ThemenBiblische Probleme

Widersprüche beim Glaubensvater? Wann Abram geboren und wo er berufen wurde

Die Geburts- und Berufungsgeschichte Abrams, des nachmaligen Abrahams, gibt gläubigen Exegeten und aufmerksamen Bibellesern, die keine unauflösbaren Widersprüche in der Bibel anerkennen, manches Rätsel auf: Wie alt war sein Vater, als er geboren wurde? Wann wurde er erstmals berufen? Welches ist das Vaterland, aus dem er ausziehen musste? Über all das scheint die Bibel, wenn man die Auslegung von Stephanus in Apostelgeschichte 7 mitzählt, widersprüchliche Angaben zu machen. Die vermeintlichen Widersprüche lassen sich aber durchaus auflösen.

Frage: Wann wurde Abram geboren und wo wurde er berufen? Die biblischen Angaben erscheinen mir widersprüchlich.

Antwort:

Um mit Abrams Geburt zu beginnen: In Genesis 11,26 finden wir die Angabe: Terach war 70 Jahre alt und zeugte Abraham, Nahor und Haran. Daraus scheint klar hervorzugehen, dass Terach bei Abrahams Geburt 70 Jahre alt war. Wenn wir aber damit die biblischen Angaben über den Altersunterschied zwischen Terach und Abram bei Terachs Tod vergleichen, dann finden wir dort einen wesentlich größeren Zeitabstand. Laut Aposgtelgeschichte 7,4b verließ Abram Haran nach dem Tod seines Vaters und war damals nach Genesis 12,4 erst 75 Jahre alt, während sein Vater nach 11,32 bei seinem Tod bereits 205 Lebensjahre zählte. Daraus ergibt siech ein Altersunterschied von 130 Jahren. Karl Friedrich Keil, ein wissenschaftlicher Exeget, der sich sonst in seiner Arbeit streng bibelgläubig zeigt, bemerkt nun zwar dazu in seinem Genesiskommentar:

„Wenn daher Stephanus in Act. 7,4 den Wegzug Abrams von Haran ,meta to apothanein ton patera autu‘ (dh. nach dem Tod seines Vaters) ansetzt, so hat er dies nur daraus gefolgert, dass Abrahams Berufung c. 12 erst nach dem Tode Therahs erzählt ist, also die Folge der Erzählung ohne weiteres für die Folge der Begebenheiten angesehen, während der Tod Therahs dem Plane der Genesis gemäß schon hier berichtet ist, weil Abram nach seinem Auszug aus Haran nicht mehr mit seinem Vater zusammengekommen ist.“1

Abram muss nicht der älteste Sohn Terachs gewesen sein, aber er war der bedeutendste.

Ist es aber denkbar, dass der „Mann voll Gnade und Kraft“ (Apg 6,8), dessen Feinde „der Weisheit und dem Geist, aus welchem er redete“, nicht zu widerstehen vermochten, ist es denkbar, dass ein solcher Mann den Genesistext unrichtig ausgelegt und damit seinen Feinden eine erkennbare Blöße gezeigt hat? Man kann der Auslegung des Diakons durchaus Recht geben, ohne dabei einen Widerspruch in den Angaben der Genesis konzedieren zu müssen. Die Lösung besteht darin, dass Abram, Terach und Haran nicht alle im 30. Lebensjahr Terachs geboren wurden, sondern nur der Älteste von ihnen, und das muss nicht Abram gewesen sein, auch wenn er als erster erwähnt wird. Bei der Erwähnung der Zeugung von Noachs Söhnen Sem, Ham und Japhet in 5,32 wird ebenfalls nur ein Zeugungsjahr genannt, obwohl sie in verschiedenen Jahren geboren und folglich auch in verschiedenen Jahren gezeugt wurden. In 9,24 und 10,21 werden ausdrücklich Altersunterschiede der Söhne Noachs konstatiert, wobei Luther die letztgenannte Stelle m. E. noch richtig übersetzt hat mit „Japheths, des Älteren, Bruder“. Schon allein daraus ergibt sich aber, dass die Reihenfolge der Namen nicht nach dem Alter geordnet sein muss, dass vielmehr jeweils die wichtigsten Personen, nämlich die – durchaus nicht immer erstgeborenen – Ahnen des Gottesvolkes bzw. des Messias zuerst genannt werden, und das sind in diesem Fall Sem und Abram. Da Nahor Harans Tochter Milka heiratete, spricht alles dafür, dass der noch vor seinem Vater verstorbene Haran der Älteste gewesen ist. Dass Isaak eine Enkelin Nahors heiratete, hängt dagegen wohl weniger mit dem Alter Nahors als mit der späten Geburt Isaaks zusammen.

Wann und wo aber wurde Abrahahm nun erstmals berufen? Der Text scheint zunächst sagen zu wollen, dass er unmittelbar nach dem Tod seines Vaters in Haran berufen wurde. Dafür spricht die Reihenfolge des Textes, der den Berufungsbericht unmittelbar anschließt an den Bericht über den Tod Terachs. Gegen diese Auffassung spricht nun aber die klare Aussage von Stephanus Apg 7,2:

Der Gott unserer Väter erschien unserm Vater Abram, als er noch in Mesopotamien war, ehe er wohnte in Haran.

Fast wörtlich, nur mit einer kleinen Auslassung zitiert Stephanus anschließend den in Genesis 12,1 formulierten Auftrag an Abram zum Wegzug nach Kanaan. Er soll sein Land und seine Verwandtschaft verlassen.

Es gibt nun aber gleich zwei Möglichkeiten, diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen. Die erste Möglichkeit wäre die, dass man Genesis 12,1 plusquamperfektisch, also in der Vorvergangenheit übersetzt (der Herr hatte zu Abram gesprochen). Dass dies grammatisch möglich ist, zeigen u.a. die Beispiele aus Genesis 2,8-9, die davon berichten, wie Gott einen Garten pflanzte und daraus Gewächse hervorsprossen ließ. Diese Verse sind genau so konstruiert wie Genesis 12,1 und müssen selbstverständlich auch im Plusquamperfekt übersetzt werden, denn ehe Gott den Menschen in den Garten hineinsetzen konnte, musste er gepflanzt sein. Unter dieser Voraussetzung löst sich übrigens auch ein permanent behaupteter Widerspruch zwischen Genesis 1 und 2 auf.

Die zweite Möglichkeit wäre die, dass Gott den Befehl zuerst in Ur gegeben und ihn in Haran evtl. mit ergänzender Abwandlung wiederholt hat. Fest steht auf jeden Fall, dass Gott schon in Ur dem Abram erschienen ist, und ihn von dort nach Kanaan gerufen hat. Das geht nicht nur hervor aus Apg 7,2, sondern auch aus Genesis 15,7 wo Gott ausdrücklich sagt, dass er Abram aus Ur geführt hat und Haran als Zwischenstation überhaupt nicht erwähnt, ferner aus Josua 24,2-3, wo Josua zu den Israeliten sagt:

Eure Väter wohnten vor Zeiten jenseits des Euphratstromes, Terach, Abrahams und Nahors Vater, und dienten anderen Göttern. Da nahm ich euren Vater Abraham von jenseits des Stroms und ließ ihn umherziehen im ganzen Land Kanaan.

Diese beiden Verse sind in mehrfacher Hinsicht sehr aufschlussreich. Nicht nur dass auch in ihnen Haran gänzlich unerwähnt bleibt, sie sagen auch, dass der Ort der Berufung, nämlich Ur, jenseits des Euphratstromes lag, während er in unseren Bibelkarten und -atlanten westlich vom Euphrat, also von Israel aus gesehen diesseits des Stromes, verzeichnet wird. Dort hat Gott offensichtlich schon die Worte Genesis 12,1 bzw. Apg 7,3 zu Abraham gesagt. Denn sein Vaterland ist nun einmal Chaldäa, das viel weiter südlich lag als die Umgebung von Haran. Dort in Chaldäa bzw. in Ur stand auch sein Vaterhaus und dort lebte, als er fortzog, auch noch seine Verwandtschaft. Das entsprechende hebräische Wort molädät ist übrigens eine Substantivierung von jalad, was zu deutsch gebären heißt. Wenn man es schon nicht mit Geburt übersetzt, was m. E. in vielen Fällen passen würde, dann sind zumindest die am Geburtsort lebenden Verwandten gemeint.

Hat sich Terach womöglich geweigert, Abram nach Kanaan ziehen zu lassen?

Es muss übrigens auffallen, dass der Vater laut Genesis 12,31 sofort das Land Kanaan als Ziel seiner Auswanderung wählt. Dies lässt darauf schließen, dass Gott dem Abraham schon offenbart hatte, dass er ihn dort haben will. Der Aufbruch erfolgt aber bemerkenswerter Weise erst nach dem Tod des ältesten Sohnes (11,28), und der Tod hat Terach offenbar nicht nur den ersten Sohn sondern auch die erste Frau genommen; denn Sarah hatte eine andere Mutter als ihr Bruder Abram (20,12). Harans Frau muss ebenfalls vorher gestorben sein, denn seine Kinder werden auf die Familie verteilt (11,31). Hinzukommt, dass der Auszug berichtet wird im Zusammenhang mit der Kinderlosigkeit Abrahams (Vers 30). Terachs Haus wurde also von schweren Gerichten heimgesucht. Liegt hier vielleicht eine Parallele zu Gottes Handeln am Pharao von Ägypten vor? Hat sich Haran womöglich geweigert, Abram nach Kanaan ziehen zu lassen? Warum ist er denn in Haran geblieben, wenn er doch mit Abram nach Kanaan ziehen wollte bzw. sollte? Da er in Haran viel Gewinn machte (12,5), sieht es fast so aus, als hätte ihn die gute Weide dort genau so gefesselt wie vordem in Ur und als hätte er seinen Sohn hier genauso festgehalten wie dort. Dass Abram dem Vater scheinbar mehr gehorchte als Gott, ließe sich insofern entschuldigen, als er den schon gealterten Vater nicht allein lassen und die Einwanderung in Kanaan nicht unterlassen, sondern nur aufschieben wollte. Denn nach dessen Tod ist Abram sofort nach Kanaan aufgebrochen, sei es nun dass er die in Ur an ihn ergangene Aufforderung nun erst in die Tat ungesetzt hat und sie eben darum erst in diesem Zusammenhang berichtet wird, oder dass ihn Gott noch einmal zum Aufbruch ermuntert hat. Welche dieser Alternativen die richtige ist, kann dahingestellt bleiben.

Aber näher liegt es wohl, dass Gott die frühere Aufforderung noch einmal wiederholt und ihn dabei zum Gehorsam ermuntert hat mit der herrlichen Verheißung, dass er ein gesegneter Segen werden soll für alle, die ihn segnen und dass durch ihn, d.h. durch den von ihm kommenden Erlöser alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden sollen. Diese herrliche Verheißung hat Gott auch später mit etwas veränderten Worten oft (15,6; 17,2; 22,16-18) wiederholt, auch bei Isaak (26,3-4.22) und Jakob (28,14), und sie hat sich wunderbar erfüllt durch das Kommen Christus und unsere Aufnahme in sein weltweites neutestamentliches Gottesvolk, das sich aus allen Geschlechtern auf Erden zusammensetzt.


  1. Carl Friedrich Keil, Genesis und Exodus, 4. Aufl., Gießen, Basel 1983 (Nachdruck von 1878), S. 154 f