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War Augustin der erste Calvinist? Wenn ein Lehrsystem auf Sand gebaut ist

Ken Wilson legt mit dem nun auf Deutsch erschienen Buch „War Augustin der erste Calvinist?“ eine allgemeinverständliche Kurzfassung seiner Dissertation vor, die bereits 2018 unter dem englischen Titel „Augustine’s Conversion“ als Fachpublikation erschien. Da die bewusste Vereinfachung jedoch dazu verführen könnte, auch die Aussagen des Autors vorschnell abzutun, rät der Autor dringend, bei einer intensiveren Auseinandersetzung mit den Inhalten oder für Rezensionen der Kurzfassung unbedingt die englische Dissertation hinzuzuziehen, was daher auch in dieser Rezension geschieht.

Um es gleich vorwegzunehmen: Es handelt sich bei der Untersuchung von Wilson um nichts weniger als eine bahnbrechende Studie. Sie beschäftigt sich mit dem calvinistische Lehrsystem, und zwar nach den im englischen Akronym „TULIP“ zusammengefassten fünf Aspekten der völligen Verdorbenheit, der bedingungslosen Erwählung, der begrenzten Sühne, der unwiderstehlichen Gnade und dem Ausharren der Heiligen. Der Autor zeigt, dass insbesondere die augustinisch-calvinistische Erwählungslehre (präziser formuliert: der göttlichen unilateralen Prädestination von Individuen zu ihrem ewigen Schicksal) so wesentlich von nichtbiblischen und philosophischen Vorannahmen geprägt ist, dass sie auf einem wackeligen Fundament steht. Diese geht im Wesentlichen nicht auf Calvin, sondern (wie Calvin selbst sagt) auf den Kirchenvater Augustinus zurück, und genau hier setzt die Untersuchung an. Sowohl die englische Dissertation als auch die deutsche Kurzfassung folgen demselben Aufbau:

Zu Beginn zeigt Wilson, dass die augustinisch-calvinistische Erwählungslehre keineswegs neu war, sondern schon in heidnisch-philosophischen Systemen wie dem Neoplatonismus oder Irrlehren wie dem Gnostizismus und dem Manichäismus fest verankert war. Von diesen Strömungen war Augustinus auch vor seiner Hinwendung zum christlichen Glauben geprägt.

Anschließend wertet Wilson als erster Forscher außerdem sämtliche anderen frühchristlichen Autoren in Bezug auf die Erwählung aus. Diese umfassende Untersuchung bringt Erstaunliches zu Tage: Kein einziger von ihnen vertrat vor Augustins die deterministische und einseitige göttliche Erwählung zum Heil.

Ken Wilson. War Augustin der erste Calvinist? Wenn ein Lehrsystem auf Sand gebaut ist. Düsseldorf: Christlicher Medienvertreib Hagedorn 2020. 156 S. Paperback 8,50 €. ISBN: 978-3-96190-062-6

Die weitere Untersuchung besticht dadurch, dass Wilson als erster Forscher auch sämtliche Schriften des Kirchenvaters Augustinus auswertet und dabei auch die chronologische Reihenfolge der Schriften beachtet. Während Augustinus nach Wilson in seiner längsten Lehr- und Wirkungszeit der allgemein vertretenen christlichen Lehre folgte, nach der Gottes souveränes Wirken und der freie Wille des Menschen verbunden wurden, wendete er sich im Jahr 412 n. Chr. davon ab und kehrte zu den heidnisch-philosophischen Wurzeln aus der Zeit vor seiner Wiedergeburt zurück, indem er nun die einseitig göttliche und unwiderstehliche Vorherbestimmung zum Heil vertrat. Diese Kehrtwende zur unilateralen Prädetermination bezeichnet der Autor ein wenig ironisch als „Bekehrung“ bzw. „Conversion“. Sie geschah nach Wilson nicht zufällig, sondern in einer Phase, in der Augustinus sich genötigt sah, die Praxis der Kindertaufe zu verteidigen. Augustinus ging davon aus, dass die Säuglingstaufe ausschlaggebend und allein entscheidend (!) für die Rettung war. Konfrontiert mit dem Einwand, wieso dann ohne Einfluss des Säuglings der eine Säugling getauft (und damit ewig gerettet) wurde, während ein kranker Säugling auf dem Weg zum Bischof starb und somit ohne die Taufe zwangsläufig ewig verdammt wurde, griff Augustinus zu einem argumentativen Kunstgriff: Er verteidigte die Kindertaufe damit, dass Gott alle Umstände auf dem Weg zum Taufbecken bis ins Kleinste vorherbestimmte und damit allein Gott vorherbestimmte, welcher Säugling getauft (und damit gerettet) wurde und welcher nicht. Damit vollzog Augustinus den entscheidenden Schritt, die ewige Rettung völlig vom Willen des Menschen unabhängig zu machen.

Mit dieser Kehrtwende in ein heidnisches Denken musste Augustinus nach Wilson in der Folge auch einige Bibelstellen anders auslegen, wie der Autor in einem weiteren Teil der Untersuchung zeigt. Besonders sticht hier eine von Augustinus revidierte, aber fehlerhafte Übersetzung von Röm 5,12 heraus, durch die er seine neue Denkweise biblisch zu begründen versuchte.

Zum Schluss fasst Wilson die Ergebnisse seiner Untersuchung noch einmal ausführlich zusammen. In zwei Anhängen werden außerdem die Schriften von Augustinus und seine Hinwendung zum augustinisch-calvinistischen Lehrsystem dargestellt. Die englische Dissertation enthält außerdem noch einen Anhang, in dem Wilson eine umfassende Auflistung früher christlicher Autoren vornimmt und aufzeigt, dass kein einziger von ihnen eine deterministische, einseitige Erwählung Gottes vertrat.

Die Untersuchung von Wilson ist fundiert, fachlich kompetent und logisch stringent argumentiert. Wie auch immer man die Details bewertet – in Zukunft wird sich jeder dieser Untersuchung stellen müssen, der sich mit der Plausibilität des augustinisch-calvinistischen Lehrsystems beschäftigt.

Ken Wilson. Augustine’s Conversion from Traditional Free Choice to “Non-free Free Will”. Tübingen: Mohr Siebeck 2018. 388 S. Paperback 94,00 €. ISBN: 978-3-16-155753-8

Leider wird der fachlich kompetente Eindruck der englischen Dissertation durch die deutsche Kurzfassung etwas getrübt. Die deutsche Übersetzung klingt an einigen Stellen holprig oder ist nicht an derzeitige wissenschaftliche Konventionen (denen Wilson im englischen Original folgt) angepasst.1 Es ist schade, dass der Verlag durch diese Ungenauigkeiten genau das schmälert, was Wilsons Untersuchung zu attestieren ist: Fachliche Kompetenz. Völlig unverständlich ist vor diesem Hintergrund die Entscheidung des Verlages, das deutsche Cover in Anlehnung an die Bildzeitung zu gestalten, durch die das fundierte Buch einen reißerischen, polemischen Eindruck bekommt (was ganz und gar nicht dem Inhalt entspricht) und auch optisch entwertet wird. Nichtsdestotrotz: Diese Mängel der deutschen Ausgabe sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier entgegen der äußeren Erscheinung eine höchst lesenswerte und wichtige Untersuchung vorliegt, die man nur empfehlen kann.


  1. So etwa, wenn der englische Name „Augustin“ einfach ins Deutsche übertragen wird, anstatt den geläufigen Namen „Augustinus“ zu verwenden. An anderen Stellen klingt der deutsche Text holprig – etwa dann, wenn von „Komplexitäten meiner Argumentation“ (16) (statt „meiner komplexen Argumentation“) oder vom „gelehrten Werk“ (16) (statt von „wissenschaftlichen Arbeiten“, wie es heißen müsste) die Rede ist. Zudem wurden sämtliche Zitate aus den Werken der frühen christlichen Autoren ebenfalls aus dem englischen übersetzt (und damit doppelt übersetzt), anstatt die gängigen deutschen Übersetzungen direkt aus dem Originalsprachen zu verwenden.