pelagius erhebt sich nur, um auf Augustinus zu treffen. Das Loblied der Renaissance über das, was der extravagante italienische Gelehrte Pico della Mirandola die ‚Würde des Menschen‘ nannte, findet ihren Widerpart in Calvins Beharren auf der ‚totalen Verderbnis‘ (total depravity). Sich komfortabel wähnende Pariser Jesuiten wurden durch ein anonymes Tagebuch aufgebracht, welches die Lehre der Erbsünde als eine Lehre anpries, die (allein) fähig ist, sich uns selbst zu offenbaren. Quäker und Freiraum beanspruchende (Latitudinarian) Anglikaner, auf die Einfachheit Gott gefallen zu können beharrend, provozierten eine der brillantesten und langandauerndsten Karrieren in der englischen Geschichte – eine Karriere, die einfach durch den Wunsch ausgelöst wurde, die verdorbene Verfassung der Menschheit neu zu bestätigen und die Hilflosigkeit diese (angemessen) zu adressieren (zum Vorschein zu bringen).“

Mit dem letzten Beispiel bezog sich der Autor auf John Bunyan. Jacobs zeichnet die Geschichte der Erbsünde durch die Jahrhunderte als Wellengang: Ihrer schroffsten Ablehnung folgten stets ihre überzeugtesten Verfechter!

„Unsere Geschichte hat soweit ein klares Muster: Von Zeit zu Zeit in der westlichen Geschichte, wenn sich die Vision der Größe des menschlichen Potentials erhoben hatte, folgte auf ihrem Fuß eine Gegenbewegung in einem gleich mächtigen und lebendigen Bild der menschlichen Gefangenheit in der Sünde, wie wir sie alle von Adam geerbt haben.“

  • Die Lehre der Erbsünde ist intuitiver fassbar als die Ebenbildlichkeit Gottes

Die universelle Dimension des Bösen ist leichter zu erkennen als das Ziel Gottes, zu dem der Mensch geschaffen wurde.

So betrachtet Jacobs das neuentdeckte (Nord-)Amerika als Testfall für die Anwendbarkeit der Lehre der Erbsünde (2978). Im Bestreben, den korrupten alten Kontinent hinter sich zu lassen, siedelten sich Menschen mit (utopischen) Hoffnungen auf dem neuen Kontinent an. Nur zu schnell zeigte sich, dass der Mensch auch in der unberührten Wildnis stets der alte blieb. Die Erbsünde, so lautet eine Kernaussage des Buches, ist verbindendes Element der gesamten Menschheit. Sie betrifft jeden. Es scheint, geht Jacobs noch einen Schritt weiter, dass die Lehre der Erschaffung im Eben­bild Gottes weniger gut geeignet ist, diese gemeinsame Voraussetzung zu schaffen, als die Lehre über die Erbsünde (3118). Denn manche Menschen erkennen die universelle Dimension des Bösen, ohne allerdings die rettende Botschaft der Gnade mit zu bedenken.

Wer so induktiv-erzählend vorgeht wie Jacobs, ergattert bei einer lesebegeisterten Person einen Pluspunkt: Dieser lässt sich von der fesselnden und präzisen Sprache gefangen nehmen. Dies bringt zuweilen den Nachteil mit sich, dass der Leser unverhofft innehält und sich fragt: „Wie ist der große Zusammenhang? Warum bin gerade da gelandet, wo ich bin?“ Der Gang durch die Quellen am Schluss des Buches half mir den Überblick zu behalten. An einigen Stellen fasst der Autor Idee und Verlauf prägnant zusammen. So hieß es sich zu gedulden und weiterzulesen, um an Kapitelanfängen und –enden den großen Bogen wieder ins Blickfeld zu bekommen. Eine für mich neuartige Idee war der biografische Essay am Ende des Buches. Jacobs nimmt den Leser mit auf einen kleinen Spaziergang durch seine Quellen und kommentiert die verwendeten Werke.

  • Böse bis auf die Knochen

Auch wenn wir aus der ursprünglichen Unschuld gefallen sind, sind wir doch jetzt böse bis auf die Knochen.

„Unde hoc malum?“ Warum ist der Mensch so wie er ist – böse? Diese Grundfrage, die als Refrain durch das Buch hallt, verlangt nach einer Antwort. Wer literarisch so gewandt schreibt, dem gehört auch die Aufmerksamkeit beim Lesen des Nachwortes. Es war für mich wie bei einem Film, bei dem man auch noch die Zusatzclips sehen will. Der Songtext „Wir sind schlecht bis auf die Knochen“ („bad to the bone“) begleitete Jacobs nicht nur beim Schreiben. Diese Einsicht bereitet den Boden für ein umfassendes Verständnis des Menschen und seines Problems. Jacobs fasst das augustinische Verständnis in fünf Punkten zusammen (4142-4148):

  • Jeder verhält sich auf eine Art und Weise, die wir in der Regel als selbstsüchtig, gewalttätig, arrogant etc. bezeichnen.
  • Wir sind veranlagt, uns auf diese Weise zu verhalten. Wir folgen nicht nur den Beispielen von anderen.
  • Dieses Ver­halten wird richti­ger­weise als „schlecht“ und „sündig“ bezeichnet.
  • Es war nicht ursprünglich Bestandteil unserer Natur. Wir sind aus einer ursprünglichen Unschuld gefallen.
  • Nur ein übernatürliches Eingreifen Gottes, welches die Christen Gnade nennen, kann uns aus dem Sumpf herausziehen, den wir uns selbst gegraben haben.

„Wenn es eine angemessene Antwort, eine wirklich weise Antwort auf die Erzählung dieses Buches gibt, dann beginnt sie sicherlich mit der Erkenntnis, dass jeder ‚schlecht bis auf die Knochen ist‘“ (4179).

Eine Theologie der Sünde

Christopher W. Morgan and Robert A. Peterson. Fallen: A Theology of Sin (Theology in Community). Crossway: Wheaton, 2013. 320 Seiten. Euro 13,70 (Kindle-Version)

  • „Sünde“ wieder anschlussfähig machen

Angesichts der Überhöhung eines gefährlichen Toleranzbegriffs bei gleichzeitigen schlimmen Gräueln ist es dringlich, die Sprachfähigkeit über die Sünd­haftigkeit des Menschen wiederzu­gewinnen.

Wenn ein Thema von der Bildfläche verschwunden ist, muss erst der Anschluss an das Erleben der Menschen wieder hergestellt werden. Der erste Aufsatz von D. A. Carson widmet sich diesem Thema. Von Errettung kann erst gesprochen werden, wenn wieder klar ist, von was wir errettet werden müssen (Pos. 258)! Sünde stellt das Problem in der Heilsgeschichte dar, für das Gott eine Lösung bereithält. Das Umsetzen des göttlichen Heilsplans wird zwischen 1. Mose 3 und Offenbarung 21 geschildert. Jesus würde sein Volk von deren Sünden retten (Mt 1,21). Sünde ist Rebellion und gegen den Schöpfer gerichtet. Sie hat eine kosmische Dimension. Satan kämpft gegen Gott. Jeder Mensch, ausgenommen Gottes Sohn, ist von ihr betroffen. Ohne Verständnis von Sünde ist kein richtiges Verständnis von Leid und Bösem möglich. Das Zurückgewinnen der Sprachfähigkeit angesichts weltweiter Gräuel, aber auch der Verwirrung über die Unterscheidung von Gutem und Bösem und der damit verbundenen Hochhaltung eines gefährlichen Toleranzbegriffs ist von höchster Dringlichkeit.

In den nächsten Aufsätzen geht es um das Thema der Sünde in den verschiedenen Teilen der Bibel.

  • Sünde im Gesetz Moses und in den Schriftpropheten

Paul R. House fährt fort mit einer Analyse des Sündenbegriffs im Gesetz. Er greift dafür auf eine ergiebige Methodik zurück: Er nimmt 2Mose 34,1-9 heraus, um den Text zu analysieren und dann in einer Synthese Antworten herauszuholen. Die dort erwähnte Triade von „Schuld, Übertretung und Sünde“ wird im übrigen AT 13-mal wiederholt. Das gleiche Vorgehen wiederholt House anhand von 1Mose 3.

Er stellt fest, dass die frühen Propheten beschreiben, wie lang andauernde, gewohn­heitsmäßige Sünde Israel über die Zeit zugrunde richtete (775). Dabei hatte Gott in den Zehn Geboten einen Maßstab gegeben, wie seine Beziehung zum Volk Israel gestaltet werden soll (862). In 3Mose 18-19 wird anhand des Schlüsselbegriffs „unrein“ die Heiligkeit Gottes dargestellt. Es handelt sich um eine detaillierte Ausarbeitung von Gottes Standards für das Alltags­leben seines Volkes. 4Mose 13-14, die Schilderung von Israels Ungehorsam nach der Erkundung des verheißenen Landes, dokumentiert als Quelle der Sünde fehlenden Glauben an Jahwe. Der Text beantwortet die Frage, ob das Volk auch mit eingehender Erfahrung von Gottes Gegenwart weiter sündigen würde: Ja, leider.

Das Buch Richter ist vom Begriff der Sünde angefüllt. Mit Sicherheit ist dies ein Buch, das für die Auslegung in der Gemeinde nicht vernachlässigt werden darf. Die Samuelbücher zeigen auf, dass auch Männer Gottes, die Gott gegenüber Treue hielten, vor der Sünde nicht verschont blieben. 2Könige 17 stellt den schnellen Verfall des Gottesvolkes durch Sünde in einzigartiger Weise dar. Die Schriftpropheten erweitern ihren Fokus über Israel hinaus. Amos erwähnt die Sünden der regionalen Nachbarvölker. Jona stellt die (temporäre) Buße und Umkehr Ninives dar; Nahum zeigt das spätere Gericht über dieselbe Stadt. Auch die Völker lebten nicht gemäß ihren eigenen ethischen Standards (1335). Der in seiner Form einzigartige Bußpsalm 51 demonstriert die Tatsache, dass Sünde im Herzen des Menschen wurzelt und ihren Ursprung im sündigen Sein des Menschen findet. Sie betrifft nicht nur Einzelne, sondern wirkt sich im Kollektiv des Volkes aus (siehe Nehemia 9).

  • Sünde in den Evangelien, der Apostelgeschichte, Hebräer und Offenbarung

Im vierten Aufsatz wendet sich Robert W. Yarbrough dem NT zu. Ein indirekter Beweis für den Tatbestand der Sünde wird durch die häufigen Aufforderungen zu Buße und Umkehr erbracht. „Wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr auch alle umkommen.“ (Lk 13,3+5) Das stellt Jesus angesichts zweier Massaker fest. Die Apostelgeschichte hallt vom Echo umkehrender Menschen wieder. Paulus wusste z. B. in Jerusalem von der Umkehr der Heiden zu berichten (Apg 15,3). Die Sendschreiben der Offenbarung (Offb 2+3) zeigen die Notwendigkeit der Buße innerhalb von Gemeinden auf. In der Apg wird Sünde auch im zivilen Sinne verwendet (Apg 25,8). Vom Glaubenshelden Moses lesen wir in Hebr 11,25, dass er den zeitlichen Verlockungen der Sünde floh. Eine Priorität des Gemeindelebens muss das Zurechtbringen von Sündern sein (Jak 5,15f). Der Sündenbegriff in den Johannesbriefen muss sorgfältig untersucht und differenziert betrachtet werden (z. B. den vordergründigen Widerspruch, dass Christen nicht sündigen und trotzdem weiter sündigen). Es ist gut, im Sinn zu behalten, dass Sünde aus dem Herzen des Menschen kommt (Mk 7,20-23).

  • Sünde in den Paulusbriefen

Paulus erwähnt am häufigsten Habsucht, unangemessenes sexuelles Verhalten und gefährliches Sprechen als Tatsünde.

Douglas M. Moo, anerkannter Paulus-Forscher, beschert in seinem Aufsatz einen faszinierenden Einblick in die Paulusbriefe. Dieses Kapitel gehörte für mich zu den ergiebigsten, aber auch anspruchsvollsten. Moo steht im Dialog mit aktuellen Vertretern der Paulusexegese. Er beginnt damit, das Wortfeld „Sünde“ zu analysieren. Das führt ihn zum Schluss, dass Paulus das Thema überaus wichtig und dass er sich den verschiedenen Dimensionen und Facetten sehr wohl bewusst war (2121). Individuell begangene Sünden begründen ein Prinzip von so durchdringendem und dominanten Einfluss, dass sich daran das Schicksal einer Person entscheidet (im Römerbrief finden sich 48 von 64 Vorkommen von „Sünde“). Für Paulus war klar, dass das wirkliche Problem nicht das gewohnheitsmäßige Sündigen ist, sondern das hilflose Gefangensein in der Sünde (2142). Das Gesetz konnte den Menschen nicht von der Sünde befreien. Es konnte die Sünde nur definieren und akzentuieren. Sünde wird letztlich nicht in Beziehung zum Gesetz, sondern von Gott her definiert (siehe Röm 1,21). Paulus erwähnt am häufigsten drei Gruppen von Sünden: Habsucht, unangemessene sexuelle Beziehungen und gefährliche Worte. Dabei umfasst Sünde nicht nur unsere Taten, sondern ebenso unsere Denkmuster. In Kürze schafft Moo es auch, den Begriff „Fleisch“ bei Paulus differenziert zu erklären (er nennt u. a. den Gebrauch „menschliche Verfassung in seiner Gefallenheit“, 2278). Eine neue Facette in der Auslegung des wichtigen Abschnitts in Röm 5,12-21 ist die Betonung nicht auf der Ursprungssünde (original sin), sondern auf dem Ursprungstod (original death). Auch bei den Konsequenzen der Sünde beschreibt Paulus ein weites Feld: Tod, Zorn, Bedrängnis, Fluch, Zerstörung. Warum sündigt ein Christ weiter? Weil er auf der Seite des „noch nicht“ von Gottes eschatologischem Werk lebt (2483). Der Christ steht jedoch nicht länger unter der Herrschaft der Sünde.

  • Sünde in der biblischen Geschichte

Christopher W. Morgan nimmt im nächsten Beitrag die Entwicklung der Sünde durch die biblische Heilsgeschichte in den Blick. Begonnen mit der Schöpfung, stellt Morgan fest: Die innewohnende Güte der Schöpfung lässt keinen Raum für einen Dualismus zwischen gutem Geist und schlechter Substanz offen. Sünde ist keinesfalls von Gott geschaffen. Der Sündenfall bringt einen großen Kontrast in dieses Bild der Harmonie innerhalb des Tempelgartens in Eden ein. Abgeschnitten vom Baum des Lebens waren Adam und Eva sowie alle ihre Nachkommen zum Tod bestimmt.

Sünde wurde zu unserer Quasi-Natur, während sie der von Gott gewollten Natur des Menschen entgegensteht.

1Mose 4-11 enthüllt die doppelte Tatsache, dass der Mensch zwar in Gottes Bild geschaffen, jedoch in seinem Sein und Handeln von der Sünde gekennzeichnet ist. Sie verfehlen alle ihre Bestimmung, Abglanz von Gottes Herrlichkeit zu sein (Röm 3,23). Korruption und Verderben prägen die gesamte Schöpfung fortan (Röm 8,20-22). Der Akt von Adam steht repräsentativ als gerichtlicher Grund für die Verdammung des gesamten Menschengeschlechts. Sünde wurde zu unserer Quasi-Natur, während sie in Wirklichkeit unserer Natur entgegen stand (vgl. Eph 2,1-3). Wer nicht an Jesus glaubt, steht unter Gottes Zorn (Joh 3). Die Schrift verbindet die Verderbnis mit einer weiten Palette menschlicher Verhaltensweisen und Kräfte. Das Leid ist nicht Teil von Gottes ursprünglicher Schöpfung, sondern Nebenprodukt der Sünde. Die Sünde brachte die zwischenmenschlichen Beziehungen durcheinander. Sie ist zutiefst selbst-zentriert und sucht die eigene Herrlichkeit. Jesus erlösendes Werk betraf alle Auswirkungen der Sünde. Es wird eine Zeit kommen, in welcher das Reich Gottes nicht nur in die Welt einbrechen, sondern sie fundamental bestimmen wird.

  • Sünde in der historischen Theologie

Während Moo mit klarem Blick fürs Detail und mit vielen Fußnoten operierte, versteht es Bray, den Blick fürs Ganze zu erhellen. Das Kapitel liest sich flüssig und hält einige Überraschungen bereit. Bray beginnt mit dem jüdischen Christen, der vom AT her einiges über die Sünde wusste. Die intellektuellen Heiden, die sich bekehrten, brachten andere Konzepte von Gut und Böse mit. Zum Beispiel war den Römern die Jungfrauschaft ein Zeichen der Reinheit und sexueller Verkehr in sich eine Sünde (3416). Die Heiden waren auch anfälliger für die Fehlinterpretation der Sünde, z. B. der Deutung der Sünde als materielle Existenz. Es erstaunt deshalb nicht, dass sich fast jeder Kirchenvater ausführlich mit 1Mose 1-3 auseinandersetzte.

Eine wichtige Konsequenz der augustinischen Lehre von Sünde und Gnade war ein vertieftes Interesse an Jesu Sühne­werk am Kreuz. Parallel dazu glaubte die Westkirche, dass Sünde als erblicher Defekt aufzufassen sei, der als Makel der Seele von einer Generation zur nächsten weiterging. Dieser Defekt musste – logisch weitergedacht – von Maria entfernt worden sein (bei der Ankündigung des Engels Gabriel). Dieses Sündenverständnis erleichterte auch den Gedanken, dass Sünde ausgetilgt werden könne. Das Mittelalter entwickelte ein ausgeklügeltes System mit verschiedenen Graden an Austilgung. Der Unterscheidung von sieben Todsünden gewinnt Bray eine positive Note ab: Sie erinnern daran, dass Sünde nicht nur eine Aneinanderreihung von Handlungen ist.

Die Reformation brachte einen Wechsel im Sündenverständ­nis, der es ermöglichte zu erkennen, dass der Mensch in sich von Sünde behaftet sein kann und zugleich in der Einheit mit Christus frei von Sünden.

Die Reformation brachte einen grundsätzlichen Wechsel des Sünden­ver­ständ­nisses mit sich. Luther durchbrach die logische Unmöglichkeit, dass nur ein unschuldiger Mensch vor Gott stehen könne. Jesus starb nicht nur für Sünden, sondern auch für den Sünder. Luther dachte nicht, dass der Sünder deswegen in seiner Sünde weiterleben könne. Durch seine Einheit in Christus musste sich sein Leben ändern. Die Reformierten setzen ihr Augenmerk weg von der Sünde hin zur dahinter liegenden Ursache. Dadurch entstand eine stärkere Betonung auf Christi gegenwärtige Funktion als Mittler zur Rechten des Vaters. Gleichzeitig betonte Calvin, dass sündige Menschen der Ebenbildlichkeit Gottes nicht völlig verlustig gegangen waren.

Sehr interessant im Blick auf die Gegenwart ist Brays Beschreibung der Heiligungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Viele Menschen gelangten zur Ansicht, dass es ein aktives Vorgehen der Menschen braucht, damit sich die Gnade Gottes im Leben auswirken konnte. Der Puritanismus kommt unter diesem Gesichtspunkt schlecht weg (eine These, die zu überprüfen wäre). Eine Auswirkung für die folgenden Generationen ist bezeichnenderweise die Trivialisierung der Sünde und die Verwischung des Heiligungbegriffes. Die Reformatoren sahen im Gegensatz zur Heiligungsbewegung das christliche Leben als Akt andauernder Buße und einem wachsenden Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit in der Gegenwart Gottes. Dies stand im Gegensatz zu einem zweiten Segen, der die Gläubigen zum Extrem der Sündlosigkeit und zu höheren Sphären der Heiligkeit führen würde. Diese Seiten gehören zu den Aha-Momenten des Buches.

Eine Theologie der Sünde für heute

Wie muss eine Theologie der Sünde für die heutige Zeit aussehen? In diesem Beitrag hatte ich Mühe, diese Frage am Schluss auf Anhieb beantworten zu können. Am markantesten bleibt die Einsicht zurück, dass eine zu optimistische Sicht des Menschen die Notwendigkeit zur Erlösung des Menschen herabsetzt und alternative Erklärungen zur menschlichen Natur salonfähig macht. Deutlich sichtbar wird die Verwischung des Sündenbegriffs in einer stark individualistischen statt objektiven Beschreibung. Sünde ist das Verfehlen von Gottes Herrlichkeit und Rebellion gegen seine gesetzten Standards. Jede Sünde betrifft den Einzelnen, aber auch das menschliche „Netzwerk“. Sünde ist willentlicher Akt wie auch gegenwärtiger Status menschlicher Existenz. Sie widerspiegelt die tiefe Verderbtheit des menschlichen Herzens. Sie setzt sich gleichermaßen aus Taten, Unterlassung und Unvollkommenheit zusammen. Sie betrifft unsere Motive und unser Handeln. Sünde ist Abwesenheit des von Gott geschaffenen Guten und fordert den Zorn Gottes heraus. Sünde hat einen geschichtlichen Anfangspunkt und ein angekündigtes Ende.

  • Satan, Sünde und Böses

Der Teufel nutzt das Sündersein des Menschen als Versucher, Verräter und Peiniger. Er zieht den Sünder zum Sündigen und klagt ihn dann an, um ihn in die Verzweiflung zu treiben.

Ein Dutzend Mal wird Satan im NT „der Böse“ genannt. Er ist ein gefallenes Geschöpf (vgl. 1Tim 3,6). Sydney H. T. Page beschreibt Satan in drei verschiedenen Rollen: Als Versucher, der Menschen in die Sünde ziehen will; als Verräter, der Fehler verbreitet; als Peiniger, der Schmerzen zufügt. Als Versucher destabilisiert er in sexueller Hinsicht, fördert die Unwilligkeit zu vergeben und reizt zum Zorn. Als Verräter ist er Vater der Lüge, verblendet Ungläubige und verbreitet über falsche Lehrer Irrlehre. Er steht auch hinter falscher Enthaltsamkeit (1Tim 4,4-5). Zudem verklagt er die Gläubigen. Als Peiniger prüfte er Hiob den Gerechten. Bei der Kreuzigung von Jesus stand er in der unsichtbaren Welt als treibende Kraft dahinter. Ebenso begehrte er Petrus, zu Fall zu bringen (Lk 22,31f), so wie er auch die ersten Christen durch Verfolgung mürbe machen wollte (1Thess 3,5; 1Petr 5,8f; Offb 12-13). Christus errang durch das Kreuz einen überwältigenden Sieg über die Mächte der Finsternis (Kol 2,15). Durch die römischen Christen würde Satan schon in der Jetztzeit unterworfen werden (Röm 16,20).

  • Sünde und Versuchung

Unsere Versuchung kann uns viel über uns selbst offenbaren. In jedem Umstand des Lebens, sei es in Arbeit, Vergnügen oder Härten, lauert die Gefahr der Versuchung. Wenn wir der Versuchung nachgeben, entfernen wir Gott vom Thron unseres Lebens. Gott versucht niemanden; jeder Test, den er den Seinen zumutet, sucht der Teufel jedoch in Versuchung zu verwandeln. Erstaunt rieb ich mir die Augen über der Frage, ob Jesus zur Sünde versucht werden konnte (Mt 4,1-11; Hebr 4,15). David B. Calhoun bejaht dies. Wenn Gott uns in Versuchung führt, dann stets für eine gerechte Sache, nämlich zu seiner Herrlichkeit und zu unserem Guten. Gethsemane offenbart die tiefste Bedeutung des Gebets: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Gott verheißt, uns beim Test nicht über Vermögen hinaus zu versuchen. Im Rückblick auf seine Hilfe können wir danken, im Blick auf die Zukunft um Gottes Hilfe flehen. Wir gehen immer wieder in die Falle, denn die Sünde erscheint uns klug und erfüllend. Doch wir sollen dem Teufel keinen Einstiegspunkt anbieten. Glücklicherweise erlitt der Teufel schon manche Niederlage durch den Sieg von Menschen, die Gott gehorsam waren. Sünde und Versuchung sollten gleichermaßen gefürchtet werden. Wir dürfen wissen, dass Gottes Wort angesichts der Versuchung immer wahr bleibt – was uns auch anderes eingeredet werden mag.

  • Vergebung, die zum Singen bringt

Um zur wahren Vergebung zu kommen, muss der Mensch erkennen, dass nur Gott alleine gut ist.

Was für ein passender Schluss dieses Buches. Was mit Seufzen anfängt, endet mit Singen. Bryan Chappell versteht es, unseren Blick auf den Schatz der Vergebung zu lenken. Vorsicht, denn das Streben nach Heiligung ohne die Einheit mit Christus kann uns versklaven! Leider ist die Vergebung durch seine Gnade allein nur schwer in Einklang mit unseren natürlichen Ge­dan­ken­mustern zu bringen. Wahre Vergebung, so erklärt der Autor anhand der Geschichte des reichen Jünglings (Mk 10,17-22), beginnt mit dem Zugeständnis, dass nur Gott alleine gut ist. Doch die Angelegenheit ist mit einer weiteren Hürde verbunden. Sogar den Akt der Vergebung können wir zu einem Ritual werden lassen, Gott durch unsere Leistung zufrieden stellen zu wollen. Wir können jedoch nicht Vergebung empfangen, bevor die Realität unserer Sünde uns wirklich getroffen hat. Wie lange versuchen wir die Tragweite unserer Sünde herunterzuspielen oder gar zu verleugnen?! Das bußfertige Herz begehrt jedoch das Bekenntnis. Bei der Vergebung geht es in erster Linie um die Erneuerung unserer Gemeinschaft mit ihm.

Fazit:

Wer nur die moderne Botschaft hört: „Du bist genial!“ und „Sei nett!“ wird gleichgültig oder wendet sich von der wunderbaren Botschaft der Vergebung durch Christus ab.

Wer predigt und lehrt heute über die Erbsünde und die Auswirkungen in unseren Ehen, Familien, Schulen, Arbeitsstätten? Ein zuverlässiger Gradmesser, wie klar diese Lehre verkündet wird, ist die Sonntags­schule. R. C. Sproul spricht von zwei Hauptbotschaften, die heute dort ihren Platz haben: „Du bist genial!“ und „Sei nett!“ Da ist wieder die überzogene Zukunfts­hoffnung, die sich auf den Men­schen stützt. Auf den ist jedoch kein Verlass. Menschen, die diese Botschaft über Jahrzehnte inhaliert haben, werden oft entweder gleichgültig oder wenden sich vom christlichen Glauben ab. Da ist mir Alexander Solschenizyn lieber, der im Grauen des russischen Archipel Gulag zur Einsicht gelangte, dass er, wäre er auf der Seite der Lageraufseher gestanden, selber einer der tyrannischen Sorte geworden wäre. Setzen wir unsere Hoffnung besser auf den souveränen Gott und seine Gnade!

Eine Theologie der Sünde ist keine Spielerei von Theologen, sondern ein Muss für Christen, um den Menschen richtig zu sehen. Das gilt besonders für Menschenarbeiter, also Sozialpädagogen, Psychologen, Therapeuten, Seelsorger und Lehrende aller Stufen.

Ich hoffe und bete, dass es wegen der momentanen Verachtung der Lehre über die Sünde bald zu einer Wende kommt.


  1. Michael Herbst. beziehungsweise: Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge. Neukirchener: Vluyn, 2013. S. 192. Vgl. die Entfaltung bis S. 213. 

  2. A.a.O., S. 32.