Johannes Reimer, promovierter Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der TH Ewersbach und an der University of South Africa (UNISA), legt mit diesem Buch sein 2017 zunächst in englischer Sprache erschienenes Werk Missio politica vor. Ähnlich wie bei seinem bekannten Werk Die Welt umarmen (vgl. dazu BuG 2/2010, S. 76ff.), sieht der Autor die Gemeinde verpflichtet, sich als Teil ihrer missionarischen Bemühungen auch sozial-politisch und kulturell an ihrem Standort einzusetzen.
Ausgehend von Gen 1,26-28 erkennt Reimer ein kulturelles bzw. politisches Mandat für die Menschen (S. 30ff.). Auch wenn Israels Mission zentripetal gewesen sei (es lädt die Nationen ein, zu kommen und die Herrlichkeit Gottes in Zion zu sehen) (S. 28), lasse sich schon im AT Folgendes erkennen: „Gott ist ein Gott der sozialen Gerechtigkeit. Wo er regiert, haben Ungerechtigkeit und Unterdrückung keinen Raum. Jeder, den er beruft und segnet, um seine Mission auszuführen, wird an der sozialen Gerechtigkeit beteiligt sein. Er wird sich also auf politischer Ebene für eine bessere Welt einsetzen“ (S. 37). An Gottes Mission teilzuhaben bedeute demnach „an Gottes Befreiungshandeln in der Welt teilzuhaben“ (S. 43). Sie suche „das Leben aller Nationen zu transformieren und hat daher deutlich politische Implikationen“ (S. 41). Gerechtigkeit gelte in allen Aspekten des Lebens, auch im Bereich der Wirtschaft und der Ökologie (S. 43). Vielen Beobachtungen des Autors (die Art der Mission Israels, der politische/kulturelle Auftrag an den Menschen) kann zunächst gefolgt werden. Ohne Frage ist die Menschheit und speziell das Volk Gottes berufen, Recht und Gerechtigkeit zu üben. Bis auf wenige Fehler (Jes 35 hat keine 14 Verse und ist offenbar die falsche Belegstelle; S. 25) ist die Darstellung fundiert und gut zu lesen. Dennoch sind die aus den Beobachtungen gewonnene Folgerungen nicht immer überzeugend. Zu wenig wird das sog. Protoevangelium (Gen 3,14-19) mit der Verheißung, dass der Messias selbst die Rettung schafft, in den Blick genommen. So verschiebt sich der Heilsweg vom alleinigen Retter, der den Sieg davonträgt auf die Menschen, die das Heil wirken sollen. Die offenbar negative Darstellung der kulturellen Identitätsbildung bei der Linie Kains in Gen 4,17ff. berücksichtigt Reimer nicht. Prophetische Texte wie Jes 2,2f., Sach 8,22f. oder Jes 51,4f. bezieht der Autor offenbar auf die Gegenwart, was leider im Ergebnis weitreichende Folgen hat. Nach Überzeugung des Rezensenten wird unser Herr erst dann politisch regieren, wenn er selbst wiederkommen und sein Reich aufrichten wird (u.a. Lk 19,11ff.; Mt 23,37ff.; Apg 1,11; Sach 14,4; Jer 23,5f.; Hes 43,2ff.; Jes 11,1ff.). Ausgehend von der Gründung des Reichs durch den Messias-König werden sich dann die von Reimer zitierten Bibelstellen erfüllen.
Dieses postmillenialistische Reich-Gottes-Verständnis kommt auch in Kapitel 4 (Mission im Neuen Testament) des Autors zum Tragen. Danach ziele Gottes Mission, die Mission Dei, darauf ab, sein Königreich in dieser Welt zu verwirklichen (S. 50), was die soziale und politische Dimension miteinschließe. Auch hier fällt im Ergebnis eine unglückliche Akzentverschiebung auf. Ja, unser Herr hat in seiner Person das vollkommene Königreich angeboten, welches Auswirkungen auf die soziale und politische Dimension gehabt hätte. Allerdings wurde sein politisches, irdisches Reich nicht gegründet. Vielmehr war es die Mission Jesu, Frieden zwischen Gott und Mensch zu schaffen und sein Leben als Lösegeld zu geben (Mk 10,45). Die Mission des NT stellt in überwältigender Weise die geistliche Verbindung zwischen Gott und Mensch durch den Herrn Jesus Christus dar – und eben nicht zunächst oder teilweise eine soziale oder politische Verbindung der Menschen untereinander. Wenn Gerechtigkeit und tätige Nächstenliebe folgen, dann nur durch infolge der eigentlichen Mission Gottes durch Jesus Christus. Dem Beispiel eines verachteten und leidenden Herrn muss die Gemeinde Jesu in ihrer Berufung folgen.
Die Verantwortung der Gemeinde für die Welt leitet Reimer von ekklēsia, der Herausgerufenen, ab. Ekklēsia bedeute wörtlich übersetzt „eine politisch verantwortliche Versammlung, die herausgerufen wird, um über Alltagsfragen in der Gemeinschaft abzustimmen“ (S. 62f.). Die Gemeinde sei ebenso aufgerufen, den sozio-kulturellen Raum ganzer Völker zu transformieren (S. 67f.). Diese außerbiblische Herleitung wirkt angesichts der himmlischen Identität und Ausrichtung in Christus nicht schlüssig. Das NT verwendet ekklēsia anderes als im außerbiblischen Gebrauch. Danach ist Gemeinde Jesu zunächst die Gesamtheit derer, die Jesus als den Christus, als Erlöser und Herrn, bekennen (Apg 2,47; 1Kor 15,9; Kol 1,18.24). Sie ist zu Jesus hin herausgerufen.
In den Kapiteln 6 und 7 stellt Reimer die politische Aufgabe der Kirche sowie die Bedeutung der Friedensmission dar. Hierbei übersieht der Autor die Priorisierung der Gläubigen bei der christlichen Diakonie (Gal 6,10; 1Tim 5,10; 6,18; 2Thess 3,13). Ebenso erwähnt er nicht die Bedeutung der Liebe als Christen untereinander für die Verkündigung (Joh 13,35). Infolgedessen wird der Ort der christlichen Diakonie verschoben bzw. mit einer anderen Priorität versehen. Trotzdem enthalten die Kapitel auch wertvolle Einsichten. Reimer wendet sich treffend gegen die sog. westliche Sponsorenmentalität und rät: „Nicht das, was wir den Menschen bringen, entscheidet über Erfolg oder Misserfolg, sondern das, was wir bei den Menschen selbst finden.“ (S. 92) Wenn man diesen Satz ausschließlich auf materielle Güter bezieht, kann man grundsätzlich zustimmen. Mit Jesus bringen wir den Menschen allerdings das Wertvollste, und es ist nicht bei den Menschen selbst zu finden.
Johannes Reimer. Die politische Mission der Kirche. Wie wir teilhaben an Gottes Wirken in der Welt. Holzgerlingen: SCM R. Brockhaus 176 S., Paperback, 17,99 € ISBN: 9783417241693
Den Prozess der gesellschaftlichen Transformation erklärt Reimer in Kapitel 8. Ausgehend von einem gemeinsamen Engagement für ein besseres Leben über den Austausch über aktuelle Bedürfnisse soll eine Auseinandersetzung mit dem Weltbild stattfinden, die schließlich im Idealfall in den Ruf in die Nachfolge Jesu mündet (S. 98ff.). Dieser Prozess ist sicherlich ein interessanter Ansatz, Menschen in die Nachfolge Jesu zu rufen, allerdings nicht der einzige Weg. Vielmehr verkündigen Jesus und die Apostel das Evangelium, ohne vorher konsequent die Prozessschritte eingehalten zu haben. Sie verkündigten den Herrn ohne wissenschaftlich-reflektierte Planung, sondern sorglos (Mt 10,19; Lk 12,11f.) und ohne menschliches Kalkül (z.B. 1Thess 2,3ff.; 1Kor 2,2ff.). Die These Reimers, dass wir weniger für die Menschen, sondern mit ihnen arbeiten sollen (S. 103), ist zu hinterfragen. Reimer begründet die Verpflichtung der Kirche zur Zusammenarbeit mit Ungläubigen mit dem kulturellen Mandat aus Gen 1,27 sowie mit Beispielen aus dem Leben Jesu (Lk 19,7; 10,25ff.; Joh 4,1ff.; Mk 6,35ff.). Beide Gründe überzeugen nicht. Das kulturelle Mandat kann zwar die gesamte Menschheit betreffen, allerdings ist damit noch nicht dargelegt, warum Christen dieses Mandat in einem Joch mit Ungläubigen ausüben sollen. Die zitierten Beispiele aus dem Leben Jesu zeigen lediglich auf, dass sich Jesus der Ressourcen der Ungläubigen bediente und seine Umgebung achtete. Daraus aber eine Mitarbeit am Reich Gottes zu folgern, überstrapaziert die jeweiligen Bibelstellen. Dass die biblischen Verkündiger nichts von denen aus den Nationen nahmen (3Joh 7), entsprach höchstwahrscheinlich Gottes Willen und stand im Einklang mit anderen biblischen Texten (z.B. Esr 4,3).
In den Kapiteln 9 und 10 lässt Reimer die Praxis sprechen. Er greift den Praxiszyklus nach J.N.J. Kritzinger auf, der als fünf Schritte die Beteiligung, die Kontextanalyse, die theologische Reflexion, Spiritualität und die konkreten Planungen benennt. Reimer betont die Notwendigkeit, Kontextanalysen durchzuführen, um die Probleme der Menschen in der gemeindlichen Umgebung zu erkennen. Christliche Gemeinwesenarbeit wie „Tag des sauberen Bürgersteigs“, „Bezahlbarer Wohnraum“, „Den Marktplatz fegen“, „Die Schaffung von Arbeitsplätzen“ usw. sei sehr förderlich, um das Gesicht einer Stadt zu verändern bzw. zu transformieren. Der Leser entdeckt hier einige wertvolle Gedanken, wie die Nähe zu den Mitmenschen gesucht und in die Tat umgesetzt werden kann. Die Beispiele, die Reimer benennt, spornen tatsächlich an, kreative Ideen zu entwickeln und eine größere Anzahl von Menschen ansprechen zu können. Allerdings wirkt der Praxiszyklus wie eine wissenschaftliche Technik, die auf Erfolg abzielt, aber wenig biblisch begründet ist. Dass Jesus seine Jünger und Apostel lediglich mit seinen Worten und seinem Geist aussandte, muss für die Gemeinde Jesu ausreichen. Offenbar ist der Gläubige auch ohne vorherige Kontextanalyse in der Lage, das Evangelium gottgemäß weiterzugeben. Die Bibel sieht jedenfalls eine solche Kontextanalyse nicht vor; auch Apg 17,22ff. ist nicht als Verpflichtung zu verstehen, eine solche der außerbiblischen Wissenschaft entnommenen Technik vor der Verkündigung anzuwenden.
Kapitel 11 zeigt auf, wie Gemeinde aufgestellt sein soll, um ihrer Zweckbestimmung als gesellschaftlich orientierte Organisation gerecht zu werden. Reimer befürwortet hier das APEPL-Modell, auch bekannt als AHELP- oder K5-Modell. Apostel, Propheten, Evangelisten, Pastoren und Lehrer sind heute dazu berufen, die Gemeinde Jesu weiterzuentwickeln und sie auf ihren Auftrag auszurichten. Sämtliche Dienste/Ämter sieht er für die heutige Gemeinde verpflichtend an, weniger sei fatal (S. 154). Mindestens die Dienste/Ämter der Apostel, Propheten und Evangelisten sieht er auch für Frauen geöffnet (S. 144, 148, 150). Sofern die Mitglieder der Kirche für die jeweiligen Dienste freigesetzt würden, könne dies zu einer „neuen Reformation“ führen (S. 155). Dass nach Ansicht vieler Bibelausleger (z.B. Stadelmann, Hoehner, Grudem, MacArthur) und der Kirchenväter (Ignatius, Irenäus, Tertullian) manche Dienste/Ämter wie z.B. der apostolische Dienst zeitlich beschränkt waren (siehe insbesondere Eph 2,20), verschweigt Reimer. Stattdessen sieht er in der Verwirklichung des APEPL-Modells die Grundlage für eine „neue Reformation“ (S. 155).
Im Schlusskapitel 12 zeigt Reimer die Verpflichtung der Gemeinde Jesu auf, auch global politisch aktiv zu werden und sich gegen wirtschaftliche Ungerechtigkeit, für die Lösung des globalen Flüchtlingsproblems, für Friedensmissionen und gegen kriminelle Strukturen einzusetzen. Als praktisches Beispiel führt er die Wirksamkeit von organisierten Boykotten ein, um lokale Discounter zu zwingen, bestimmte, die Ungerechtigkeit fördernde Produkte aus dem Sortiment zu ziehen (S. 157f.).
Es fällt nach dem Lesen des Werks schwer, ein Fazit zu ziehen. Auf der einen Seite wird der Leser viele Anregungen für missionarische Ideen und Einsatzmöglichkeiten finden. Positiv fällt der leichte Sprachstil des Autors sowie seine Fähigkeit, kurz und bündig auf das Wesentliche zu kommen, auf. Seinem Anspruch, die von ihm aufgeworfenen Fragen nur anhand der Bibel zu klären (S. 17f.), wird der Autor jedoch nicht gerecht. Zu oft greift Reimer selektiv nach Bibelstellen, die seine Position unterstützen und lässt entgegenstehende Schriftstellen nicht zu Wort kommen. Meines Wissens ist 2Kor 6,14-18 der einzige kritische Abschnitt, auf den Reimer bewusst näher eingeht. Einerseits können bibeltreue Christen nur zustimmen, wenn Jesusnachfolge tätige Nächstenliebe bedeutet. Sie müssen dann allerdings hellhörig werden, wenn sich die ohnehin schon verweltlichte Gemeinde Jesu an die moralischen, sozialen und politischen Maßstäbe der Welt anbiedert. Zu oft ist eine Verkündigung die Folge, die von Menschengefälligkeit, List, Unlauterkeit, Schmeichelei usw. gekennzeichnet ist (1Thess 2,3ff.). Auf der Suche nach Anerkennung ist die Gemeinde angefochten, bei der Politik unliebsame Themen und Randgruppen außen vor zu lassen, um bei der Mehrheit anerkannt zu sein. Die Kirchengeschichte ist leider voll von Beispielen, bei denen die Kooperation von Christen mit der Politik erheblichen Schaden nach sich zog. Gemeinden mit sozial-politischer Ausrichtung stehen in der Gefahr, sich von ihrer christusgemäßen Berufung einer leidenden Gemeinde (z.B. Phil 1,29) zu lösen und stattdessen die Anerkennung ihrer Umgebung zu suchen. Sie müssen wieder neu ihren Herrn in den Blick nehmen, der durch ein ausgesprochen unpolitisches Handeln auffiel, obwohl er die Macht hatte, für Recht und (politische) Gerechtigkeit zu sorgen. Der grundlegen These, dass sozial-politisches Engagement Teil der Evangeliumsverkündigung sei (missional statt missionarisch), kann nicht gefolgt werden. Zwar ist es durchaus Teil christlicher Nächstenliebe, wobei diese in Demut, Bescheidenheit und ohne aktives Zur-Schau-Stellen erfolgen soll. Allerdings darf sie nicht die Botschaft der Rettung aus Gnade durch den Glauben an Jesus Christus als einzigem Heilsweg verdrängen oder von dieser Botschaft ablenken. Mehr denn je ist die Gemeinde Jesu aufgefordert, sich auf ihren eigentlichen Auftrag zu besinnen und Jesus allein als das Wort vom Kreuz (1Kor 1,18ff.) zu verkündigen.